Vielfältig sind die Koalitionsüberlegungen in Frankreich, und nun können alle Franzosen zu Strippenziehern werden, zumindest virtuell. Die großen Zeitungen rufen ihre Leser auf, sich selbst eine Mehrheit zu bilden.
Und es beginnt sich eine dritte Lösung herauszuschälen, da man die entstehende Mehrheit der Nationalen verhindert hat und die einfache Mehrheit der grünlinken „Neuen Volksfront“ nicht schätzt. Noch stehen die Linken nämlich zusammen und fordern unisono die Beteiligung des Blocks insgesamt. Das nutzen nun die Konservativen im Präsidentenlager wie etwa Édouard Philippe, Ex-Premier und Vorsitzender der Partei Horizons (Horizonte), der eben im Mitte-rechts-Teil der Macronie zu verorten ist. Philippe erklärt, dass das Präsidentenlager (Renaissance, MoDem, Horizons) auch eine einfache Mehrheit der Sitze erlangen könne – wenn auch nur zusammen mit den Republikanern. Gemeinsam wäre man dann die stärkste (wenn auch ungeeinte) Gruppe im Parlament, was tatsächlich von geringer Bedeutung ist.
Man könnte über diese Mehrheitsverhältnisse auch insgesamt sagen: Knapp dabei ist auch daneben. Das gilt für alle Lager (links, Macron, national), selbst wenn man die Republikaner hinzunimmt, die theoretisch mit Macronie und RN koalieren könnten, gibt es keine absolute Mehrheit der Sitze. Das eröffnet alle Möglichkeiten, und Macron hat den konservativen Senatsführer Gérard Larcher (LR) zum Gespräch gebeten. Sogar den Premierminister einer Regierung „der nationalen Einheit“ würden die Republikaner stellen. Für die immerhin kleinste Einzelfraktion, die durch die Abspaltung Éric Ciottis weiter geschrumpft ist, wäre das eine Leistung.
Ermittlungen wegen Aufklebern für Wahlkampfbusse
Vor diesen neuen politischen Lösungs- oder Auflösungsfortschritten geht aber die Jagd auf das Rassemblement national (RN) in die nächste Runde. Schon am 2. Juli – also zwischen den beiden Wahlgängen – waren Vorermittlungen gegen die Präsidentschaftskampagne von Marine Le Pen eingeleitet worden. Es geht also um Vorgänge von 2022. Die Vorwürfe lauten: „wegen Darlehens einer juristischen Person an einen Kandidaten im Wahlkampf, Annahme eines Darlehens einer juristischen Person durch einen Kandidaten im Wahlkampf, Veruntreuung von Vermögenswerten durch Personen, die ein öffentliches Amt ausüben, Betrugs zum Nachteil einer öffentlichen Person, Fälschung und Benutzung einer Fälschung“, wie die Staatsanwaltschaft im Einzelnen bekanntgab.
Die Anregung zu dem Verfahren war von der Nationalen Kommission für Wahlkampfabrechnung und politische Finanzierung (Commission nationale des comptes de campagne et des financements politiques, CNCCFP), die für die Überprüfung der Ausgaben politischer Kandidaten zuständig ist. Es geht um durch den RN gemietete Busse, die mit politischen Botschaften der Partei beklebt wurden. Später mussten die Aufkleber wieder abgezogen werden, bei Kosen von insgesamt 316.182 Euro. Laut Abrechnungskommission erscheint die Ausgabe – wohl wegen ihrer Höhe – als „irregulär“, also unregelmäßig. Insgesamt hat Marine Le Pen fast 11,5 Millionen Euro für ihre Kampagne von 2022 ausgegeben oder „investiert“, wie es in der Presse heißt. Eventuell waren das erstattungsfähige Kosten.
Immer wieder tauchen solche (mehr oder minder) Korinthen im französischen Nachwahlkampf auf. 2017 hatte die Prüfkommission 873.576 Euro der Ausgaben der damaligen Präsidentschaftskandidatin zurückgewiesen, die zumeist aus Krediten bestanden, welche Le Pen beim damaligen Front National (FN) und der Partei ihres Vaters Jean-Marie Le Pen aufgenommen hatte. Marine Le Pen hatte damals keinen Einspruch eingelegt.
Seltsam nur, dass andere Parteien nicht in gleicher Weise auffallen. Oder sind sie ganz fleckenlos? In diesem Juni bestätigte das Berufungsgericht endgültig die Verurteilung des RN wegen angeblich überhöhter Wahlkampf-Rechnungen, die von den Kandidaten des FN bei den Parlamentswahlen 2012 eingereicht und vom Staat erstattet wurden. Le Pen persönlich muss sich zudem ab dem 30. September mit 24 weiteren Personen und ihrer Partei wegen der Veruntreuung von EU-Geldern im Zusammenhang mit der Bezahlung von Assistenten von Europaabgeordneten zwischen 2004 und 2016 vor Gericht verantworten. Die Assistenten sollen laut den Vorwürfen nicht für die Fraktion, sondern tatsächlich für die Partei gearbeitet haben.
Die Nationalen gewannen auch in der zweiten Runde die meisten Stimmen
Politische Kommentatoren ahnen nun weitergehende Absichten hinter den Ermittlungen und Prozessen. Sollte Marine Le Pen verurteilt werden, drohten ihr im konkreten Fall „zehn Jahre Gefängnis“ und der Ausschluss von einer weiteren Kandidatur für das Präsidentenamt, schreibt der Nachrichtenaggregator Visegrád 24.
