Tichys Einblick
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Florida: United We Stand – Europa hat im Ahrtal kolossal versagt

Am 28. September 2022 schlug Hurrikan „Ian“ auf der Höhe von Fort Myers/Cape Coral auf die Westküste Floridas. Schwerste Überschwemmungen und flächendeckende Zerstörungen von Bauten und Infrastruktur waren die Folge. Ein gutes Jahr zuvor, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021, zerstörte eine schwere Flutkatastrophe das Ahrtal in Deutschland. Das Ausmaß der Schäden ist vergleichbar. Aber der Umgang mit der Katastrophe ist in Florida ein ganz anderer als in Deutschland.

Das US Army Corps of Engineers arbeitet mit Beamten von Lee County an der Durchführung von ATC-45-Schnellbewertungen von Gebäuden in Fort Myers Beach, die vom Hurrikan Ian betroffen sind.

IMAGO / Cover-Images

Am Nachmittag, bevor Hurrikan „Ian“ für viele Bewohner Südwestfloridas das Leben in „vorher“ und „nachher“ einteilte, rief ich bei einer Freundin an. Seit Tagen verfolgte ich, ähnlich wie wohl die meisten Floridians an der Westküste, die Wetterkarten. „Ian“ war ein Mistkerl, der seine Route änderte. Die „mandatory evacuations“, behördlich angeordnete Evakuierungen, die ursprünglich für die Gegend um das 200 Kilometer entfernte Tampa ausgesprochen wurden, kamen immer mehr in unsere Richtung. Die Gegend, in der meine Freundin wohnt, leuchtete an diesem Nachmittag plötzlich rot auf der Karte. Jeder, der sich nicht selbst versorgen konnte, wurde damit aufgefordert, sich zu melden, um evakuiert zu werden. Allen anderen wurde die Evakuierung strengstens angeraten.

Der Anruf bei meiner Freundin war kurz. Ich bot ihr an, mit Hund und Kegel zu uns ins Haus zu kommen, bis das Schlimmste vorbei wäre. Aber sie wollte nicht. Sie hatte bereits zig Hurrikans erlebt, sprach von den Übertreibungen, die Wetterkanäle im TV gerne brachten, um die Quoten zu steigern, und zog es vor, in ihrem Haus zu bleiben. Wie ihre Nachbarn übrigens auch. Coole Socken eben.

24 Stunden später, am 28. September 2022 schnappte sie nur noch ihren Hund und einen Rucksack mit Laptop und Handy und kämpfte sich durch hüfthohes Wasser bis zu einer Querstraße, in der ein Freund in seinem hoch gelegten Truck auf sie wartete. In der Nacht zogen alle noch einmal um, da auch vor dem Haus des Freundes das Wasser stand. Weitere 24 Stunden später war klar, dass ihr erst vor wenigen Wochen bezogenes Haus eine Kloake war, und ihr Auto ein Totalschaden. „Ian“ hatte ganze Arbeit geleistet.

In den nächsten Tagen konnte man genau verfolgen, welche Straßen vom Hochwasser betroffen waren – dort stand der gesamte Hausstand inklusive der Wände und Einbaumöbel auf der Straße. Fort Myers Beach und Sanibel hatte es besonders hart getroffen. Ganze Straßenzüge waren nur noch Schutt und Matsch, die Straße und die Brücke nach Sanibel waren komplett verschwunden. Im Prinzip sah es hier ähnlich katastrophal aus wie im Juli 2021 im Ahrtal.

180 Tote forderte die Katastrophe in Deutschland, die Schadenshöhe soll bei ca. 30 Milliarden Euro liegen. In Florida starben trotz der umfassenden Warnungen und Evakuierungsaufforderungen ca. 100 Menschen, die bisher geschätzte Schadenshöhe liegt bei unglaublichen 200 Milliarden Dollar. Soweit die Gemeinsamkeiten, denn aller Voraussicht nach wird die Geschichte hier in Florida anders weitergehen als die in Deutschland.

