Der Doppelmord von Incarville in der Normandie hat Frankreich zu Recht erschüttert. Das Land erlebt gerade, was die Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols bedeutet, und das im Grunde an zwei Fronten. Auf der Pazifikinselgruppe Neukaledonien sind Unruhen ausgebrochen, durch die drei einheimische Kanaken – die als ethnische Gruppe so heißen – und zwei Polizisten zu Tode kamen. Hintergrund sind Spannungen rund um das geplante Wahlrecht für nach 1998 eingewanderte Personen, darunter auch Franzosen, die bislang auf Repräsentation auf den Inseln verzichten müssen. Man nennt das wohl politischen Widerstand der blutigen Art.
Doch zurück in die Normandie. Hier vermischen sich Kriminalität und Parallelgesellschaft zu einer unerquicklichen Allianz, auf die der Staat noch keine eindeutige Antwort hat. Es war ein regnerischer Tag auf der Autobahn, an dem ein Gefangener mittags um 11 Uhr vom Gericht in Rouen zurück in sein Gefängnis bei Évreux gebracht werden sollte. Die beiden Transporter sind gerade durch den Engpass einer Mautstelle gefahren, als ein dunkler Kleinwagen den vorderen von ihnen frontal rammt.
An den Wagen gehen verschiedene Türen auf. Kurz darauf haben die schwarz gekleideten, vermummten Häscher mit Helm und Maschinenpistolen die beiden Transporter umzingelt. Die Gewehrläufe zielen auf die offene Tür des Transporters, schließlich öffnen die Gestalten die hintere Schiebetür, aus der ein agiler Jungmann hüpft. Die dunklen Gestalten verschwinden und hinterlassen die Leichen zweier Justizbeamter. Drei weitere wurden ernstlich verletzt. Der transportierte Gefangene, ein gewisser Mohamed Amra, entkam mit seinen Komplizen. Inzwischen hat Interpol für Mohamed Amra eine „Rote Ausschreibung“ (Red Notice) herausgegeben, was einer weltweiten Fahndung entspricht.
„Wallah, fetter Überfall an der Mautstelle“
Der Vorfall blieb nicht ohne Auswirkungen auf andere Reisende. Die Passagiere eines vorbeifahrenden Reisebusses nahmen meistens instinktiv Deckung vor den Schüssen draußen, die aus Waffen mit verschiedenem Kaliber kamen. Zwei Vorstadtjungs waren tollkühner und filmten das Geschehen. „Wallah, fetter Überfall an der Mautstelle“, ist der Kommentar von einem von ihnen. Und doch läuft der Verkehr fast normal weiter. Was hätten die Auto- und LKW-Fahrer auch tun sollen?
Einen Angriff auf die Strafbehörden des Staates hätten sie weder abwenden noch in seinem Ablauf aufhalten können. Solches Heldentum lässt sich nicht verordnen. Frankreich erlebt die Auswirkungen einer vollkommen außer Kontrolle geratenen Drogenmafia mit meist nordafrikanischen Paten, die ihr Zuhause in den trostlosen Banlieues haben. Nun greifen ihre Praktiken auf die Gesamtgesellschaft über.
Macron schrieb auf X, die „Urheber dieses Verbrechens“ natürlich finden zu wollen, damit „im Namen des französischen Volkes Gerechtigkeit walten“ könne. Man werde „unnachgiebig sein“. Innenminister Darmanin hat hunderte Polizisten für die Suche eingeteilt. Die EU-Kandidatin Marion Maréchal (Reconquête) kritisierte nach einem Gespräch mit Justizangestellten, der Justizminister habe seine Untergebenen wissentlich in Gefahr gebracht, indem er sich weigerte, ihren Forderungen zu folgen.
Der Vater eines der Mordopfer wurde von diesem Justizminister persönlich informiert. Er wusste sofort, dass es nur eine schlechte Nachricht sein konnte. Arnaud Garcia, der mit 34 Jahren durch eine Kugel der Kriminellen starb, war sein einziger Sohn und wäre in vier Monaten Vater geworden. „Ich habe keine Tränen mehr in meinem Körper, es ist eine echte Ungerechtigkeit“, sagte der ehemalige Polizist der Presse. Doch sein Sohn sei stolz auf seinen Beruf gewesen. Der andere Getötete war bereits Vater von Zwillingen, die in dieser Woche ihren 21. Geburtstag feierten. Der Anschlag gilt allgemein als schändlicher Meuchelmord, der die Franzosen bis ans andere Ende ihres Landes empört, von der Normandie im Nordwesten bis nach Savoyen im Südosten.
