Tichys Einblick
Gelbwesten im Wahllokal

EU-Wahl: Le Pen in Frankreich vorn – muss Europa Trauer tragen?

Marine Le Pen ist entschiedene Europa-Gegnerin - und hat Monsieur Muster-Europäer Emmanuel Macron klar abgehängt. Die Franzosen allerdings unterschieden zwischen der EU-Wahl und den nationalen Wahlen, so Kai Horstmeier.

Sylvain Lefevre/Getty Images

Dass Marine Le Pen diese Europawahl gewonnen hat, das erstaunt wohl niemanden – zu wirr trat Emmanuel Macron auf im Streit mit den Gelbwesten und den aufklaffenden sozialen Spannungen zwischen der Pariser Elite und der Bevölkerung des ländlichen Frankreich. Dabei ging es gar nicht um Le Pen, die war ja nur Aushängeschild für ihre nationalkonservative Politik. So haben mehr als 24 Prozent der identidätssuchenden Franzosen Marine gewählt. Persönlich irgendwie verloren zwischen ehemaligen Kolonien, zwischen Folter und anderen Grausamkeiten, die ihr Vater immer noch aus seiner Zeit in Algerien verteidigt hatte, steht Marine Le Pen noch immer für „Werte“, die die Franzosen so vermissen. Wie die Deutschen. Identität, was ist das denn?  Wie Helge Schneider so schön sagte: „Wer seid das Ihr?“ Und genau das ist die Frage: „, Ihr‘, oder vielmehr ‚Wir‘?“ Wer sind wir denn? Die Deutschen, die Franzosen? Ein Volk, eine Nation? Eine Glaubensgemeinschaft? Die Deutschen sind Europa, haben vielfach ihre Identität aufgegeben. Die Franzosen weniger.  Oder sind sie wenigstens  EU, Teil einer identitätslosen Verwaltungsgemeinschaft zum gegenseitigen Vorteil? Und schon befinden wir uns in der nächsten Debatte. In dieser Verunsicherung in Frankreich haben  immerhin die Grünen mit gut 12,70 Prozent für eine Überraschung gesorgt.

Europa – mehr als eine Idee

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Europa ist mehr als eine Idee, sagen die EU-Befürworter, sagt Emmanuel Macron. Europa ist für unsere Kinder die Chance, andere Menschen und Mentalitäten kennenzulernen, Europa ist ein Erasmus-Stipendium – Europa ist etwas, für das nicht nur Alcide de Gasperi, Robert Schuman, Jean Monnet und Konrad Adenauer gekämpft haben, nein, Europa ist eine Idee, eine große Idee. Eine Idee für das Füreinander, eine Idee des Friedens. So weit, so gut das tägliche Trommelfeuer der Sprüche. Warum also konnte Marine Le Pen die Europa-Frage für sich vereinnahmen und umdrehen, warum müssen sich jetzt die EU-Begeisterten erklären und rechtfertigen? Frankreich trägt drei Brandzeichen auf seiner Haut: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Kann so etwas verblassen? Wo sind sie geblieben, diese Ideale – in einem Europa, in dem andere Nationen sich nicht dafür so begeistern wie in Frankreich, das diese Ideale vor sich herträgt? Einen Teil davon haben sicherlich die „Gilets Jaunes“, die „Gelbwesten“, zurückgebracht. Ja, sie erinnern an die alten Ideale, an die Ideale der französischen Revolution. Mag sein, dass sie auch deswegen den einen oder anderen Franzosen erreichen, der ansonsten mit der Bewegung gar nicht so viel zu tun haben würde. Plötzlich entdeckt Frankreich wieder Werte, die Macron vor lauter EU verdrängt hat.

Aber Marine Le Pen? Aus dem Blickwinkel ihrer Gegner hat sie alle diese Ideale verraten. Wie kann es denn sein, dass sie in der Wählergunst so gut dasteht?  Die Antwort ist – da ist jemand noch schlimmer:  Emmanuel Macron. Denn  der schränkt  die Pressefreiheit ein, der junge Herr lässt auf sein Volk schießen, mit Kriegswaffen, die auch von den Vereinten Nationen kritisiert werden. Mehr als 20 Demonstranten haben ein Auge verloren seit dem 17. November vergangenen Jahres, fünf amputierte Hände hat der Journalist David Dufresne gezählt.  Er lässt  Journalisten vor dem Inlandsgeheimdienst „La Direction générale de la sécurité intérieure (DSGI)“ vorladen, weil sie über seinen Busenfreund und ehemaligen Leibwächter Alexandre Benalla und dessen dubiose Geschäftsverbindungen berichtet haben. Lieber Gott in  Frankreich: Das geht so nicht! Und dafür gab es jetzt – wie auch schon vor fünf Jahren – wieder einmal die Rechnung der republikanisch gesinnten Franzosen, diesmal mit der Stimme für Marine Le Pen. Es ist Protest pur, die Gelbe Weste im Wahllokal.

Macron setzt auf Gegensätze

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Macron hat aus der Europawahl eine Abstimmung zwischen Marine Le Pen, den sogenannten Nationalisten, und den sogenannten Progressisten gemacht – wie er und sein verdenkendes und sprechendes Vögelchen, Madame Nathalie Loiseau, es nennen. Seit Monaten. Seine LREM ist damit bei knappen und kargen  22,40 Prozent gelandet. Zur Erinnerung: Macron hat auch bei der Präsidentschaftswahl 2017 keine Mehrheit erhalten. Er war gerade Mal in der zweiten Wahlrunde angekommen – und das war auch schon eine Protestwahl gegen Marine Le Pen. Wie heute. Diesmal hat die Dame das Duell gewonnen.

In der ersten Runde kam Macron damals immerhin auf knapp 24 Prozent der Wählerstimmen. Mit der Steuergeldverschwendung seiner vermeintlichen „Grand Débat National“, dem sogenannten „Bürgerdialog“, der Mitte Januar begonnen hatte, und der – mehr oder weniger – im Sande verlaufen ist, und dem viele Franzosen heute nichts mehr abgewinnen können. Macron hat sich verrechnet, er hat die Franzosen nicht verstanden. Die „Gelbwesten“ zeigen jetzt das Problem: Soziale Spannungen, und Vielen gilt Europa als das Problem, nicht die Lösung. Macrons Zuspitzung des Konflikts ohne Angebot einer Lösung wirkte gegen ihn. Anschaulich. Frankreich braucht eine neue, eine sechste Republik, um die anstehenden Probleme des Landes zu lösen.  Macron hat nicht ansatzweise darüber nachgedacht – und damit den Zug in die Zukunft verpasst. Der junge Mann hat eine hervorragende Ausbildung genossen und ist doch von gestern. Dafür hat er jetzt die Quittung erhalten. Angesichts einer stark höheren Wahlbeteiligung in Frankreich als noch in den Jahren zuvor bei den Europawahlen könnte man also meinen, dass die „Gelbwesten“ durchaus zu einer Politisierung im Land beigetragen haben. Immerhin. Und der für seine Europabegeisterung in Deutschland gefeierte Macron hat die Wahl verloren. Es war Innenpolitik. wenn es wirklich um Europa geht, wird wieder neu gewählt. Noch muss Europa deshalb nicht trauern. Aber es sollte die Warnung verstehen.

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