Ein Frankreichurlaub ist kein schlechter Moment, ein wenig über die Zukunft Europas zu reflektieren. Das erste, was einem zumindest an den üblichen Ferienorten in den Sinn kommt, ist die unglaubliche Schönheit dieses Landes, und was für die Bretagne oder die Provence gilt, lässt sich natürlich auch von Katalonien, Bayern, Venetien, Wales oder Masuren sagen: Europa ist wunderschön. In seinen ehrwürdigen Kirchen, seinen kleinen uralten Dörfern, seinen gewachsenen Kulturlandschaften, seinen stolzen Burgen, seinen unzähligen Museen, seinen prächtigen Schlössern, seinen eleganten Metropolen – überall finden wir eine Schönheit, für die wir unserem Schicksal und unserem Schöpfer eigentlich jeden Tag auf Knien danken sollten, und die auch nur ansatzweise und nur für eine einzige Region auszuloten ein ganzes Menschenleben bei weitem übersteigen würde.
Dies ist zweifellos auch das Bild Europas, das sich nicht nur den Chinesen und Japanern bietet, die innerhalb einer kurzen Woche von Paris nach Neuschwanstein und von Venedig zum Brandenburger Tor gekarrt werden, sondern auf das sich auch die sandalenbeschuhten Baedeker-Touristen im besten Rentneralter konzentrieren: Wer über ein gut gefülltes Portemonnaie verfügt und weiß, wo man die Augen besser einen kurzen Moment verschließt, über welchen Umweg man am angenehmsten von A nach B kommt und welchen ehedem ehrwürdigen Anblick man heute besser links liegen lässt, der kann auch heute immer noch ein Europa wahrnehmen, in dem anscheinend alles zum Besten steht, jenes „beste Europa aller Zeiten“, dessen überwältigender kultureller Reichtum die Stimmen der Kritiker wie unwirkliche, ja ungerechte Mäkelei erscheinen lässt – eine Art kognitive Dissonanz, die nur Berufsempörte, Querdenker, Geschichtsverlierer und Putinisten ernstnehmen können.
Und doch – nun kommt das „aber“, auf das die Zuschauer sicher bereits seit langem gewartet haben und das natürlich von Anfang an mitschwang. Ich wäre nicht ohne Grund ich, wenn ich hinter der Schönheit nicht auch den Niedergang wahrnehmen würde – eine Fähigkeit, die manchmal ein Fluch ist, aber eben zumindest für meine Leser und Zuschauer auch ein Segen sein kann, jedenfalls hoffe ich das. Denn es ist das eine, in der Tat unfähig zu sein, das Schöne wahrzunehmen und zu würdigen, sei es aus Neid, aus Frustration oder aus pathologischer Nörgelei, das andere, aus Liebe zum Eigenen einen wachen Blick dafür zu bewahren, wo und wann es gegenzusteuern gilt, um dauerhaften Schaden zu verhindern. Und im Falle Europas ist es dafür höchste Zeit. Denn in Frankreich gärt es. Bereits in jenen kurzen Tagen, die ich in Frankreich verbracht habe, war es kaum möglich, nicht zu sehen, dass die Dinge im Argen liegen.
Paris ist eine Stadt im Belagerungszustand, wie jeder bemerkt, der Augen hat zu sehen und einen Radius von einem oder zwei Kilometer um den Louvre herum überschreitet: Nur Polizei, Geheimdienst und mittlerweile auch ausländische Sicherheitskräfte verhindern, dass die geballte Frustration der Banlieues das Zentrum in die Zange nimmt und die sorgsam geschützten Inseln des Qualitätstourismus in den ersten Arrondissements überschwemmt. Bereits die Olympischen Spiele zu bewältigen, erforderte einen Kraftaufwand, der die polizeilich-militärischen Kapazitäten des Landes schon fast überstieg, und man darf nur mit großer Furcht den Folgen der nächsten Massenunruhen entgegensehen, die so sicher sind wie das Amen in der Kirche – in Paris ebenso wie in London oder Birmingham.
Auch die Provinz ist im Aufruhr. Wer außerhalb der großen Attraktionen und fernab der Autobahnen Frankreich durchquert, sieht vor allem ein aussterbendes Land, dessen Infrastruktur im stetigen Abbau begriffen ist: Schulen, Krankenhäuser, Tankstellen, Apotheken oder Supermärkte sind immer spärlicher gesät, und die meisten kleineren, manchmal sogar größeren Verkehrswege in überaus schlechtem Zustand – Frankreich lebt von der Substanz, und ganze Landstriche liegen in jeder Hinsicht brach und warten nur auf den Eroberer. Und was für Frankreich gilt, gilt auch für die Eifel, Süditalien, große Teile Ostdeutschlands sowie Spaniens und fast den gesamten Balkan – Europa, nimmt man einige hypertrophierte Metropolgegenden aus, schrumpft und ist in eine gefährliche, aus der Perspektive der Großstädter freilich weitgehend uninteressante Abwärtsspirale eingetreten, die mit demokratischen Mitteln kaum noch umkehrbar zu sein scheint.
