Das diesjährige, 33. Tusványos-Festival, an dem der Autor dieser Zeilen als Redner teilnehmen durfte, fand in einer Stimmung der Belagerung statt – zwar nicht physisch, aber doch mental. Wie jedes Jahr versammelten sich tausende junger Menschen, um miteinander zu feiern, Musik zu hören und sich politisch zu bilden – eine einzigartige Kombination zwischen ungarischer Popkultur und aktivistischer Sommeruniversität.
Trotz teils sintflutartiger Wetterstürze war die Stimmung ausgezeichnet, und die Organisation ebenso wie die Disziplin der Teilnehmer von einer Perfektion, die man in Westeuropa mittlerweile weitgehend vermisst. Der Höhepunkt: die langerwartete Sommerrede Viktor Orbáns, der sich in diesem lockeren und schon fast freundschaftlichen Rahmen immer besonders offen, aber auch kämpferisch gibt und die Weichenstellungen für das nächste Jahr erklärt.
Besonders der letzte Punkt hat im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine das Fass der linksliberalen Eliten zum Überlaufen gebracht: Dass Ungarn nicht auf den allgemeinen antirussischen Kurs eingeschwenkt ist, sondern sich weiterhin darum bemüht, mit Putin „on speaking terms“ zu bleiben, auch weil Ungarn – eine der vielen problematischen kommunistischen Hinterlassenschaften – von russischen Öl- und Gaslieferungen abhängig ist, konnte ihm in Brüssel und Washington nicht verziehen werden.
Und in der Tat: Orbán spielt, weltpolitisch gesehen, wie damals Bismarck ein gefährliches Spiel mit fünf Kugeln, von denen immer mindestens zwei in der Luft bleiben müssen. Damals waren es die europäischen Großmächte (lange ist’s her…), heute die EU, Russland, China, die USA und die Türkei: Orbán bemüht sich um Nähe wie Distanz zu allen, sieht sich gleichzeitig als Verteidiger eines christlichen Abendlands, Partner Russlands, Freund Chinas, Unterstützer Trumps und Mitglied der „turanischen“ Sphäre – ein hochgefährliches Spiel, von dem man sich in der Tat fragen kann, wer nach Orbán noch fähig sein wird, es überhaupt fortzusetzen, falls die Kugeln nicht schon dem gegenwärtigen Premierminister auf die Füße fallen. Denn dass Ungarn ein im Weltmaßstab wirtschaftlich wie demographisch letztlich belangloser Staat ist, kann Fluch wie Segen gleichermaßen sein: Der Vorteil, für niemanden besonders bedrohlich zu sein, kann schnell zur tödlichen Schwäche werden, wenn sich kein Bündnispartner findet.
Kein Wunder also, dass die EU in den letzten Wochen verstärkt gegen Ungarn zu Felde gezogen ist. Der neue „Rechtsstaatlichkeitsbericht“ etwa betont mehr denn je seine „Besorgnis“ über die Verhältnisse in Ungarn und übrigens diesmal auch in Italien und der Slowakei (wer hätte das gedacht!); ein Text, der sicherlich bald zur Grundlage weiterer Debatten in Kommission und Parlament werden und neue Sanktionen legitimieren könnte – bislang wurden schließlich schon insgesamt 30 Milliarden Euro Kohäsionsgelder einbehalten; ein Sechstel des ungarischen Bruttoinlandsprodukts. Ähnlich gelagert ist die provokative Aufnahme der von Péter Magyar geführten Upstart-Oppositionskraft „Respekt und Freiheit“ durch die Europäische Volkspartei, die nun mehr denn je mit allen Kräften daran arbeiten wird, Orbán zu Fall zu bringen, und dafür selbst eine rechtskonservative Rhetorik fördert.