Während in Deutschland um das „wording“ gekämpft und Schuldzuweisungen hin und her geschoben wurden, Presseabteilungen an mitfühlenden Worten für Malu Dreyers Rede arbeiteten und die betroffenen Menschen sich, außer bei Fototerminen in Gummistiefeln, mehr oder weniger allein gelassen fühlten, krempelten die Amerikaner die Ärmel hoch: United we stand.

Screenshot: via Facebook

Im Gegensatz zum Ahrtal, wo die meisten Menschen von der Flut überrascht wurden, war man in Florida vorbereitet. Bereits vor dem Hurrikan hatte der Stromanbieter FPL (Florida Power & Light Co.) 18.000 Linemen aus ganz Amerika zusammengetrommelt. Das sind die Männer und Frauen, die die Strommasten wieder funktionsfähig machten. Als das Ausmaß der Jahrhundertkatastrophe dann klar wurde, orderte man weitere 12.000 Arbeiter und die dazugehörigen Kletterfahrzeuge. Insgesamt arbeiteten 42.000 Linemen aus ganz Nordamerika, um die rund zwei Millionen von Stromausfällen betroffenen Haushalte wieder ans Netz zu bekommen.

Unter Govenor DeSantis Leitung wurde umgehend mit dem Aufräumen und Wiederaufbau begonnen – mit Arbeitern aus allen Ecken Amerikas. DeSantis Meisterleistung: Die komplett zerstörte Straße nach Sanibel war inklusive einer neuen Brücke nach drei Wochen wieder aufgebaut. Asphaltiert! Amazing, sagen sogar demokratische Floridianer anerkennend.

First Lady Casey DeSantis sammelte innerhalb von drei Wochen fast 50 Millionen Dollar private Spenden ein. Zum Vergleich: Die Bundesrepublik stellte Soforthilfen in Höhe von 200 Millionen Euro bereit, von privaten Aktionen der First Ladys oder First Husbands ist nichts bekannt. Gemeinsam mit Amazon organisierte sie Spielzeug und Bedarfsartikel für betroffene Kinder, DeSantis selbst bat Elon Musk um Starlink Stationen und stellte auf diese Art Internet für die First Responder zur Verfügung.

DeSantis erließ ein Notgesetz, das betroffenen Hauseigentümern die hierzulande sehr hohe Grundsteuer stundet und ihnen somit Luft gibt. Normalerweise wäre diese Zahlung jetzt Ende des Jahres fällig. Außerdem können Flutopfer Kredite mit günstigen Zinsen beantragen. Im besonders betroffenen Lee County wurden Renovierungsvorschriften ausgesetzt, und der Sheriff geht mit aller Strenge gegen Plünderer vor. Sie werden in den sozialen Medien mit Namen und Geburtsdatum vorgeführt und dann ins „Marceno Motel“ verbracht, wie der Sheriff Carmine Marceno sein Gefängnis nennt. Unter dem Beifall der Anwohner übrigens.

Legendär die Pressekonferenz, die Präsident Biden und DeSantis gemeinsam gaben. Während DeSantis punktiert über den Stand der Verwüstungen, die Koordination der Aufräum- und Instandsetzarbeiten sowie den Zeitplan der nächsten Wochen informierte, begann Biden plötzlich über BLM-Angelegenheiten zu sprechen. Ganz ehrlich? Das interessiert hier gerade absolut niemanden. Immerhin, Biden gestand Florida FEMA-Hilfen zu, vergleichbar mit der Soforthilfe der deutschen Regierung. Genaues verlautbart das Weiße Haus nicht, aber es soll sich um eine Zahl im zweistelligen Millionenbereich handeln (Stand 22. Oktober 2022).