In der Nationalversammlung wurde Le Pen derweil erneut zur Fraktionschefin des RN gewählt. Der junge Parteichef Jordan Bardella rief die Abgeordneten dazu auf, „vollkommen tadellos“ zu sein, vor allem auch im Umgang mit den Medien. Die Parlamentarier müssten „die Glaubwürdigkeit unseres Projekts“ hervortreten lassen. Der „wahre Wahlkampf“ beginne jetzt, das Ergebnis vom Sonntag sei keineswegs eine Niederlage. Tatsächlich meldete auch der Figaro, dass das Rassemblement und Verbündete auch im zweiten Wahlgang insgesamt mehr Stimmen als die linksgrüne „Neue Volksfront“ oder die Macronie allein erhielten. Es waren 36 Prozent für die Nationalen (RN + Ciottisten), oder zehn Millionen Wähler. Die Union der Linken erhielt dagegen nur 7,5 Millionen Stimmen oder 25 Prozent vom Gesamtkuchen, das Präsidentenlager sieben Millionen Stimmen oder 23 Prozent.
In der Tat beginnt nun auch der Kampf im Parlament. Denn anscheinend tut sich die Macronie gerade mit der Linken zusammen, um dem RN „Schlüsselpositionen“ zu verbauen. Im September hatte die Premierministerin Borne noch gesagt: „Wir können die Extreme nicht aus unseren Institutionen ausschließen.“ Wenige Monate später zeigt sich, dass man es aber dennoch gerne täte. Marine Le Pen sagte am Mittwoch unter anderem, man könne „die nationale Repräsentation nicht unbegrenzt verbiegen“. Grüne und Mélenchonisten agierten letztlich antidemokratisch: „Sie können nicht zehn Millionen Wähler an die Seite drängen.“
Wenn morgen Präsidentschaftswahlen wären
Die Nachricht von den Ermittlungen folgt einer anderen auf dem Fuße: Gerade zeigt nämlich eine aktuelle Umfrage zu den noch in einiger Ferne liegenden Präsidentschaftswahlen, dass Marine Le Pen erneut gute Siegeschancen hätte, vor allem wenn ein Édouard Philippe oder Gabriel Attal gegen sie anträte. In der ersten Runde könnte Le Pen 31 Prozent der Stimmen gewinnen, Philippe etwa 23, Attal zwischen 20 und 23 Prozent. Linke Kandidaten lägen jeweils auf dem dritten Platz: so der radikale Jean-Luc Mélenchon bei rund 16 Prozent, der EU-Kandidat Raphaël Glucksmann (Place publique) bei 14 Prozent, der Sozialist Olivier Faure bei fünf und die Grüne Marine Tondelier (mit Herz für Antifa-Gefährder im Parlament) bei vier Prozent. Der Republikaner Laurent Wauquiez würde bei fünf Prozent „vegetieren“, so die mitleidige Regionalzeitung Sud Ouest aus dem Herzen Aquitaniens.
Ein Leser kommentiert die Meldung so: „Wenn wir nicht aufpassen, wird sie in einem Jahr im ersten Wahlgang über 50 % erreichen! Und es ist nicht sicher, ob ein Prozess über die Wahlkampfkits des RN ausreicht, um sie aufzuhalten, oder auch Rochaden von Millionen Wählerstimmen … Wann werden unsere Medien begreifen, dass es viel sinnvoller ist, die Menschen aufzufordern, FÜR die Kandidaten zu stimmen, die wir wählen wollen, anstatt GEGEN die Kandidaten, die wir schlagen sollen?“
Medien zu Immigration und Klimawandel gleichgeschaltet
Derweil wurde der regierungskritische Fernsehsender CNews mit zwei Geldstrafen in Höhe von 20.000 und 60.000 Euro belegt. Eine davon betraf die Aussage zweier Studiogäste, die Macrons Immigrationsgesetz mit den Worten „Einwanderung tötet“ kommentiert hatten. Kritisiert wird, dass weder der Moderator noch irgendjemand sonst darauf reagiert hätten. Man dürfe nicht Einwanderer in ihrer Gesamtheit als gefährlich darstellen.
Die andere bemängelte Stelle im Senderprogramm war der Moment, als ein Studiogast den Einfluss des Menschen auf den Klimawandel bestritten hatte: „Die menschengemachte globale Erwärmung ist eine Lüge, ein Schwindel, irgendwann muss man die Dinge wissenschaftlich auf den Punkt bringen.“ Die Co-Präsidentin der Medienaufsichtsbehörde Arcom, Eva Morel, glaubt laut der Tageszeitung Le Monde, dass diese Sanktionen Ausdruck des Unterschieds „zwischen Desinformation und Meinungsfreiheit“ markieren. Dem Sender könnte im schlimmsten Fall auch die Lizenz für das nächste Jahr entzogen werden.
Im Mai und Juni war CNews der beliebteste Nachrichtensender vor dem Konkurrenten BFM TV. Auch das Vollprogramm C8 steht unter Beobachtung. Wegen Aussagen seines Starmoderators Cyril Hanouna musste der Sender schon 7,5 Millionen Euro Strafe an die Arcom zahlen. Es ist eine seltsame Republik, die die „die freie Mitteilung von Gedanken und die Freiheit, seine Meinung zu drucken“, einst als Menschen- und Bürgerrecht festschrieb und sie, sobald sie ausgeschöpft wird, durch staatlich festgelegte Meinungskorridore unterbinden will.