Tichys Einblick
Nachlese zur 33. Sommerakademie von Tusványos

EU versus Orbán: Die Schlinge zieht sich zu

Jedes Jahr präsentiert Viktor Orbán auf der Sommeruniversität von Tusványos vor der ungarischen Jugend sein nächstjähriges politisches Programm und wichtige Weichenstellungen. Wird es ihm auch künftig gelingen, den sich zuziehenden Schlingen der EU und dem Schicksal Polens zu entgehen?

Copyright: Thibaud Gibelin

Das diesjährige, 33. Tusványos-Festival, an dem der Autor dieser Zeilen als Redner teilnehmen durfte, fand in einer Stimmung der Belagerung statt – zwar nicht physisch, aber doch mental. Wie jedes Jahr versammelten sich tausende junger Menschen, um miteinander zu feiern, Musik zu hören und sich politisch zu bilden – eine einzigartige Kombination zwischen ungarischer Popkultur und aktivistischer Sommeruniversität.

Trotz teils sintflutartiger Wetterstürze war die Stimmung ausgezeichnet, und die Organisation ebenso wie die Disziplin der Teilnehmer von einer Perfektion, die man in Westeuropa mittlerweile weitgehend vermisst. Der Höhepunkt: die langerwartete Sommerrede Viktor Orbáns, der sich in diesem lockeren und schon fast freundschaftlichen Rahmen immer besonders offen, aber auch kämpferisch gibt und die Weichenstellungen für das nächste Jahr erklärt.

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Für einen kämpferischen Geist gab es freilich gerade diesmal viele Ursachen: Die vielen Schlingen der EU ziehen sich allmählich immer enger um Orbáns Ungarn, nachdem sie vor nur wenigen Monaten Polen zu Fall gebracht haben. Die Ursachen sind bekannt: Orbán bekennt sich offen dazu, eine Demokratie gestalten zu wollen, die eher konservativen als linksliberalen Werten verpflichtet ist, und bemüht sich daher um so „umstrittene“ Punkte wie Grenzsicherung, Familienschutz, Migrationsbeschränkung, Volksbefragungen, Kulturchristentum, Rückdrängung pornographischer Inhalte in den Schulen, Schutz ungarischer Minderheiten im Ausland, systematische Elitenbildung oder internationale „Konnektivität“.

Besonders der letzte Punkt hat im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine das Fass der linksliberalen Eliten zum Überlaufen gebracht: Dass Ungarn nicht auf den allgemeinen antirussischen Kurs eingeschwenkt ist, sondern sich weiterhin darum bemüht, mit Putin „on speaking terms“ zu bleiben, auch weil Ungarn – eine der vielen problematischen kommunistischen Hinterlassenschaften – von russischen Öl- und Gaslieferungen abhängig ist, konnte ihm in Brüssel und Washington nicht verziehen werden.

Und in der Tat: Orbán spielt, weltpolitisch gesehen, wie damals Bismarck ein gefährliches Spiel mit fünf Kugeln, von denen immer mindestens zwei in der Luft bleiben müssen. Damals waren es die europäischen Großmächte (lange ist’s her…), heute die EU, Russland, China, die USA und die Türkei: Orbán bemüht sich um Nähe wie Distanz zu allen, sieht sich gleichzeitig als Verteidiger eines christlichen Abendlands, Partner Russlands, Freund Chinas, Unterstützer Trumps und Mitglied der „turanischen“ Sphäre – ein hochgefährliches Spiel, von dem man sich in der Tat fragen kann, wer nach Orbán noch fähig sein wird, es überhaupt fortzusetzen, falls die Kugeln nicht schon dem gegenwärtigen Premierminister auf die Füße fallen. Denn dass Ungarn ein im Weltmaßstab wirtschaftlich wie demographisch letztlich belangloser Staat ist, kann Fluch wie Segen gleichermaßen sein: Der Vorteil, für niemanden besonders bedrohlich zu sein, kann schnell zur tödlichen Schwäche werden, wenn sich kein Bündnispartner findet.