Der kaltblütige Mord am Straßenrand als typische Tat des Drogendealermilieus, mit dem Bandenkriege ausgefochten und internes Fehlverhalten „korrigiert“ wird, hat damit das engere Milieu verlassen und frisst sich wie ein Geschwür durch die „normale“ französische Gesellschaft. In diesem Fall geschah das Verbrechen am hellichten Tag, vor den Augen der quasi anonymisierten „Autobahn-Gesellschaft“. Die Tat ist ein Debakel für das allgemeine Sicherheitsempfinden.
Kein Kleinkrimineller: Gegen Amra wird in zwei Städten ermittelt
Das Leben von Mohamed Amra als krimineller Drogendealer liegt sicher zum großen Teil im Dunkeln. Andererseits sagt schon sein imposanter Künstlername „la Mouche“ („die Fliege“) einiges. Er war sicher kein unbedeutender „Kleinkrimineller“, wie es deutsche Medien (etwa die unsägliche Plattform T-Online) nun teils umschreiben, eher schon Intensivtäter.
Der Pariser Figaro schildert Amra als mehrfach Vorbestraften von 30 Jahren, mit „umfangreicher Strafakte“. Er wurde zweimal wegen Einbruchdiebstahls verurteilt, gerade in diesen Tagen wieder zu einer Haftstrafe von 18 Monaten. Zuvor war er durch illegale „Stadt-Rodeos“ mit motorisierten Gefährten aufgefallen. Man darf wohl davon ausgehen, dass sich nicht alle Vergehen auch in der Strafakte niederschlagen. Hier treffen sich die Omertá der arabisch-nordafrikanisch geprägten Drogenmafia und die Scheu der Behörden vor den Banlieues.
Aktuell laufen einige Ermittlungen gegen Amra, unter anderem wegen „versuchter Erpressung mit Waffeneinsatz“ und „versuchten Mordes“ beim Gericht Rouen. In Marseille weiß man zudem von „bandenmäßigem Mord, Entführung und Freiheitsberaubung von Geiseln und Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“, auch von bandenmäßiger Zerstörung des Eigentums anderer durch ein gefährliches Mittel. Das ist die Sprache der Justiz, ins Deutsche übersetzt, lautet einer der Verdachte: Mohamed Amra habe einen jungen Mann in den Kopf geschossen und die Leiche dann in einem Wagen bei Aubagne unweit Marseilles angezündet. Es gibt hier also eine Menge, zumindest als Ermittlungsstand.
Aber auch angesichts dieser teils schweren Anschuldigungen ließen die Behörden keine besondere Sorge bei der Überführung Amras zwischen Évreux und Rouen walten. Keine Polizeieskorte war im Einsatz, nur der Gefangenentransporter selbst mit den fünf Justizbeamten. Amra zählte in seinem Gefängnis nicht zu den „besonders überwachten“ Hochsicherheits-Häftlingen. Wollte man aber alle Drogenmafiosi im Gefängnis eng überwachen, wären die Personalressourcen wohl bald erschöpft. Maréchal hält dagegen, verweist in die USA, wo der Staat sich gegen die Gewalt der Straße durchsetze.
Zemmour: Guerilla-Operation gegen die Ungläubigen
Der Ex-Journalist, Autor und Parteigründer Éric Zemmour hat den Angriff auf den Gefangenentransport in einem Fernsehinterview nicht als Kriminalität, sondern als „Guerilla-Operation“ bezeichnet. Schon die Waffen der Angreifer deuten darauf hin, ebenso die Uniformen der Angreifer. Die Justizbeamten seien in einen Hinterhalt gelockt worden.
