Tichys Einblick
Sonnenkönig hinter Wolken

Frankreich: Die Rentenreform ist in Kraft, doch der Protest ebbt nicht ab

Macron wollte den Wohlstand seines Landes erhöhen, sagt er nun. Doch für die Franzosen geht es um etwas ganz anderes irgendwo zwischen Stolz und Menschenrecht. Die Proteste nehmen kein Ende. Sichtbar wird der oft unverhältnismäßige Gewalteinsatz durch die Polizei.

Demonstration gegen die Rentenreform während der Fernsehansprache von Emmanuel Macron, 17. April 2023, Paris

IMAGO / Le Pictorium

Die Wut lässt nicht nach, auch wenn inzwischen alles beschlossen, fertig dekretiert und vom Verfassungsrat abgesegnet ist. Die Rentenreform aus der Gesetzesfabrik Emmanuel Macron, beschlossen ohne parlamentarische Mehrheit, ist in Kraft. Und doch werden sich die politischen Kräfte in Frankreich nicht einig, ob die Neuregelung ein Gespinst des Teufels oder der einzig mögliche Weg der wirtschaftlich gebotenen Vernunft ist. Die Koalitionen gehen hier wild durcheinander: Während der rebellische Rechtskonservative Éric Zemmour Sympathien für die Reform erkennen ließ, stehen die gemäßigt konservativen Républicains vor einer T-Kreuzung, seit sich der junge Sozialkonservative Aurélien Pradié mit einigen Weggefährten den Reformgegnern anschloss.

Die Linksfront NUPES lief überall Sturm gegen die Reform, ob im Parlament oder auf der Straße. Als fast schon große Schweigerin nahm Marine Le Pen den Platz im Auge des Sturms ein: Sie ist strikt gegen die Anhebung des Rentenalters, zeigte sich für jede parlamentarische Mehrheit gegen das Gesetz und für den Sturz der Regierung Borne offen, unterließ es aber, die teils heftigen Proteste im Land anzufeuern. Allerdings ist sie für ein Referendum zu dem Gesetz, das vielleicht noch kommen könnte.

Am Wochenende tagte der Verfassungsrat hinter selbst errichteten Hartplastik-Barrikaden. Es handelt sich um ein neunköpfiges Expertengremium, das die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzgebungsverfahrens beurteilte. Doch das Gremium ist eher ein Abnickrat, den die Parlamentsmehrheit mit eigenen Veteranen bestückt, etwa mit der macronistischen Ex-Ministerin Jacqueline Gourault, die keineswegs Staatsrecht, sondern Geschichte und Geographie studiert hat, bevor sie Lehrerin und dann Politikerin wurde. Eine ähnliche, nur noch etwas glanzvollere Laufbahn hat der Vorsitzende des Rats, Laurent Fabius, hinter sich, der 1984 zum Premierminister unter François Mitterrand wurde und bis 2016 Außenminister unter Hollande war.

Die Straßen vom leidigen Protest säubern?

Ein Foto war besonders bezeichnend: Darauf haben Bereitschaftspolizisten den Vorplatz des Tagungsgebäudes vollkommen gefüllt, als ob sie lediglich den Raum vollstellten, damit sich nichts mehr auf Pariser Straßen ereignet.

Trotzdem ereignete sich einiges – etwa Schlagabtausche, bei denen die Gelbwesten keineswegs vor den Spezialeinheiten der Polizei zurückwichen.

Doch es wird durchaus auch eine Chronik der Polizeigewalt gezogen dieser Tage. Diese Ausrichtung der französischen Polizei wird Innenminister Gérald Darmanin zugeschrieben. Ein eigenes Twitter-Profil hat sich der Szenen angenommen, die deutlich machen, dass hier ein Staat sein Gewaltmonopol durchsetzt – während die Bürger offenkundig nicht zustimmen. Die Meldungen unverhältnismäßiger Polizeigewalt erreichen dabei bald die 6.000-Marke.

Die Szenen einer Bereitschaftspolizei, die mit allen Mitteln gewillt scheint, die eigene Vorherrschaft auf den Straßen herzustellen, kommen aus Paris, doch ebenso aus Rennes, Bordeaux, Marseille. Demonstranten, über deren Vergehen man nichts weiß, werden isoliert und in eine brutale Mangel genommen. Ist das schon der Übergang in den Polizeistaat? Amnesty International und der Europarat haben die „exzessive Gewaltanwendung“ der letzten Wochen kritisiert. So hätten Beamten Tränengasgranaten des Typs GM2L direkt auf Menschen geworfen. Ein Demonstrant soll sein Auge durch ein Hartgummigeschoss verloren haben. Einem weiteren, der am Boden lag, fuhren die Polizisten über das Bein. Sicher muss die Polizei gegen Gewalttäter vorgehen. Aber sollte es hier darum gehen, die Straßen vom leidigen Protest zu „säubern“, dann fällt das Verdikt negativ aus.

