Frankreich will Gefährder abschieben – aber scheitert am EU-Recht
Matthias Nikolaidis
Durch den Hamas-Terror stehen „innere Gefährder“ auf der Agenda Frankreichs. Innenminister Darmanin will 4000 Gefährder abschieben, was schwer genug ist. Allein 1000 davon sind zudem noch keine 18 Jahre alt und genießen Familienschutz. Zukünftig Freizügigkeit im Schengen-Raum nur noch für EU-Bürger?
Seit dem Attentat von Arras wird auch in Frankreich – und im Grunde um einiges schärfer als in Deutschland – eine angeregte Diskussion über den radikalen Islam geführt. Als erste hat tatsächlich Premierministerin Élisabeth Borne die Abschiebung aller Gefährder angekündigt, die in der offiziellen Gefährderliste (FSPRT) stehen. Es handelt sich um ein Verzeichnis jener radikalen „Islamisten“, die sich auf dem französischen Staatsgebiet befinden und als „anfällig“ für das Begehen von terroristischen Akten gelten. Gefordert hatte das Mittel Innenminister Gérald Darmanin, der mehr als Bornes Posten nach dem von Emmanuel Macron greifen will, der nicht noch einmal wiedergewählt werden kann.
Doch Marine Le Pen war umgehend bemüht, die Ankündigung der Premierministerin zu übertreffen, indem sie die Ausweisung aller „Islamisten“ ohne französischen Pass forderte. In ihrer Frage in der Nationalversammlung fragte sie: „Ob Islamisten, Kriminelle oder Straftäter, was haben wir für ein Interesse, sie auf unserem Territorium zu belassen?“ Es ist wohl davon auszugehen, dass das Rassemblement national (RN) und Marine Le Pen, wenn sie an der Macht wären, entschiedener vorgingen, als es diese Regierung kann. Borne rümpfte denn auch kurz die Nase, als Le Pen ausführte, dass „alle islamistischen Ausländer“ aus Frankreich auszuweisen seien, egal ob sie sich legal oder illegal im Land aufhalten. Es seien ja immerhin die „Feinde Frankreichs“.
Islamistes, criminels et délinquants, quel est l’intérêt pour nous de les garder sur notre sol ? pic.twitter.com/ExkPJfQ3Cx
Zwei Drittel der 4.263 Gefährder besitzen angeblich einen regulären Status in Frankreich. Immerhin 1.411 der Gefährder sind illegal im Land und wären damit abschiebbar. Aber nur 922 wurden in den letzten Jahren ausgewiesen. 489 davon sind noch immer im Land, 214 in provisorischem Gewahrsam, 82 im Hausarrest. 193 sind ohne legalen Status im Land, wurden aber auch noch nicht von einer staatlichen Maßnahme belästigt – obwohl sie zudem als radikalisiert gelten. Im Innenministerium schätzt man allerdings ein, dass 85 von dieser letzten Gruppe sich „ohne Zweifel“ nicht mehr im Land befinden.
Ehrenstaatsrat Schoettl: Ausweisungen reichen angesichts der Gefahren nicht aus
Nun kommt aber das eigentlich Erstaunliche an der französischen Diskussion. Denn dieser Analyse scheint auch Jean-Éric Schoettl zuzustimmen, und das ist nicht irgendjemand. Der hochrangige staatliche Funktionär und Berater war von 1997 bis 2007 der Generalsekretär des Verfassungsrates, ist seitdem stellvertretender Präsident des Staatsrats, seit 2018 auch Vizepräsident der Geheimnis- und Deklassifizierungskommission (Commission du secret) des Verteidigungsministeriums. Er sollte also einigen Einblick in die Staatsgeschäfte und die Probleme, denen sich auch die Sicherheitskräfte derzeit gegenübersehen, haben. Schoettl bestätigte der Nachrichtenwebsite Front populaire nun, dass „die Zahl der durchgeführten Ausweisungen in keinem Verhältnis zu den Gefahren“ steht, und zwar gleich „ob es um die Bekämpfung der Kriminalität oder des Islamismus geht“.
