Tichys Einblick
Zemmour erklärt Kandidatur

Zemmour will Frankreich den Franzosen zurückgeben – und zwar allen

Mit einem geradezu literarischen Stil hat der ehemalige Journalist Éric Zemmour seine Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen angekündigt. In seinem Programm stellt er die unerhörte Forderung: Alle Franzosen sollen sich zu ihrem Land, seiner Kultur und Geschichte bekennen. Die deutsche Presse ist sich einig, dass solches zu verdammen ist.

picture alliance / Apaydin Alain/ABACA

Ein Foto ging in den letzten Tagen durch die Presse: Éric Zemmour, zu diesem Zeitpunkt noch einfacher Journalist und, wie es stets heißt, Polemiker der extremen Rechten, streckt einer Frau mittleren Alters aus dem Fond eines Wagens den aufrechten Mittelfinger entgegen. Was das Bild nicht zeigt: Die Frau hatte zuerst die obszöne Geste gezeigt, und das obwohl Zemmour ihr Anliegen anhören wollte und dazu das Autofenster heruntergelassen hatte. Doch das war alles vor seiner Kandidatenwerdung am Dienstag. Am Abend des Tages erklärte Zemmour: „Ich bin nicht mehr Journalist und Autor. Ich bin Kandidat für die Präsidentschaftswahlen.“

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Marine Le Pen hatte Zemmour noch am Montag aufgefordert, von einer Kandidatur abzusehen, damit sich die „nationale Familie“ hinter ihrem Namen vereinigen könne. Zemmour sei die Verwandlung vom Polemiker zum Präsidenten offenkundig nicht gelungen. Man könne seinem Land auf tausend Wegen, in ganz verschiedenen Funktionen dienen, war Le Pens Botschaft an den möglichen Konkurrenten. Inzwischen hat Le Pen sich den zweiten Platz in den meisten Umfragen zurückerobert, den sie zwischen Oktober und November immer wieder an Zemmour hatte abgeben müssen. Sie steht derzeit bei rund 20 Prozent, Zemmour bei etwa 15 Prozent, Macron führt mit um die 25 Prozent.

Einen Tag später ist die Präsidentschaftskandidatur Zemmours einen großen Schritt näher gerückt. In einem zehnminütigen, im Internet veröffentlichten Video rief Zemmour seine Anhänger auf, ihn zum Präsidenten zu wählen. Damit seine Kandidatur ganz real wird, muss der Ex-Journalist nun noch 500 Patenschaften gewählter Volksvertreter vorweisen. Im Fernsehsender TF1 gab er sich optimistisch, dass das gelingen werde. Er habe schon zwischen 250 und 300 Zusagen von Bürgermeistern und anderen Mandatsträgern erhalten.

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Sein Antrittsvideo erregte aus mehreren Gründen Aufsehen. Zum einen wird Zemmours Kandidatur nun seit gut zwei Monaten erwartet, zum anderen ist der Mann selbst ebenso umstritten wie populär, zudem sind seine Thesen für gewöhnlich messerscharf erdacht und formuliert. In seinem Video trägt er zu den Klängen von Beethovens Siebter eine Art Manifest vor, das natürlich in Zemmours Fall ein durchaus polemischer Text ist. Der Auftritt ist fast musikalisch in drei Teile geteilt. Dazwischen liegen zwei Generalpausen, in denen Zemmours sonst unermüdliche Stimme kurz schweigt.

Der Kandidat sitzt in einer Bibliothek vor einem Radio-Mikrofon, ähnlich wie einst der General de Gaulle, als der sich aus dem Exil an die Franzosen wandte. Das ist natürlich eine bewusste Inszenierung, wie Zemmour bei TF1 gerne zugibt. Natürlich gebe es in der Kunstform Wahlkampfvideo ein gewisses Maß an Inszenierung. Doch noch wichtiger ist: Zemmour spricht klar und meidet die Leerformeln des Politikersprechs.

Nostalgie nach einem unvergessenen Land

Sein Vortrag beginnt mit einem Hornsignal und exponiert in seinem ersten Teil die Idee der „dépossession“ – des Gefühls der Enteignung, das viele Franzosen heute haben. Diese Bürger, so Zemmour, gehen durch die Straßen ihrer Städte und erkennen sie nicht wieder. Das Anschauen eines Werbespots, eines Fußballspiels oder eines Films, einer Theateraufführung oder eines Schulbuchs führe stets zum gleichen Ergebnis. Die Zustände und Gewalttaten in U-Bahnhöfen, Flughäfen und Schulen – die im Video teils bildlich vorgeführt werden – nähren denselben Eindruck.