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Kein Wunder also, dass die EU in den letzten Wochen verstärkt gegen Ungarn zu Felde gezogen ist. Der neue „Rechtsstaatlichkeitsbericht“ etwa betont mehr denn je seine „Besorgnis“ über die Verhältnisse in Ungarn und übrigens diesmal auch in Italien und der Slowakei (wer hätte das gedacht!); ein Text, der sicherlich bald zur Grundlage weiterer Debatten in Kommission und Parlament werden und neue Sanktionen legitimieren könnte – bislang wurden schließlich schon insgesamt 30 Milliarden Euro Kohäsionsgelder einbehalten; ein Sechstel des ungarischen Bruttoinlandsprodukts. Ähnlich gelagert ist die provokative Aufnahme der von Péter Magyar geführten Upstart-Oppositionskraft „Respekt und Freiheit“ durch die Europäische Volkspartei, die nun mehr denn je mit allen Kräften daran arbeiten wird, Orbán zu Fall zu bringen, und dafür selbst eine rechtskonservative Rhetorik fördert.

Orbáns letzte Reise nach Russland und China hat zudem dazu geführt, dass die ewige Kommissionspräsidentin von der Leyen die europäischen Außenminister dazu aufgerufen hat, künftige Treffen mit Orbán bis auf das absolut Nötige abzusagen. Der Hintergrund: Ungarn hat gerade die turnusmäßige EU-Ratspräsidentschaft inne, was Orbán eine Reihe nicht unwichtiger administrativer Kompetenzen verschafft und natürlich seinen Bemühungen um eine Beilegung des Ukraine-Konflikts ein der EU-Kommission höchst unliebsames außenpolitisches Gewicht zukommen lässt; daher soll Orbán fortan, ginge es nach den Brüsseler Bürokraten, in den Sitzungszimmern des Ministerrats alleine einen leeren Tisch präsidieren. Und da wäre natürlich die jüngste, in den Medien noch gar nicht angemessen betrachtete Entscheidung der Ukraine, künftig den Transit russischen Öls nach Ungarn und in die Slowakei zu unterbinden – eine für das kleine und rohstoffarme Ungarn überaus diffizile Situation, zumal die in Bau befindlichen Atomkraftwerke noch lange Jahre bis zur Fertigstellung brauchen werden.

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Kein Wunder also, dass Orbán zum einen ganz besonders am Schließen der eigenen Reihen gelegen sein muss, zum anderen seine Hoffnung auf das Ausland richtet. Dem ersten dienen Initiativen wie das Tusványos-Festival oder das Elitenförderungssystem „MCC“, bei denen es darum geht, eine kompetente Jugend heranzuziehen, für die nicht Ideologie, sondern Ungarn im Zentrum der Bemühungen stehen soll, dem letzteren die Intensivierung der Beziehungen zu den amerikanischen Republikanern und europäischen Parteifreunden wie der FPÖ oder dem Rassemblement National: Sollte es gelingen, dieses Jahr Donald Trump ins Weiße Haus oder nächstes Jahr Marine Le Pen in den Elysée-Palast zu bringen, wäre ein Gutteil des Drucks auf Ungarn neutralisiert. Die neue EU-Gruppe „Patriots for Europe“ könnte Orbán endlich die lange ersehnte europäische Resonanzkammer bringen, stellt gleichzeitig aber auch eine gewisse Hypothek dar, da die Distanz von den „guten Populisten“ der EKR um die russlandskeptischen „Fratelli“ Melonis und die PiS Kaczyńskis immer deutlicher wird.

Und genau darum ging es auch dieses Jahr in Orbáns Tusványos-Rede. Es kann nicht Inhalt dieses Aufsatzes sein, die gesamte Logik der einstündigen Rede zu analysieren; wir wollen uns daher auf die bloße Widergabe einiger EU-relevanter Schlaglichter beschränken.

Orbán zufolge erlebe Europa eine globale Verschiebung wie seit 500 Jahren nicht mehr und verrenne sich in seiner blinden und irrationalen Nibelungentreue zu den US-Democrats in eine Sackgasse, wodurch es sich nicht nur außenpolitisch, sondern auch wirtschaftlich selbst entmachte und möglicherweise nach einem Wahlsieg Trumps allein und hilflos dastehen werde, zumal der Krieg sich rasch seinem Ende nähere. Die ungarische Position der Neutralität gliche daher der Einnahme der „Redpill“ im bekannten Film „Matrix“, wodurch das Land die echten globalen Machtverhältnisse endlich in voller Schärfe sehe, ohne sich ideologischen Illusionen hinzugeben.

