In Frankreich passen Außen- und Innenpolitik derzeit kaum zusammen. In der Sahelzone fühlt man sich im Krieg gegen Islamisten allein gelassen von den europäischen Partnern. Zugleich macht man Zugeständnisse an den Islamismus im Inland. Man zahlt auch Lösegelder in zweistelliger Millionenhöhe für entführte französische Journalisten und finanziert so den unheiligen Krieg der Dschihadisten mit.
Es ist der Elefant im Raum, über den in solchen Diskussionssendungen fast nie direkt gesprochen wird: die Muslime in Frankreichs Schoß, die teils als radikale Scharia-Jünger auffallen, dann wieder von Delinquenz und Rauschgifthandel geprägt sind. Vom radikalen Islam als Problem spricht man ganz offen nur da, wo er sich als Dschihadismus bekämpfen lässt, am südlichen Rand der Sahara. Im Inland bilden delinquente oder radikale Muslime (beide sind nicht staatstreu) eine drohende, allzu bekannte Gefahr, mit der man pragmatisch und – vor allem – schweigend umgeht.
Schwelenden Unruhen, die Macron nicht sehen will
Nun gibt es einen neuen Appell, angeblich verfasst von aktiven Militärs. Angeblich muss man sagen, weil der Text anonym erschien. Am 9. Mai wurde er erstmals veröffentlicht und verbreitete sich rasch im Netz, zwei Tage später erschien er auch auf der Website von Valeurs actuelles, die schon den ersten Appell veröffentlicht hatten. Laut dem rechtskonservativen Wochenblatt hat dieser zweite offene Brief sehr bald 250.000 Unterschriften gesammelt. Inzwischen müssen es sehr viel mehr sein.
Die Autoren des neuen Appells sprechen von den Einsätzen in Afghanistan, Mali und Zentralafrika, an denen viele von ihnen teilgenommen hätten. Sie kämpften dort gegen genau jenen Islamismus, gegenüber dem die Regierenden auf dem eigenen Staatsgebiet laufend Zugeständnisse machen. Fast alle der Unterzeichner seien zudem Teil der inländischen Antiterror-Operation »Sentinelle« gewesen: Sie haben die aufgegebenen Vorstädte gesehen, in denen sich der Staat inzwischen mit der Kriminalität arrangiert habe. Die Soldaten und Gendarmen sehen keineswegs einen Militärputsch am Horizont. Sollten aber »zivile« Unruhen ausbrechen, dann werde es die Armee sein, die die Ordnung wiederherstellen wird: Sie wird es müssen, weil man es von ihr verlangen wird. Doch einen »schwelenden« Bürgerkrieg erkennen die Militärs schon jetzt in ihrem Land – ebenso wie »Feigheit, Schurkerei, Perversion« bei den Regierenden, die sich in deren Umgang mit dem ersten Appell gezeigt habe.
Frankreich als »failed state« und »brutale Tyrannei«
Für den Journalisten Éric Zemmour, Spross einer jüdischen Familie aus Algerien, verweigert sich die Regierung Macron an diesem Punkt der Realität. Tatsächlich erlebe Frankreich eine permanente Guerilla mit separatistischen, kolonisatorischen Bestrebungen. Die agierende Gruppe wird von Zemmour aber wieder nur indirekt benannt: Menschen, die sich nicht als Franzosen sehen.
Fast am Ende des offenen Briefs stehen zwei historische Parallelen aus den beiden Weltkriegen, die es in sich haben:
- Auch die »résistants« der vierziger Jahre seien von Politikern wie den heutigen wie Umstürzler behandelt worden.
- Die Frontkämpfer von 1914 hätten ihr Leben für einige Meter französischen Bodens hergegeben, während heute ganze Viertel der Rechtlosigkeit und dem Recht des Stärkeren anheimfielen.
