Tichys Einblick
Unruhen erreichen Nachbarländer

Frankreich: Bürgermeister angegriffen, Polizisten fordern Durchsetzung des Rechts

In Frankreich wurde das Haus eines Bürgermeisters angegriffen. Zwei Polizeigewerkschaften fordern die Durchsetzung des Rechtsstaats und nichts weiter. Die Unruhen breiten sich derweil nach Belgien und sogar in die Schweiz aus. Es mögen Nachahmertaten sein, die aber für keine der betroffenen Nationen etwas Gutes verheißen.

IMAGO / ABACAPRESS

Nun sind die Unruhen auch in Lausanne am Genfersee und in Belgien angekommen. „Durch Frankreich inspiriert“ – diese Worte nehmen gerade einen sehr anderen, neuen, aber nicht besseren Sinn an. Mehr als hundert Jugendliche sind am Samstagabend zu Plünderungen in der Innenstadt der 140.000-Stadt übergegangen. Laut dem Schweizer News-Portal 20 Minuten wurde über soziale Medien wie Snapchat und TikTok dazu aufgerufen, „den entfachten Flächenbrand über die Grenze hinaus auszubreiten“. Es gab nur sieben Festnahmen, darunter waren sechs Minderjährige und ein 24-Jähriger. Die Festgenommenen waren demnach Schweizer, portugiesischer, somalischer, bosnischer, georgischer und serbischer Herkunft. Schaufenster wurden zerschlagen, Ladentüren aufgebrochen. Um die 50 Polizisten waren im Einsatz, die ebenfalls angegriffen wurden. Pflastersteine flogen. Dass auch ein Molotowcocktail dabei war, zeigt die Vorbereitung der Halbwüchsigen. Das war kein spontaner Gefühlsausbruch.

— Marc (@cramceleden74) July 2, 2023

Auf Belgien hatten die „Proteste“ zuerst übergegriffen. Auch hier spielten die sozialen Medien die Rolle eines Übertragungsriemens. 35 Personen wurden am Samstagabend im Zentrum von Brüssel in präventiver Absicht festgenommen, die allermeisten davon minderjährig. Am Vorabend waren es 94 Festnahmen gewesen, daneben einige weitere im Norden der Hauptstadt. Die Presse berichtet von mehreren Schlägereien. Diese relativ zurückhaltenden Berichte lassen erahnen, dass auch Belgien nicht ungeschoren davon käme, wenn die Unruhen anhielten. Zu ähnlich sind sich die migrantischen Gemeinschaften in beiden Ländern. Angeblich sollen die französischen Unruhestifter sich zum Teil in Belgien mit den gefährlichen Feuerwerksmörsern eingedeckt haben, mit denen sich Raketen leicht abschießen lassen.

L’Haÿ-les-Roses: Angriff auf das Haus des Bürgermeisters

In Frankreich ist die Lage weiterhin um vieles schlimmer. In L’Haÿ-les-Roses (32.000 Einwohner) im Süden von Paris wurde das private Haus des Bürgermeisters mit einem zum Rammbock umfunktionierten Wagen angegriffen. Zu Hause war nur die Frau des Bürgermeisters, die verletzt wurde, als sie versuchte, sich und ihre beiden Kinder (fünf und sieben) in Sicherheit zu bringen. Vor ihrer Haustür kamen die Fliehenden unter Mörserfeuer. Die Absicht der Täter war anscheinend, so der Staatsanwalt, Feuer an das Haus zu legen. Die Polizei ermittelt wegen versuchten Mordes.

Solche Angriffe sind keine Zufall mehr. Der gezielte Angriff auf die Familie des Bürgermeisters macht noch einmal klar, dass auch die Attacken auf Schulen, Rathäuser, Bibliotheken genauso gemeint waren – als Angriffe auf Frankreich und seine Institutionen. Das Geschehen versetzte auch die Regierenden in einen erneuten Schock. Am Samstag fuhren Premierministerin Élisabeth Borne und Innenminister Gérald Darmanin nach L’Haÿ-les-Roses. Auch in anderen Kommunen waren Bürgermeister auf der Straße erkannt und angegriffen worden.

In der fünften Nacht der frankreichweiten Ausschreitungen konnte man sich bei den Festnahmen auf 719 beschränken, was Innenminister Darmanin als Beruhigung etikettierte. 45 Sicherheitsbeamte wurden verletzt. 45.000 Polizisten und Gendarmen waren im Einsatz, daneben tausende Feuerwehrleute. Ab 21 Uhr fahren landesweit keine Busse und Trams, wodurch natürlich die gesamte Bevölkerung der Banlieues von den Stadtzentren abgeschnitten wird. Doch noch immer befindet sich die Polizei in Paris, Straßburg, Marseille, Grenoble, Lyon und andernorts im Nahkampf mit einer großen Zahl an Tätern. Wieder kam es zu Ladenplünderungen. Gezählt wurden daneben 871 Brandstiftungen im öffentlichen Raum, darunter 577 angezündete Fahrzeuge und 74 Gebäude.

In Grigny bei Paris brannte ein moderner Häuserblock. In Marseille wurde ein Autohaus der Marke Volkswagen ausgeplündert.