Orbáns letzte Reise nach Russland und China hat zudem dazu geführt, dass die ewige Kommissionspräsidentin von der Leyen die europäischen Außenminister dazu aufgerufen hat, künftige Treffen mit Orbán bis auf das absolut Nötige abzusagen. Der Hintergrund: Ungarn hat gerade die turnusmäßige EU-Ratspräsidentschaft inne, was Orbán eine Reihe nicht unwichtiger administrativer Kompetenzen verschafft und natürlich seinen Bemühungen um eine Beilegung des Ukraine-Konflikts ein der EU-Kommission höchst unliebsames außenpolitisches Gewicht zukommen lässt; daher soll Orbán fortan, ginge es nach den Brüsseler Bürokraten, in den Sitzungszimmern des Ministerrats alleine einen leeren Tisch präsidieren. Und da wäre natürlich die jüngste, in den Medien noch gar nicht angemessen betrachtete Entscheidung der Ukraine, künftig den Transit russischen Öls nach Ungarn und in die Slowakei zu unterbinden – eine für das kleine und rohstoffarme Ungarn überaus diffizile Situation, zumal die in Bau befindlichen Atomkraftwerke noch lange Jahre bis zur Fertigstellung brauchen werden.
Und genau darum ging es auch dieses Jahr in Orbáns Tusványos-Rede. Es kann nicht Inhalt dieses Aufsatzes sein, die gesamte Logik der einstündigen Rede zu analysieren; wir wollen uns daher auf die bloße Widergabe einiger EU-relevanter Schlaglichter beschränken.
Orbán zufolge erlebe Europa eine globale Verschiebung wie seit 500 Jahren nicht mehr und verrenne sich in seiner blinden und irrationalen Nibelungentreue zu den US-Democrats in eine Sackgasse, wodurch es sich nicht nur außenpolitisch, sondern auch wirtschaftlich selbst entmachte und möglicherweise nach einem Wahlsieg Trumps allein und hilflos dastehen werde, zumal der Krieg sich rasch seinem Ende nähere. Die ungarische Position der Neutralität gliche daher der Einnahme der „Redpill“ im bekannten Film „Matrix“, wodurch das Land die echten globalen Machtverhältnisse endlich in voller Schärfe sehe, ohne sich ideologischen Illusionen hinzugeben.
Während Europa sich diesen selbstzerstörerischen Spielen hingebe und die patriotischen Kräfte überall, vor allem aber in Ungarn bedränge, verlagere sich das Zentrum der Weltpolitik unaufhaltsam nach Asien, in dessen Arme der Westen Russland unsinnigerweise gedrängt habe, und der Einzige, der den Westen möglicherweise noch retten könnte, sei Donald Trump, der sich gewissermaßen schon „ante portas“ befinde. Ob es möglich sei, dass Europa sich aus eigenen Kräften zu einem eigenständigen, nicht nur politischen, sondern eben auch militärischen Faktor der Weltpolitik entwickeln könne, wagte er angesichts der gegenwärtigen Situation zu bezweifeln; daher sei es dringender denn je, Ungarn sturmfest zu machen und eine große Strategie zu entwickeln, die über 2030 hinausreiche.
Die Demographie sei als letztes großes Sorgenkind zu nennen: Bis 2035 müsse endlich eine Stabilisierung erzielt werden, zu welchem Zwecke die (bereits erhebliche) Steuererleichterung verdoppelt und eine Einwanderung autochthoner Westeuropäer nach Ungarn erleichtert werden solle; Hilfen, die in Bälde auch für die ungarischen Minderheiten im Ausland gelten würden (was sicherlich in Rumänien, der Slowakei und Serbien mit Argusaugen beobachtet werden wird).
Insgesamt also ein gewaltiges Programm, das Orbán zufolge erst in 20 bis 25 Jahren vollendet werden kann und zweifellos von innen wie von außen massiv bekämpft werden wird von jenen „selbstzufriedenen liberalen Politikern in Slim-fit-Anzügen und mit Latte, Avocado und garantiert zusatzfreier Ernährung“, über die sich der Premierminister in seiner Rede humoristisch mokierte, ohne sie darum doch zu unterschätzen. Die Zeit wird zeigen, ob es Orbán eher als Kaczyński gelingen wird, sich dem vereinten Druck Berlins, Brüssels und Washingtons entgegenzusetzen. Immerhin ist es ihm in Tusványos bereits gelungen zu beweisen, dass er die Priorität der Jugendarbeit und des Kulturkampfes vollauf begriffen hat, die beider der ehemaligen polnischen Führungsschicht leider konzeptuell unzugänglich waren.