Direkt im Anschluss an die Entscheidung des Conseil constitutionnel gab es neue Protestmärsche und Aktionen in mehreren Städten. In Rennes versuchten radikale Täter, ein historisches Kloster anzuzünden.

Der Staatsrechtler Dominique Rousseau bemerkte, sogar der Verfassungsrat sei zu dem Ergebnis gekommen, dass Minister im Parlament irrige oder gar irreführende Argumente vorgetragen hätten. Die Debatte sei folglich nicht offen und ehrlich gewesen, wie sie es eigentlich hätte sein müssen. Gefordert werden „clarté et sincérité“, Deutlichkeit und Aufrichtigkeit. Doch die Debatten der letzten Zeit glichen eher einem Grabenkampf mit manchmal persönlichen Beleidigungen von der Regierungsbank an einfache Abgeordnete.

Rentenleistung als Menschenrecht

Macron verkündete am Montagabend in einer Fernsehansprache von 13 Minuten, dass der Verfassungsrat den Gesetzesentwurf als zulässig beurteilt hatte und dass er, der Präsident, das Gesetz deshalb offiziell verkündet und in Kraft gesetzt habe. Ab Herbst wird das Gesetz greifen. Und Macron ist immerhin ehrlich: Die Reform des Rentensystems sei vor allem deshalb notwendig gewesen, um „mehr Wohlstand für unsere Nation zu erzeugen“. Damit will er Frankreich stärken, in dessen tägliche Ausgaben und seine Zukunft investieren. Aus den Reihen der Großgewerkschaft CGT heißt es indes, die Einsparung von sieben Milliarden Euro durch die Rentenreform stehe in keinem Verhältnis zum Nutzen. Das Land habe gerade ein Vielfaches, 413 Milliarden Euro, in seine Armee gesteckt. Sicher ein konfektioniertes Argument der Linken – aber ist es deshalb ganz ungültig?

„Doch ist diese Reform akzeptiert? Offenbar nicht“, versetzt Macron nach dieser kurzen Rechtfertigung, noch einmal schonungslos offen. In den Demonstrationen hat er die Wut der Franzosen bemerkt – aber angeblich auch ihren Wunsch nach besseren Arbeitsbedingungen, nach besseren Aufstiegschancen und einem besseren Leben durch die eigene Arbeit. Doch Tankfüllung, Einkäufe und Kantinenessen rissen zugleich immer größere Löcher in die Portemonnaies der Franzosen. Auch die Interventionen der Staaten, so Macron etwas paradox, hätten diese Inflation nicht bändigen können (sie haben sie ja erst ausgelöst). So versuchte Macron den Franzosen eine Schulung in seiner eigenen Volkswirtschaftslehre zu verpassen und dürfte doch daran gescheitert sein. Denn da ist nichts, was sich anfassen lässt.

Jupiter alias der neue Sonnenkönig schwebt in den Wolken. Auch die sozialpolitischen Maßnahmen, die Macron wortreich verspricht, haben nichts mit dem so umstrittenen Projekt der Rentenreform zu tun, denn hier geht es für die Franzosen nicht um Trostpflaster und Gratisgaben vom Staat, sondern um eine Leistung, die ihnen quasi als Menschenrecht zusteht, aufgrund ihrer Bereitschaft, ihre besten Jahre für diesen Staat zu opfern. Der Staat hat nicht das Recht, diesen Vertrag zwischen den Bürgern und ihrem guten Leben zu kündigen oder zu verändern. Es geht nicht um Gleichheit, Gleichmacherei dank dem Staat, sondern Freiheit vom Zugriff des Staates auf ein Vermögen, das als privat angesehen wird: den individuellen Rentenanspruch.

Man müsste diesem Anspruch ganz anders begegnen, als Macron es tut. Aber die anderen Wege sind ihm vermutlich versperrt, weil er partout nicht wie seine Gegner sein will. Er warnt vor „Immobilismus“ und „Extremismus“, also den politischen Sünden, die er seinen Gegnern unterstellt. Doch was in Erinnerung bleibt, ist vor allem das große Unverständnis und die tiefe Kluft zwischen dem Präsidenten und „seinem“ Volk.