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Die Franzosen hätten nicht mehr das Gefühl, in dem Land zu sein, an das sie sich erinnern. Es ist ein weiter, übertragener Erinnerungsbegriff, den Zemmour im Folgenden entfaltet: Erinnerung, so schlägt er vor, bezieht sich nicht nur auf das eigene Leben, sondern auch auf die Erzählungen der Älteren und kulturelle Erzählungen, die man sonst Geschichte, Literatur oder Kino nennt. Insofern gehören Johanna von Orléans und Napoleon genauso zu den Erinnerungen der heutigen Franzosen wie Charles de Gaulle oder Jean-Paul Belmondo. Doch das von diesen und so vielen anderen Personen und Dingen repräsentierte Frankreich suche man heute immer mehr vergebens, so Zemmour.

Niemand habe sein Land verlassen, doch das Land habe ihn verlassen. Franzosen, die wie er denken, seien zu inneren Exilanten geworden. An dieser Stelle lässt sich leider hinzufügen, dass im heutigen Frankreich – aber auch in Deutschland und anderen westlichen Staaten – schon eine Minderheit lebt, die wirklich und wahrhaftig zu Exilanten im eigenen Land geworden sind. Es sind die Kritiker des Islam wie die junge Französin Mila oder der deutsch-ägyptische Politikwissenschafter Hamed Abdel-Samad, die – nur einige unter mehreren – unter ständigem Polizeischutz leben müssen, wie auch der jüngst verstorbene dänische Zeichner Kurt Westergaard.

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Und so vergangenheitsselig sich all das anhört, so sehr richtet es sich doch auch an jüngere Wähler, wie das Engagement der Jugendlichen von der „Génération Z“ für den Kandidaten deutlich macht. Zemmour drückt das so aus: Die junge Generation habe Nostalgie nach einem Frankreich, das sie nie selbst kennenlernen durfte.

Im Folgenden zeichnet er quasi die Entstehung der Bewegung nach, die sich heute hinter ihm vereint. Lange seien nämlich diese „inneren Exilanten“ sich ihrer Gedanken und Empfindungen unsicher gewesen, hätten sich nur langsam und allmählich ihren Ehepartnern, Kindern, Eltern, Freunden, Arbeitskollegen und schließlich gänzlich Fremden anvertraut. „Und Sie haben verstanden, dass Ihr Gefühl der Enteignung von allen geteilt wurden. Frankreich war nicht mehr Frankreich, und alle hatten das erkannt“, lauten die Schlussworte dieses ersten Teils.

Die versagenden Eliten und die Folgen der Immigration

Der zweite Teil des Videos könnte den Titel „Die Verachtung“ tragen. Er handelt von der Geringschätzung der Mächtigen und Regierenden für die Gefühle und Gedanken der normalen Franzosen. Eingeblendet werden bewegte Bilder von Ursula von der Leyen, von verschiedenen französischen Journalisten, Akademikern und Gewerkschaftern. Sogar religiöse Würdenträger hätten die Gedanken der normalen Franzosen für falsch erklärt. Doch genau damit hätten alle diese Autoritäten falsch gelegen, verkündet Zemmour zu den Bildern von öffentlichen Unruhen und der Demolierung kultureller Monumente. Er stellt klar, dass die Immigration nicht die Ursache aller Probleme sei, dass sie aber alle Probleme verschlimmere.

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Zemmour spricht davon, dass Frankreich derzeit zu einem Drittweltland herabsteigt, und schlägt folglich eine Wiederbelebung der französischen Wirtschaft vor, die ihm oft nicht zugetraut wird. Und auch wenn er sich nicht immer als glühender Liberaler in Wirtschaftsfragen zeigt, könnte die Idee, dass nicht alles ausgezeichnet funktioniert, durchaus der Grundstein für echten Wandel sein. Natürlich will Zemmour auch die Bildungsinstitutionen erneuern. Die Universitäten müssten von „islamogauchisme“ und „gender studies“ befreit werden. Auch der EU als „ever closer union“ erteilt Zemmour eine Absage. Die Allmacht der „europäischen“ Gerichte müsse enden, stimmt er seinem konservativen Rivalen Michel Barnier zu. Doch Zemmour wird noch deutlicher: Europa wird für ihn nie eine Nation sein.

Die Linke wie die Rechte habe das Volk seit Jahrzehnten getäuscht und es in Niedergang und Dekadenz geführt. Der Ernst der eigenen (vor allem wirtschaftlichen) Deklassierung sei vor den Franzosen versteckt worden, ebenso die „Realität unserer Ersetzung“. Das französische Wort dafür, remplacement, ist inzwischen auch im Deutschen bekannt. Stattdessen sei das französische Volk eingeschüchtert, gelähmt, indoktriniert, kulpabilisiert worden, heißt es später. Doch es erhebe nun den Kopf und lasse die Masken fallen.

Zuerst musste Zemmour eine eigene Illusion begraben

Zwischendurch sagt Zemmour die wohl persönlichsten Worte seines Videos. Einst habe er, Zemmour, gedacht, als Journalist auf diesem Feld wirken und – vielleicht – einen Politiker mit seinen Ideen begeistern zu können. Er hatte sich gesagt: Schuster, bleib bei deinen Leisten – jedem seine Rolle, jedem sein Kampf.