Innenminister Gérald Darmanin hatte kundgetan, dass er gerne 4.000 ausländische Straftäter abschieben würde, woran ihn aber die geltenden Gesetze hinderten. Das reformierte Immigrationsgesetz soll hier Abhilfe schaffen. Schoettl bestätigt, dass die Gesetze in den letzten 40 Jahren in vielem den Nicht-Franzosen entgegengekommen seien, um deren Grundrechte zu schützen. Dem Innenministerium sei so wertvoller Manövrierraum genommen worden. Schoettl diagnostiziert eine geringere „Wirksamkeit staatlichen Handelns“ und ein „Ungleichgewicht bei der Abwägung zwischen den individuellen Rechten von Ausländern und den übergeordneten Interessen der Nation“. Die Abschiebungen seien hier ein gutes Beispiel, da heute jeder fünfte Gefängnisinsasse in Frankreich ausländischer Nationalität sei.
Schoettl weist aber auch darauf hin, dass die Ausweisung nicht einer Verpflichtung zur Ausreise oder einer Abschiebung gleichkomme. Außerdem komme eine Ausweisung nur dann in Frage, wenn die Anwesenheit einer Person auf französischem Boden als „schwere Bedrohung“ der öffentlichen Ordnung angesehen werden muss. Eine einzelne Straftat oder auch eine Folge leichterer Taten rechtfertigt noch keine Ausweisung. Manche wenden sich nun gelangweilt ab, weil Schoettl all das ja nur kurz vor seiner definitiven Verrentung sage, nachdem er der Republik ein Leben lang mehr oder minder stumm gedient habe. Doch dass Schoettl es jetzt sagt, und nicht nur einmal, hat dann doch Gewicht.
Nationales Recht muss wieder über EU-Recht stehen
Im Journal du Dimanche legte Schoettl wenige Tage später nach und sagte: „Unsere rechtlichen Waffen reichen nicht aus, um uns vor dem Islamismus zu schützen.“ Nur wenn Frankreich den Vorrang des nationalen Rechts vor dem EU-Recht bekräftige, könne es die Kontrolle über seine Grenzen zurückgewinnen. Allerdings warnt auch Schoettl, dass „eine Verschärfung der Abschiebungsgesetze mit der Rechtsprechung unserer obersten Gerichte in Konflikt geraten“ werde.
Ein einfacher Weg wäre das also nicht, wie auch das britische Muster zeigt. Das erste Grundrecht, das Schoettl an dieser Stelle auf- und angreift, ist das Recht auf ein „normales Familienleben“, das am Ursprung der Familienzusammenführung steht. Die Geltung solcher Vorschriften muss ihm zufolge offenbar eingeschränkt werden, um die Sicherheit Frankreichs und der Franzosen besser zu gewährleisten.
Auch in Frankreich gerät man in der aktuellen Migrationskrise 2.0 an die Grenzen des Möglichen, wie wiederum Schoettl und die Ex-Europaministerin (derzeit Mitglied des Verfassungsrats) Noëlle Lenoir im Gespräch mit Le Point sehr deutlich machen: „Wir kommen an den Punkt, an dem die Möglichkeiten erschöpft sind, den demographischen Überschuss aus Übersee, der aus unterqualifizierten und kulturell weit von uns entfernten Menschen besteht, unterzubringen, zu beschulen, sozial und medizinisch zu versorgen, auszubilden, zu beschäftigen und an unsere Sitten anzupassen.“
Darmanin: Mehr als 1000 radikalisierte Minderjährige in Frankreich
Man könnte den Eindruck einer von Schoettl veranstalteten Kampagne gegen die Migrationspolitik der Regierung Borne–Macron bekommen, und eine gewisse Parallele zu den Einwänden der konservativen Républicains (LR) gegen das Gesetz besteht natürlich. Der vorliegende Gesetzentwurf zu einem Einwanderungsgesetz (Loi immigration) sei „weit davon entfernt, dem Erfordernis der Kontrolle der Migrationsströme gerecht zu werden“. Besonders wenden sich Schoettl und Lenoir gegen die Legalisierung von Sans-Papiers (illegal Eingereisten ohne gültige Papiere), soweit diese in besonders „angespannten“ Mangelberufen arbeiten. Das aber „würde die Arbeit der Behörden sogar erschweren“. Die Möglichkeit zur Legalisierung bestehe schon jetzt und werde von den Präfekten nach bestem Wissen angewandt. Die Neuregelung würde daraus „ein automatisches Recht“ machen, so Schoettl und Lenoir im Interview.