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Aus dieser Perspektive kam Orbán nicht nur zu einer äußerst negativen Betrachtung der gegenwärtigen europäischen Eliten, deren post-nationale, anti-historische und ultra-individualistische Ideologie er in der Eröffnung der Olympischen Spiele optisch bestens versinnbildlicht sah, in der nicht mehr die menschliche Größe, sondern das Profil des „aggressiven Zwergs“ gefeiert werde; eine Apotheose der „Wokeness“, die letzten Endes nur Putin und seiner anti-woken Propaganda zugutekomme. Orbán griff auch seinen alten Verbündeten Polen an, der die Interessen der Visegrad-Staaten zugunsten der Achse mit Washington, London und Kiew aufgegeben habe, trotzdem aber weiterhin indirekt Gas aus Russland importiere.

Während Europa sich diesen selbstzerstörerischen Spielen hingebe und die patriotischen Kräfte überall, vor allem aber in Ungarn bedränge, verlagere sich das Zentrum der Weltpolitik unaufhaltsam nach Asien, in dessen Arme der Westen Russland unsinnigerweise gedrängt habe, und der Einzige, der den Westen möglicherweise noch retten könnte, sei Donald Trump, der sich gewissermaßen schon „ante portas“ befinde. Ob es möglich sei, dass Europa sich aus eigenen Kräften zu einem eigenständigen, nicht nur politischen, sondern eben auch militärischen Faktor der Weltpolitik entwickeln könne, wagte er angesichts der gegenwärtigen Situation zu bezweifeln; daher sei es dringender denn je, Ungarn sturmfest zu machen und eine große Strategie zu entwickeln, die über 2030 hinausreiche.

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Zentral sei hier allen voran der bereits erwähnte Begriff der „Konnektivität“: Ungarn müsse sowohl nach Westen als auch nach Osten schauen. Ferner betonte Orbán die zentrale Bedeutung der ungarischen Souveränität zur Festigung der durch die Covid-Pandemie, dann den Ukraine-Krieg gebeutelten ungarischen Wirtschaft: Mehr als je zuvor müsse der Staat dafür sorgen, jene Falle der Verlagerung auf den tertiären Sektor zu vermeiden, der der Westen erlegen sei, und in jedem Wirtschaftsbereich nicht nur Großbetriebe, sondern auch kleine und mittelständische Unternehmen heranwachsen lassen (deren Zahl von 2010 bis heute von 3.000 auf 15.000 angestiegen sei). Dazu gehöre auch eine weitere massive Entschuldung von 50 Prozent auf 30 Prozent, um Ungarn zu einem regionalen Kreditgeber zu machen.

Die Demographie sei als letztes großes Sorgenkind zu nennen: Bis 2035 müsse endlich eine Stabilisierung erzielt werden, zu welchem Zwecke die (bereits erhebliche) Steuererleichterung verdoppelt und eine Einwanderung autochthoner Westeuropäer nach Ungarn erleichtert werden solle; Hilfen, die in Bälde auch für die ungarischen Minderheiten im Ausland gelten würden (was sicherlich in Rumänien, der Slowakei und Serbien mit Argusaugen beobachtet werden wird).

Insgesamt also ein gewaltiges Programm, das Orbán zufolge erst in 20 bis 25 Jahren vollendet werden kann und zweifellos von innen wie von außen massiv bekämpft werden wird von jenen „selbstzufriedenen liberalen Politikern in Slim-fit-Anzügen und mit Latte, Avocado und garantiert zusatzfreier Ernährung“, über die sich der Premierminister in seiner Rede humoristisch mokierte, ohne sie darum doch zu unterschätzen. Die Zeit wird zeigen, ob es Orbán eher als Kaczyński gelingen wird, sich dem vereinten Druck Berlins, Brüssels und Washingtons entgegenzusetzen. Immerhin ist es ihm in Tusványos bereits gelungen zu beweisen, dass er die Priorität der Jugendarbeit und des Kulturkampfes vollauf begriffen hat, die beider der ehemaligen polnischen Führungsschicht leider konzeptuell unzugänglich waren.

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