Eine unglaubliche Arbeit haben die Räumkräfte geleistet, die mit ihren Trucks ebenfalls aus ganz Amerika kamen. Ich hatte das Glück, einen Moment mit Silvano aus Ohio sprechen zu können. Er arbeitet mit seinen Kollegen 7 Tage die Woche, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, um den Sperrmüll, die vollgesogenen Rigipsplatten und Küchengeräte von den Straßenrändern zu räumen, ins Landesinnere zu fahren und dort auf die Recyclinghöfe zu verteilen. Zeit, mit mir zu sprechen, hatte er nur, weil sein riesiger Truck einen Motorschaden hatte und er auf den Service wartete.

Plötzlich hörte ich hinter mir eine Klingel, ähnlich der eines Eiswagens, und als ich mich umdrehte, fragte Gladys mich aus einem Rot-Kreuz-Wagen heraus freundlich, ob ich Spaghetti oder Meatballs möchte. Ich habe nichts angenommen, schließlich habe ich ein intaktes Haus mit intakter Küche. Aber die Nachbarschaft war dankbar, aus allen Häusern kamen die Menschen. Ihre Kühlschränke und ihre Herde waren bereits entsorgt, die Häuser Baustellen, in denen Trockengeräte liefen. Da ist man für eine warme Mahlzeit mehr als dankbar. Diese Versorgung wird in allen von der Flut betroffenen Straßen garantiert.

Auch erweist sich die amerikanische Leichtbauweise mit Holzgerüst und darauf montierten Rigipswänden als hilfreich. Während sich im Ahrtal die Trocknungsarbeiten über Monate hinzogen, wurden bei meiner Freundin bereits 4 Tage nach „Ian“ die Gipsplatten auf einer Höhe von ca. einem Meter aus dem gesamten Haus herausgeschnitten. Anschließend liefen eine Woche die Trockengeräte. Letzte Woche wurden die neuen Platten installiert, gestern kam der Elektriker, legte neue Steckdosen. Nächste Woche werden die neue Küche installiert und die Schränke im Badezimmer wieder eingebaut. In zwei Wochen soll sie wieder einziehen können. Neue Möbel sind bereits bestellt. Sie gehört zu den Glücklichen, die eine Versicherung haben. Bereits nach 3 Tagen war die Schadensaufnahme, nach zwei Wochen war der Scheck über die ersten 20.000 Dollar in ihrer Post. Ein neues Auto hat sie auch bereits, sie ist mit einem blauen Auge davon gekommen.

Freunde aus Fort Myers Beach hatten weniger Glück. Sie waren zwar mit ihrem Wohnmobil an die Ostküste evakuiert, aber ein Zurück gibt es für sie vorerst nicht. Fort Myers Beach, ihre geliebte Heimat, existiert nicht mehr. Nach den Aufräumarbeiten wurde klar, wie groß das Ausmaß der Verwüstung hier ist. Nur vereinzelt steht noch ein Haus. Der Wiederaufbau wird lange dauern. Aber wie sagen die Amerikaner so schön: bigger, brighter, better.

Alle Sorgen abgenommen werden den Menschen in Florida genauso wenig wie denen im Ahrtal. Aber hier fühlen sich die Menschen wahrgenommen und unterstützt. Von allen amerikanischen Staaten. United We Stand. Europa dagegen hat im Ahrtal jämmerlich versagt. Ich erinnere mich an einen Trupp Helfer aus Polen, ansonsten …? Hier können wir uns von den Amis noch einiges abschauen.

Ihrem Govenor attestieren auch politische Gegner echte „Leadership“-Qualitäten und ansonsten sagt man sich „Every Paradise has a Snake“. Das Leben geht weiter. Spätestens wenn im Dezember die Touristen kommen, wird außer auf Fort Myers Beach kaum noch etwas von den Zerstörungen zu sehen sein. Aber ich würde Wetten annehmen, dass selbst dort eher aufgebaut sein wird als im Ahrtal.

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