In Maubeuge in Nordfrankreich wurde eine Gasflasche zur Explosion gebracht. Das gleicht allerdings einem terroristischen Attentat. Der Verkauf von Feuerwerkskörpern, Benzinkanistern und entzündlichen Chemikalien soll nun systematisch unterbunden werden.

Polizisten fordern Durchsetzung der republikanischen Ordnung

Da ist es schon etwas sehr naiv, wenn die französische Nationalmannschaft unter Kapitän Kylian Mbappé dazu aufruft, die Gewalt zu beenden und stattdessen „friedlichere und konstruktivere Wege“ zu finden um „sich zu äußern“. Die großen Polizeigewerkschaften Alliance und Unsa-Police, in denen die Mehrheit der französischen Polizisten organisiert ist, betonten dagegen am Freitag: „Gegenüber diesen wilden Horden reicht es nicht mehr, zur Ruhe aufzurufen, sie muss durchgesetzt werden.“ Die Beamten wehren sich insbesondere gegen eine politische Instrumentalisierung des Geschehens, wie sie auch bei Präsident Macron gelegentlich anklang. Nun müsse vor allem die republikanische Ordnung, der Rechtsstaat wieder durchgesetzt und verhindert werden, dass die Festgenommenen noch einmal Schäden hervorrufen können. Das seien die einzigen Signale, die zu diesem Zeitpunkt zu senden wären.

Außerdem müsse die „Familie der Polizei“ solidarisch sein: „Unsere Kollegen können genauso wie die Mehrheit der Bürger nicht länger das Diktat dieser gewalttätigen Minderheiten erdulden.“ Die Polizeibeamten befänden sich im „Kampf mit diesen ‚Schädlingen‘“. Sich zu ergeben, sei keine „Lösung in Anbetracht des Ernstes der Situation“. Diese Wortwahl spaltet einen Teil des Publikums ab, lässt aber auch darauf schließen, dass man die Beruhigungspillen der Politik in den Rängen von Polizei und Gendarmerie nicht für zielführend hält. Man mag sich an dieser Stelle des Offenen Briefs von über 1000 pensionierten Militärs erinnern, die vor zwei Jahren vor einem Bürgerkrieg warnten.

Linksbündnis wackelt wegen Mélenchons Affinität zu den Unruhen

Nun wackelt auch das Linksbündnis NUPES in der Nationalversammlung, nachdem mehrere Vertreter der Partei La France insoumise (LFI, „Aufsässiges Frankreich“), eingeschlossen Fraktionschef Jean-Luc Mélenchon, sich weigerten, die gewalttätigen Unruhen zu verurteilen. Mélenchon rief am Freitag die „Jüngeren“ unter den Unruhestiftern dazu auf, Schulen und Bibliotheken zu verschonen. Für Polizeiwachen oder Privathäuser soll das offenbar nicht gelten, geht es nach dem LFI-Frontmann. Auch nicht für die Älteren unter den mutwilligen Randalierern.

Die Abgeordnete Alma Dufour (LFI) verstieg sich gar zur These, dass der Zweck die Mittel rechtfertige. Die Tageszeitung Le Point übersetzte: „Die Gewalt bringt also Ertrag.“ Hier fällt es einigen auch leicht, an die Revolution von 1789 zu erinnern, wo ebenfalls öffentliche Gebäude in Unruhen zerstört worden seien. Dass sie damit die Dritte Republik mit der alten Monarchie vergleichen, liegt allerdings in der Logik kommunistischer Klassenkämpfer. Solche Töne missfallen aber den Sozialisten, dem zweitgrößten Partner im Bündnis.

Macron sagte seinen Staatsbesuch in Deutschland ab, der bald nachgeholt werden soll. Frank-Walter Steinmeier bedauerte die Absage, zeigte aber „vollstes Verständnis angesichts der Situation“ in Frankreich. Er hofft, dass „die Gewalt auf den Straßen baldmöglichst beendet und der soziale Friede wieder hergestellt werden kann“.

Eine kleine Szene aus Marseille zeigt, was all das bedeutet

Die Spenden für die Familie des in die Sache verwickelten Polizisten übersteigen derweil um ein Vielfaches jene, die für die Mutter des erschossenen Nahel eingingen. Der Politiker Jean Messiha, selbst mit christlich-ägyptischen Wurzeln, hat die Spendenaktion für den Polizisten initiiert. In der Moschee von Nanterre wurde die Trauerfeier für Nahel M. unter Ausschluss der Presse abgehalten. Was in Frankreich passiert, hat freilich nichts mehr mit seinem Tod zu tun.

In Marseille ereignete sich eine kleine Szene inmitten des großen Angriffs auf zivilisatorische Werte in Frankreich. Ein junger Kioskbesitzer entdeckt seinen geplünderten und verwüsteten Laden und kann es nicht fassen. Sein Vater vermag ihm mit festen, wahren Worten den Rücken zu stärken. Vor dem Laden lachen einige Tunichtgute. Der Vater spricht sie an: „Das lässt dich lachen. Wenn du zwanzig Jahre für etwas gearbeitet hast und jemand dir alles f…t, wirst du uns auch lachen sehen.“

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