Nach Gegenmaßnahmen befragt, sagt Zemmour, die erste von vielen Maßnahmen, die gegen Mohamed Amra, seine Komplizen und in gleichartigen Fällen zu ergreifen sei, sei die Remigration. Der politische, aber auch verwaltungstechnische Begriff ist in Frankreich ebenso umstritten wie in Deutschland. Er bedeutet aus Zemmours Sicht: Die französische Staatsbürgerschaft wird als „verwirkt“ entzogen, darauf folgt dann die Abschiebung ins Herkunftsland.
Auf den bemüht entrüsteten Widerspruch der Interviewerin Apolline de Malherbes hin erklärt Zemmour: „Alle Algerier, alle Tunesier, alle Marokkaner, und ich glaube sogar auch die Malier, verlieren niemals ihre Nationalität, vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter, vom Großvater auf den Enkel. In Algerien ist das Gesetz.“ Daher hätten alle diese Personen automatisch eine doppelte Staatsbürgerschaft. Kriminelle und Mörder aus diesen Staaten haben für Zemmour nichts mehr in Frankreich zu verlieren.
Am Donnerstag stimmte auch Jordan Bardella, der EU-Kandidat des Rassemblement national (RN), in diese Töne ein. Auch Bardella fordert den Entzug des französischen Passes bei kriminellen Doppelstaatlern und die „systematische Ausweisung“ ausländischer Delinquenten. Das RN und Reconquête haben damit ein Wahlkampfthema, die innere Sicherheit, gewonnen, das allerdings in Frankreich immer im Hintergrund vor sich hin simmert. Incarville und Neukaledonien zusammen zeigen, dass Macron das Land nicht im Griff hat, egal ob im europäischen Hexagon oder in Übersee.
In dem Angriff auf den Gefangenentransport sieht Zemmour einen Dschihad der Maghrebiner gegen die französischen Ungläubigen. Die nordafrikanische Unterwelt habe in Frankreich mittlerweile die alte korsische Mafia ersetzt. Doch einen Unterschied gebe es zwischen den beiden: Den korsischen Mafiosi sei es nur um Gewinnsucht oder Habgier gegangen. Darauf beschränken sich die Maghrebiner laut Zemmour nicht. Sie würden zudem vom Dschihad gegen die französische Gesellschaft beseelt. Laut Zemmour muss man den Drogen den Krieg erklären, weil diese für einen Krieg gegen Frankreich eingesetzt würden. Zemmour vergleicht das Geschehen mit den Opiumkriegen in China, wo sich schon einmal eine Droge als veritable Waffe gegen ein Volk erwiesen habe.
Morde haben stark zugenommen
In diesen Tagen wurde der Senatsbericht einer Enquête-Kommission veröffentlicht. Ein ehemaliges Mitglied der berüchtigten French Connection, inzwischen ein gesetzter Mann in seinen Sechzigern, sagte: „Ohne Korruption gibt es keinen Drogenhandel. Der Drogenhandel beruht auf der Korruption.“ Das scheint auf den Staat oder auch die Kommunen zu zielen, die das Phänomen offenbar zulassen, vermutlich sogar davon profitieren.
Laut dem Bericht hinterlässt zumal die Kriminalität rund um den illegalen Drogenhandel ihren Stempel auf der nationalen Kriminalstatistik. Morde und Mordversuche haben stark zugenommen, viele davon gehören zur „Abrechnungskriminalität“ zwischen verschiedenen Banden. Es handelt sich quasi um die illegale Paralleljustiz der Banden. Die Bestrafung der Täter ändert nichts am Muster der Kriminalität, weil die eigentlichen Entscheidungsträger, die Oberhäupter der Banden, ungeschoren bleiben. Marseille sei nur das „Epizentrum eines nationalen Phänomens“.
Marseille wird als „narcoville“, Drogenstadt, beschrieben. Doch Justizminister Dupond-Moretti lehnte diese messerscharfen Beschreibungen der Stadt am südlichen Meer umgehend ab. Im Senat forderten die befragten Marseiller Justizmitarbeiter einen „Marshallplan“ für ihre Stadt, die als eine der ärmsten Frankreichs gilt. Die stellvertretende Vorsitzende des Strafgerichts Marseille warnt: „Ich fürchte, wir sind dabei, den Krieg gegen die Drogenhändler zu verlieren.“