Der Appell der Jüngeren, die sich derart demonstrativ auf die Schultern ihrer Älteren stellen, entfaltet einiges an Überzeugungskraft, wenn die Soldaten fragen, ob ihre Vorläufer für nichts und wieder nichts gekämpft hätten, als sie das Territorium und die Kultur Frankreichs verteidigten. Heute lasse man Frankreich zum »failed state« werden, während das »hoheitliche Unvermögen« in eine »brutale Tyrannei« übergehe. Das sind harte Worte, gerichtet an Macrons Adresse und die seiner Regierung. Der offene Brief schließt mit der Aufforderung an die Regierenden zum Handeln: Es gehe um das Überleben des Landes, das auch das ihre sei.
Sogar der Aufruf der Reserve-Generäle, der vor gut zwei Wochen für so viel Aufsehen sorgte – unter anderem, weil er genau 60 Jahre nach dem versuchten »Putsch der Generäle« gegen die Loslösung Algeriens von Frankreich veröffentlicht wurde – umzingelte sein Ziel vorsichtig von mehreren Seiten: Der Islamismus der Vorstädte erschien darin nur als ein Aspekt des Problems, daneben standen ein destruktiver Antirassismus und der verfehlte Einsatz der Polizeigewalt gegen die eigenen Bürger, vor allem die Gelbwesten.
Der neue Appell der aktiven Militärs korrigiert das, indem er sich durchgängig auf das Problem des Islamismus bezieht. Er hebt damit einen Subtext hervor, der schon den Lesern des ersten Appells bewusst gewesen sein dürfte. Innenminister Gérald Darmanin, Macrons Mann für die Banlieues und gegen Le Pen, kritisiert die Anonymität des neuen Appells, bezweifelt gar den Mut der aktiven Beamten und Militärs. Präsident Emmanuel Macron reagiert indirekt auf die beiden Aufrufe der Generäle, indem er in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur (kurz PACA) eine Allianz seiner liberalen LREM-Partei mit den Républicains schmiedet und auf einen eigenen Kandidaten für die Wahlen Ende Juni verzichtet. Dann sind da natürlich noch die Präsidentschaftswahlen in knapp einem Jahr, und Umfragen sehen Marine Le Pen derzeit im Aufwind.
Éric Ciotti: Wer ein Übel beschreibt, wird zum Extremisten gemacht
Éric Ciotti aus Nice, Abgeordneter der Républicains für das Département Alpes-Maritimes, bekannte sich als Unterzeichner des neuen Appells. Ciotti stellt fest, dass die Gegenwartsbeschreibung beider Appelle auf Evidenz beruht: »Man kann nicht bestreiten, was man alltäglich sieht, den Schrecken, der sich in den Vierteln eingenistet hat, in denen das staatliche Recht nicht mehr angewandt wird.« Doch der Konservative nimmt auch wahr, dass man, sobald man ein Übel oder eine unbequeme Realität beschreibt, sogleich zum Extremisten gemacht wird.
Islam, Immigration, Verrohung – was ist das Problem?
Zuletzt deutet sich an, dass auch im konservativen Frankreich unklar sein kann, was nun eigentlich das Problem ist. Der Journalist Patrick Buisson, der schon früh ohne Scheu vor der Partei Jean-Marie Le Pens, doch zuletzt Berater von Nicolas Sarkozy war, glaubt, dass der Islam nicht das eigentliche Problem sei. Er zeige den Franzosen nur ihre eigenen Unzulänglichkeiten, ihren Niedergang und ihre Dekadenz auf. Das eigentliche Problem sei die beständig weiter stattfindende Immigration. Es ist ein Bekenntnis zur französischen Realität von heute.
Doch Buissons Wortmeldung bleibt keineswegs unwidersprochen. Für viele stellt sich inzwischen eben doch die Frage, ob man ein christliches Land mit laizistischer Tradition bleiben wird, wenn sogar der Rektor der Großen Moschee von Paris vor einer Verrohung der Muslime in Frankreich warnt, wie sie vor dreißig Jahren in Algerien stattfand.