Ein Foto ging in den letzten Tagen durch die Presse: Éric Zemmour, zu diesem Zeitpunkt noch einfacher Journalist und, wie es stets heißt, Polemiker der extremen Rechten, streckt einer Frau mittleren Alters aus dem Fond eines Wagens den aufrechten Mittelfinger entgegen. Was das Bild nicht zeigt: Die Frau hatte zuerst die obszöne Geste gezeigt, und das obwohl Zemmour ihr Anliegen anhören wollte und dazu das Autofenster heruntergelassen hatte. Doch das war alles vor seiner Kandidatenwerdung am Dienstag. Am Abend des Tages erklärte Zemmour: „Ich bin nicht mehr Journalist und Autor. Ich bin Kandidat für die Präsidentschaftswahlen.“
Einen Tag später ist die Präsidentschaftskandidatur Zemmours einen großen Schritt näher gerückt. In einem zehnminütigen, im Internet veröffentlichten Video rief Zemmour seine Anhänger auf, ihn zum Präsidenten zu wählen. Damit seine Kandidatur ganz real wird, muss der Ex-Journalist nun noch 500 Patenschaften gewählter Volksvertreter vorweisen. Im Fernsehsender TF1 gab er sich optimistisch, dass das gelingen werde. Er habe schon zwischen 250 und 300 Zusagen von Bürgermeistern und anderen Mandatsträgern erhalten.
Der Kandidat sitzt in einer Bibliothek vor einem Radio-Mikrofon, ähnlich wie einst der General de Gaulle, als der sich aus dem Exil an die Franzosen wandte. Das ist natürlich eine bewusste Inszenierung, wie Zemmour bei TF1 gerne zugibt. Natürlich gebe es in der Kunstform Wahlkampfvideo ein gewisses Maß an Inszenierung. Doch noch wichtiger ist: Zemmour spricht klar und meidet die Leerformeln des Politikersprechs.
Nostalgie nach einem unvergessenen Land
Sein Vortrag beginnt mit einem Hornsignal und exponiert in seinem ersten Teil die Idee der „dépossession“ – des Gefühls der Enteignung, das viele Franzosen heute haben. Diese Bürger, so Zemmour, gehen durch die Straßen ihrer Städte und erkennen sie nicht wieder. Das Anschauen eines Werbespots, eines Fußballspiels oder eines Films, einer Theateraufführung oder eines Schulbuchs führe stets zum gleichen Ergebnis. Die Zustände und Gewalttaten in U-Bahnhöfen, Flughäfen und Schulen – die im Video teils bildlich vorgeführt werden – nähren denselben Eindruck.
Niemand habe sein Land verlassen, doch das Land habe ihn verlassen. Franzosen, die wie er denken, seien zu inneren Exilanten geworden. An dieser Stelle lässt sich leider hinzufügen, dass im heutigen Frankreich – aber auch in Deutschland und anderen westlichen Staaten – schon eine Minderheit lebt, die wirklich und wahrhaftig zu Exilanten im eigenen Land geworden sind. Es sind die Kritiker des Islam wie die junge Französin Mila oder der deutsch-ägyptische Politikwissenschafter Hamed Abdel-Samad, die – nur einige unter mehreren – unter ständigem Polizeischutz leben müssen, wie auch der jüngst verstorbene dänische Zeichner Kurt Westergaard.
Im Folgenden zeichnet er quasi die Entstehung der Bewegung nach, die sich heute hinter ihm vereint. Lange seien nämlich diese „inneren Exilanten“ sich ihrer Gedanken und Empfindungen unsicher gewesen, hätten sich nur langsam und allmählich ihren Ehepartnern, Kindern, Eltern, Freunden, Arbeitskollegen und schließlich gänzlich Fremden anvertraut. „Und Sie haben verstanden, dass Ihr Gefühl der Enteignung von allen geteilt wurden. Frankreich war nicht mehr Frankreich, und alle hatten das erkannt“, lauten die Schlussworte dieses ersten Teils.
Die versagenden Eliten und die Folgen der Immigration
Der zweite Teil des Videos könnte den Titel „Die Verachtung“ tragen. Er handelt von der Geringschätzung der Mächtigen und Regierenden für die Gefühle und Gedanken der normalen Franzosen. Eingeblendet werden bewegte Bilder von Ursula von der Leyen, von verschiedenen französischen Journalisten, Akademikern und Gewerkschaftern. Sogar religiöse Würdenträger hätten die Gedanken der normalen Franzosen für falsch erklärt. Doch genau damit hätten alle diese Autoritäten falsch gelegen, verkündet Zemmour zu den Bildern von öffentlichen Unruhen und der Demolierung kultureller Monumente. Er stellt klar, dass die Immigration nicht die Ursache aller Probleme sei, dass sie aber alle Probleme verschlimmere.