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Heute habe er das Verfehlte dieser seiner Illusion eingesehen – so deutet Zemmour an, dass er vielleicht selbst glaubt, zu spät gehandelt zu haben. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass kein Politiker in Frankreich heute den Mut besitze, das Land seinem tragischen Schicksal zu entreißen. Und Präsident Macron, der sich einst als „homme neuf“, als Neuling oder Aufsteiger präsentiert habe, sei tatsächlich die Synthese seiner beiden Vorgänger – nur noch schlechter. Das sind wirklich polemische Worte, die das Phänomen Macron nur grob umreißen (dass der nichts grundlegend Neues brachte, versteht sich). Zemmours Abgrenzung von Macron wird in einem anderen Satz deutlich, den er passenderweise zur triumphalen Reprise des Symphoniesatzes ausspricht: „Es ist nicht mehr die Zeit, um Frankreich zu reformieren, sondern um es zu retten.“

Und damit beginnt der dritte Teil, in dem es um das konkrete Programm Zemmours und dessen Umsetzung geht. Und auch hier fällt ein Reizwort: Die Unterwerfung (soumission) unter eine unfranzösische Kultur soll beendet oder verhindert werden. Vielmehr müssten sich die neu Ankommenden an die französische Kultur assimilieren und sich dieselbe ganz zu eigen machen. Es sollen wieder Franzosen in Frankreich heranwachsen, keine Fremdkörper auf einer Terra incognita, das fordert der unverstellte Nationalist Zemmour. Und natürlich seien die Franzosen ein großes Volk, das sich nicht beherrschen, erobern oder kolonisieren und natürlich auch nicht verdrängen, nicht ersetzen lasse. Diese Botschaft erhielten und erhalten die Franzosen von dem Sohn nordafrikanischer Juden, die einst aus Algerien nach Frankreich kamen.

Das erste offizielle Wahlkampfvideo Éric Zemmours ist ein interessantes und höchst anregendes Dokument vor allem durch die absolute Schonungslosigkeit der Analyse. Dagegen sind die Lösungsvorschläge schon beinahe versöhnlich. Und das ist vielleicht die merkwürdigste Pointe dieses Zeitdokuments. Was Zemmour von seinen alten und neuen Landsleuten fordert, ist vorerst nur ein Bekenntnis zu Frankreich, seiner einzigartigen Kultur und Geschichte, woraus sich für Zemmour auch der Wunsch ergibt, das Land heute (und morgen) wiederaufzubauen, es zu neuer Größe zu führen.

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Doch genau das scheint heute zu den unerhörtesten Forderungen überhaupt zu gehören – vor allem in Deutschland, wo man offenbar einem neuen Konkordat mit einem institutionell ungefestigten Islam entgegenfiebert und Zemmour daher wegen Demagogie und EU-Hass angreift. Oder man sammelt einfach ein paar schlüpfrige Geschichten, um einen unbequemen Anti-Establishment-Kandidaten auszubooten. Die Erinnerung an „ein längst vergangenes Frankreich, das groß, stark, schön und friedlich gewesen sei“, halten wieder andere schlicht für eine „Karikatur“. Doch auch in Frankreich erklärten erstaunlich viele Gegner und Konkurrenten des Kandidaten, dass seine Weltsicht düster sei und der jungen Generation keine Hoffnung gebe.
Der Präsident aller Franzosen, nicht der aller Glaubensgruppen

Am Dienstagabend erklärte Zemmour in der Fernsehsendung „Le 20 heures“ auf TF1 (ab Minute 15:00), dass er der Präsident aller Franzosen, also auch jener muslimischen Glaubens sein wolle: „Im Unterschied zu vielen anderen unterscheide ich nicht zwischen dem Islam und dem Islamismus, denn das ist beides dieselbe Sache. Das ist eine falsche Unterscheidung. Dafür unterscheide ich aber zwischen dem Islam und den Muslimen, und ich rufe alle Muslime dazu auf, sich zu assimilieren und die Praxis des Islam abzulegen, die darin besteht, anderen einen juridischen und politischen Kodex aufzuerlegen.“

Er vergleicht das sodann mit dem leitenden Gedanken bei der Assimilation der Juden im Frankreich der letzten beiden Jahrhunderte. Danach sollten die Juden als Individuen alle Rechte haben, aber keine Sonderrechte als Angehörige einer Glaubensgemeinschaft erhalten. „Man muss den Juden als Nation alles verweigern und ihnen als Individuen alles zugestehen“, so fasste der Revolutionär Stanislas de Clermont-Tonnerre (1757–1792) seinen Gedanken zusammen. Die Juden sollten nicht als Glaubensgemeinschaft, sondern als Individuen integriert werden. Éric Zemmour ist überzeugt, dass sehr viele Muslime sich diesem Gedanken anschließen können, weil sie ihre Heimatländer genau wegen der repressiven Natur des Islam verlassen haben.

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