280 Demonstrationen gegen Macron

Für den Dienstagmorgen lud Macron die Arbeitgeber und Gewerkschaften ein, um nochmals zu diskutieren. Worüber eigentlich? Was hat er vor allem den streik- und protestbereiten Gewerkschaften anzubieten? Die Türen seien immer für beide Gruppen offen. Angeblich will Macron mit den Arbeitsparteien über einige „essentielle Themen“ sprechen, als da wären: eine Verbesserung der Einkommen der Angestellten, bessere Laufbahnen, mehr Wohlstand, wie schon oben gesagt. Wofür so ein Präsident der Republik doch alles zuständig ist. Tatsächlich besitzt auch Macron nicht den goldenen Hebel, um all diese Fragen zufriedenstellend zu beantworten oder auch nur zu beeinflussen.

Aber Dialog, Dialog, Dialog – das ist nun das Flötenspiel Macrons, wenn er auch im Gesetzgebungsverfahren noch so unerbittlich auftrat und wohl wieder auftreten wird. Es ist, das wurde schon öfter bemerkt, kein wirkliches „Zuhören“ von ihm zu erwarten, ebensowenig Lösungen gegen Inflation und Krise, die wie ein Verhängnis auf die energiearmen, lange verschuldeten EU-Länder zurasen. Kurz gesagt: Macron sprach über alles mögliche, aber nicht besonders lange über diese Rentenreform, sondern über Ökologie und Klimaschutz, am Ende etwas zu innerer Sicherheit und Immigration, und die Kathedrale Notre-Dame soll in zwei Jahren wiederaufgebaut sein. Bestenfalls waren die Franzosen eingeschläfert, doch dürften sie kaum dauerhaft beruhigt werden.

Und tatsächlich: Auch gegen die Macron-Rede schwieg der Protest keineswegs. In ganz Frankreich protestierten Bürger vor den Rathäusern, ließen sich auch von Verboten nicht abschrecken wie in Marseille, Rennes oder Straßburg. Insgesamt 280 Demonstrationen, genehmigt oder nicht, soll es gegeben haben. Das gleichartige Geräusch, das an verschiedenen Orten erklang, verdankt sich dem Schlagen von Töpfen.

Aus Paris wird von der Formierung mehrerer Demonstrationszüge berichtet. Auch Barrikaden brannten erneut, auch in anderen Städten.

Zwei Drittel der Franzosen wollen weiter protestieren

Der Erzlinke Jean-Luc Mélenchon verkündete nach der Rede, Macron sei nun offenbar „völlig aus der Realität“ gefallen – gerade habe er den Franzosen zwei Lebensjahre gestohlen. Le Pen will das Gesetzgebungsverfahren zwar akzeptieren, prangerte aber nicht weniger die Brutalität von Macrons „Reform“ an. Jordan Bardella, Vorsitzender des Rassemblement national (RN), forderte wie seine Spitzenkandidatin Le Pen eine „Rückkehr zum Volk“ – sei es durch die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen, sei es durch ein Referendum über die strittige Frage der Fragen. Oder aber durch den umgehenden Rücktritt von Macron. Der könne sich nicht hinter der Entscheidung des Verfassungsrats verstecken. Ein Referendum bleibt indes möglich, auch wenn die Hürden hoch liegen.

Vor allem ist aber eines vollkommen unwahrscheinlich: Dass Macron die Franzosen noch einmal über diese Reform beruhigen kann, sei es mit Worten, Reden oder jenen Taten, die er sich als nächstes vorgenommen hat. 90 Prozent der Franzosen glauben laut einer Umfrage des Instituts Elabe für BFM TV nicht daran, dass der Präsident eine beruhigende Wirkung auf die Bürger haben kann. 64 Prozent glauben, dass die Mobilisierung gegen das Gesetz weitergehen muss.

Inzwischen trauen Beobachter es sogar Macron zu, mit strittigen Projekten wie diesem das „gesellschaftliche Chaos“ gezielt zu suchen, um den „wirtschaftlichen Zusammenbruch“ zu verstecken, den man in der zweiten Amtszeit des Politikers erwartet. Sogar die deutsche FAZ wird da zustimmend zitiert, sobald sie Macron mit einem „republikanischen König“ vergleicht (von Nero ist in dem Artikel eigentlich nicht die Rede).

Am 1. Mai soll der Großprotest der französischen Gewerkschaften mit einer weiteren Mobilisierung in die nächste Runde gehen.

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