Die Linke wie die Rechte habe das Volk seit Jahrzehnten getäuscht und es in Niedergang und Dekadenz geführt. Der Ernst der eigenen (vor allem wirtschaftlichen) Deklassierung sei vor den Franzosen versteckt worden, ebenso die „Realität unserer Ersetzung“. Das französische Wort dafür, remplacement, ist inzwischen auch im Deutschen bekannt. Stattdessen sei das französische Volk eingeschüchtert, gelähmt, indoktriniert, kulpabilisiert worden, heißt es später. Doch es erhebe nun den Kopf und lasse die Masken fallen.
Zuerst musste Zemmour eine eigene Illusion begraben
Zwischendurch sagt Zemmour die wohl persönlichsten Worte seines Videos. Einst habe er, Zemmour, gedacht, als Journalist auf diesem Feld wirken und – vielleicht – einen Politiker mit seinen Ideen begeistern zu können. Er hatte sich gesagt: Schuster, bleib bei deinen Leisten – jedem seine Rolle, jedem sein Kampf.
Und damit beginnt der dritte Teil, in dem es um das konkrete Programm Zemmours und dessen Umsetzung geht. Und auch hier fällt ein Reizwort: Die Unterwerfung (soumission) unter eine unfranzösische Kultur soll beendet oder verhindert werden. Vielmehr müssten sich die neu Ankommenden an die französische Kultur assimilieren und sich dieselbe ganz zu eigen machen. Es sollen wieder Franzosen in Frankreich heranwachsen, keine Fremdkörper auf einer Terra incognita, das fordert der unverstellte Nationalist Zemmour. Und natürlich seien die Franzosen ein großes Volk, das sich nicht beherrschen, erobern oder kolonisieren und natürlich auch nicht verdrängen, nicht ersetzen lasse. Diese Botschaft erhielten und erhalten die Franzosen von dem Sohn nordafrikanischer Juden, die einst aus Algerien nach Frankreich kamen.
Das erste offizielle Wahlkampfvideo Éric Zemmours ist ein interessantes und höchst anregendes Dokument vor allem durch die absolute Schonungslosigkeit der Analyse. Dagegen sind die Lösungsvorschläge schon beinahe versöhnlich. Und das ist vielleicht die merkwürdigste Pointe dieses Zeitdokuments. Was Zemmour von seinen alten und neuen Landsleuten fordert, ist vorerst nur ein Bekenntnis zu Frankreich, seiner einzigartigen Kultur und Geschichte, woraus sich für Zemmour auch der Wunsch ergibt, das Land heute (und morgen) wiederaufzubauen, es zu neuer Größe zu führen.
Der Präsident aller Franzosen, nicht der aller Glaubensgruppen
Am Dienstagabend erklärte Zemmour in der Fernsehsendung „Le 20 heures“ auf TF1 (ab Minute 15:00), dass er der Präsident aller Franzosen, also auch jener muslimischen Glaubens sein wolle: „Im Unterschied zu vielen anderen unterscheide ich nicht zwischen dem Islam und dem Islamismus, denn das ist beides dieselbe Sache. Das ist eine falsche Unterscheidung. Dafür unterscheide ich aber zwischen dem Islam und den Muslimen, und ich rufe alle Muslime dazu auf, sich zu assimilieren und die Praxis des Islam abzulegen, die darin besteht, anderen einen juridischen und politischen Kodex aufzuerlegen.“
Er vergleicht das sodann mit dem leitenden Gedanken bei der Assimilation der Juden im Frankreich der letzten beiden Jahrhunderte. Danach sollten die Juden als Individuen alle Rechte haben, aber keine Sonderrechte als Angehörige einer Glaubensgemeinschaft erhalten. „Man muss den Juden als Nation alles verweigern und ihnen als Individuen alles zugestehen“, so fasste der Revolutionär Stanislas de Clermont-Tonnerre (1757–1792) seinen Gedanken zusammen. Die Juden sollten nicht als Glaubensgemeinschaft, sondern als Individuen integriert werden. Éric Zemmour ist überzeugt, dass sehr viele Muslime sich diesem Gedanken anschließen können, weil sie ihre Heimatländer genau wegen der repressiven Natur des Islam verlassen haben.