Kein Wunder, dass überall in Frankreich Aufruhr droht. Dass Macrons Zentrumspartei, die man zumindest kulturpolitisch de facto eigentlich eher der linken Mitte zuordnen müsste, jegliche Glaubwürdigkeit eingebüßt hat und gewissermaßen nur noch als müder Kompromiss an der Macht verbleibt, ist ein offenes Geheimnis; dass Links- wie Rechtsextreme und natürlich die Islamisten Tagesluft wittern, ebenfalls. Die wiederholte Sabotage der großen Verkehrswege durch Linksextreme ebenso wie der übliche Kulturbolschewismus der Klimabewegten in den großen Museen gehört mittlerweile zum Alltag des Landes; kaum eine Woche vergeht ohne Messermorde oder aufgedeckte Anschlagspläne der muslimischen Fundamentalisten; und auch die Rechte fühlt allmählich, dass der staatliche und mediale Repressionsapparat angesichts des sozialen Drucks von unten schwächelt, und trägt die lange angestauten Ressentiments wortwörtlich auf den Marktplatz.
Eine kleine Anekdote: Noch vorgestern wurde ich auf dem hiesigen Wochenmarkt Zeuge einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen einem älteren Wähler des Rassemblement National, der traditionelle bretonische Spitze vertrieb, und dem nepalesischen Inhaber eines kleinen Ladens mit selbst entworfener indisch inspirierter Kleidung. Der eine klagte lauthals über Überfremdung und unlautere Konkurrenz aus Billiglohnländern, der andere klagte über Alltagsrassismus und verwies darauf, dass er schon seit Jahrzehnten in Frankreich lebe, sein Geschäft von Grund auf aufgebaut habe und mit seiner als Lehrerin tätigen Frau bisher ein echtes Vermögen an Steuern nach Paris überwiesen habe – kleinteilige, aber allgegenwärtige Konflikte, deren menschliche Tragik zwar jede Einzelposition aus sich selbst heraus verständlich erscheinen lässt, die aber von der Politik immer in ihrer aggregierten Gesamtheit gesehen werden müssen.
Und hierbei wird eines klar: In ihrer Summe werden diese Konflikte kaum eine einfache, moralisch glatte Lösung finden können, sondern früher oder später, wenn die Konkurrenz um begrenzte Ressourcen und die Bewältigung der Steuerlast immer heftiger wird, fast nur noch auf brachiale Weise gelöst werden können – ob an der bretonischen Küste, im Ruhrpott oder in Südschweden.
Und natürlich ist da auch noch die Jugend. Gerade hier in Frankreich sind nicht nur die radikalen Linken sehr ausgeprägt und kontrollieren de facto Medien wie Ausbildungssystem; auch die Konservativen verfügen über einige überaus starke Jugendbewegungen, die gerade jetzt, im Sommer, überall im Land ihre Ausbildungslager organisiert haben, an denen ich wie so oft vor ein paar Tagen als Redner teilnehmen konnte. Selten habe ich so hochmotivierte wie ernsthafte und idealistische junge Menschen kennengelernt, allen voran im patriotisch-katholischen Milieu, und man darf wohl mit Fug und Recht sagen, dass Frankreich zwar bald in vielerlei Hinsicht an der Talsohle des Niedergangs angekommen ist, es aber gerade daher, ganz im Gegensatz zu vielen osteuropäischen Ländern, vor interessanten Initiativen zum Wiederaufbau nur so wimmelt.
Freilich: Die Stimmung ist auch hier bis zum Zerreißen gespannt, und der Aufruf zu Geduld, Kompromiss oder gar politischem Entgegenkommen wird schon fast als Verrat gewertet – auch hier setzen sich wie bei der Linken die Extremen durch. Stirbt einmal jene Generation der über 60-Jährigen weg, die durch ihre chronische Präferenz für die linke Mitte das gesamte Land politisch dominiert, auf tragische Weise aber irgendwie auch zusammenkettet, ist Schlimmes zu befürchten.
Wie geht es also weiter? Ich wünschte, ich könnte zum Schluss ein wenig sommerlichen Optimismus verbreiten und zum Beispiel sagen, dass der Idealismus, der fraglos sämtliche Menschen guten Willens auf allen Seiten der Front vereint, früher oder später zu einer gütlichen Einigung führen wird, dass letzten Endes alles wie üblich nur halb so wild enden wird und es ohnehin, wie meine rheinischen Nachbarn zu sagen pflegen, immer noch gut gegangen ist. Es wäre nicht nur für meine Zuhörer der versöhnlichste Ausklang, sondern auch für mich selbst. Und wer weiß, vielleicht geschieht ja auch ein Wunder und alles findet zurück zu einer gewissen Normalität.
Glauben vermag ich das allerdings in Anbetracht nicht nur des unübersehbaren inneren Niedergangs unseres Kontinents, sondern auch der allgemeinen Weltlage leider nicht, und ich denke, es ist auch Teil unserer Verantwortung als Bürger, zunächst einmal Vorsorge für das Schlimmste zu treffen, wenn wir auch das Beste erhoffen sollen. Und das Schlimmste steht in der Tat vor der Tür, sei es in der zunehmenden Verfestigung und Verhärtung eines immer dystopischeren und dysfunktionalen Herrschaftssystems, das zur eigenen Machterhaltung den Niedergang unserer Zivilisation immer weiter zementieren wird, sei es in Form der von vielen erwarteten Stellung der Machtfrage, über die viele liebgewonnene Gewohnheiten und Sicherheiten des spätbürgerlichen Zeitalters ebenfalls zerbrechen werden. Eines scheint mir jedenfalls gewiss: Wenn der Umbruch unserer europäischen Gesellschaft in einem Land beginnt, wird es in Frankreich sein.