Darmanin hat nach dem Attentat von Arras gesagt, sein Gesetz sei dazu geeignet, all jene auszuweisen, die vielleicht sogar im Alter von zwei oder drei Jahren in Frankreich angekommen seien, es aber heute verdienen, in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt zu werden. Im Fernsehsender BFM TV hat Darmanin eingestanden, dass es derzeit mehr als 1000 Minderjährige gibt, die als radikalisiert gelten, die etwa Bilder von Enthauptungen untereinander austauschen oder IS-Propaganda konsumieren und deshalb bereits in der Islamisten-Datei stehen.
In Darmanins Gesetzentwurf sind daneben Neuregelungen zur Behandlung unbegleiteter Minderjähriger, zum Erwerb und zur Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft, zur Kontrolle und Bestrafung des illegalen Aufenthalts, schließlich zur effektiven Durchsetzung von Abschiebungsmaßnahmen enthalten. In der Kritik stand der strikte Gewahrsam für illegal eingereiste Jugendliche, den Darmanin abmildern will.
LR-Anführer: Schlupflöcher töten Franzosen
Aber sogar das Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen hat seine Zustimmung zu dem „kleinen Gesetz“ mit seinen „kleinen Maßnahmen“ in Aussicht gestellt, wenn nur jene Klausel wegfiele, nach der illegale Migranten in Mangelberufen auch ohne Sonderverfahren legalisiert werden können. Das könnte man für erstaunlich halten, denn alles in dem Gesetz kann wohl kaum nach dem Gusto Marine Le Pens sein. Vielleicht heißt es aber auch nur, dass Le Pen eine Einigung in dieser Frage für unwahrscheinlich hält. Die Frage der Legalisierungen ist zugleich zum Hauptstreitpunkt zwischen Macronie und Républicains (LR) geworden.
Der LR-Anführer im Senat, Bruno Retailleau, hat eine Zustimmung zu diesem Artikel 3 des geplanten Gesetzes brüsk abgelehnt. Retailleau fordert im Gegenteil, mehr Illegale auszuweisen und weniger von ihnen zu legalisieren. Er kritisiert die Schaffung neuer „Schlupflöcher“ und verweist mit dramatischen Worten darauf, dass dieselben „die Regel töten und auch Franzosen töten“. Dagegen schreiben einige aus Macrons Renaissance-Fraktion, etwa ein Restaurantbesitzer aus New York, ungerührt: „Ohne Immigration keine Kalbsfrikassee im Restaurant.“ Nicht zuletzt die Abgeordneten der Républicains würden immer wieder Eingaben für solche Legalisierungen von Sans-Papiers machen.
Doch die Verstetigung dieser Legalisierung wollen nun weder der RN noch die konservativen Républicains mitmachen. Beide fordern die Abänderung jenes Gesetzesartikels, den Abgeordnete der linken NUPES feiern. LR-Vorsitzender Éric Ciotti will es auf eine „Kraftprobe“ mit der Regierung ankommen lassen.
Und noch eine Forderung: Freizügigkeit nur noch für europäische Bürger
In einer vierten Publikation stellt Staatsrat Schoettl – zusammen mit Lenoir und dem ehemaligen Botschafter in Algerien, Xavier Driencourt – noch eine Forderung auf. Im Figaro verlangen die drei Repräsentanten der französischen Staatselite, die Freizügigkeit im Schengenraum dürfe nur noch für Europäer gelten. Das Problem, das damit gelöst wird, ist einigermaßen klar: Letztes Jahr griff ein Syrer aus Schweden Kinder auf einem Spielplatz in Annecy an. In diesem Oktober tötete ein Tunesier, der über Lampedusa nach Schweden und Norwegen gelangt war, in Brüssel zwei Schweden. Entzöge man diesen sogenannten „Flüchtlingen“ das Recht auf Reisefreiheit in der EU, wäre vielleicht schon etwas für die Sicherheit der Bürger gewonnen.
Auch in Frankreich gibt es – neben der Gefährdung der gesamten Bevölkerung – eine besonders unsichere Lage für Juden. Davidsterne an Privathäusern jüdischer Familien sind aufgetaucht. Und auch hier werden – wie in Großbritannien und Deutschland – die Plakate mit den Bildern der israelischen Geiseln mit fadenscheinigen Gründen von Polizisten abgerissen. Es dürfte in allen drei Ländern und Hauptstädten um das Gleiche gehen: die Wahrung des öffentlichen Friedens auf Kosten einer klein bleibenden Minderheit, aber zugunsten einer anderen wachsenden.
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