Der Montag war eher ein Tag für Fortschritte hinter den Kulissen – wenn sie denn kommen. Und doch bekam man auch auf der Szene einiges zu hören und zu sehen. Nur am Ort des eigentlichen Geschehens herrschte einmal Stille, weil Recep Tayyip Erdoğan sich auf den Weg nach Brüssel machen wollte, um dort mit Charles Michel und Ursula von der Leyen zu verhandeln. Dabei hätten unschöne Bilder vom Evros sicher gestört. Dort waren deshalb nur Frauen und Kinder am Grenzzaun zu entdecken. Die griechische Reporterin gab sich freilich keinen Illusionen hin: Offenkundig wollte mal wieder ein Fernsehsender Bilder von dieser Szene machen.
Die Griechen nutzen die Pause in ihrem Abwehrkampf für anstehende Erweiterungen und Verstärkungen des Grenzzauns. In den vergangenen Tagen hatten die Leute auf der anderen Seite versucht, den griechischen Zaun mit Feuer, mit Seilen und Haken, schließlich mit einem türkischen Militärfahrzeug einzureißen. Tränengas und Wasserwerfer sind leider von vielen Demonstrationen in europäischen Hauptstädten bekannt, bilden aber in diesem Fall eine nur zu verständliche Reaktionsweise des griechischen Staates.
Pikantes Detail: Auch das türkische Militärfahrzeug, das von einer griechischen Nachtsichtkamera beim Rammen des Grenzzauns gefilmt wurde, ist höchstwahrscheinlich mit EU-Geldern angeschafft worden! Das teilte Kyriakos Mitsotakis am Montag in Berlin mit. Die Griechen können nur froh sein, in diesen Tagen einen solchen Premierminister zu haben, der nach allen Seiten hin, mit Logik und Maß seine Position zu artikulieren weiß und für die wirklichen Interessen des Landes kämpft.
Mit allen Mitteln versucht Ankara, ein neues Idomeni zu inszenieren. Nun gibt es einige Unterschiede zwischen dem spontan entstandenen Lager vom Frühjahr 2016 und der heutigen Situation. Denn das Lager im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland ist alles andere als improvisiert, vor allem nicht von den Migranten. Die Türkei hat vielmehr erst am Wochenende einige der verstreuten Zeltlager entlang der griechisch-türkischen Grenze – vermutlich mit den 1.000 Mann Bereitschaftspolizei – geräumt und die Migranten am Grenzübergang von Pazarkule–Kastanies konzentriert.
»Frauen, steigt nicht aus!«
Ein weiterer Unterschied zeigt sich, wenn man daran denkt, wie die Migranten überhaupt an die griechische Grenze gekommen sind, nämlich mit einem Shuttle-Service aus türkischen Taxis und Bussen, inzwischen auch gern mit Pferdekarren der anliegenden Bauern. Im Gegensatz zum »Flüchtlingslager« von 2016 sind viele der Migranten – vor allem wohl Frauen und Kinder – mitnichten freiwillig nach Pazarkule gekommen. Ein Video, das nun auch in untertitelter Version zu finden ist, belegt das Gemisch aus Lügen, Zwang und Gewalt, das die türkischen Offiziellen gegen die Migranten anwenden. Eine Gruppe von Migranten wird von einem Polizisten – der zudem das Emblem der ultranationalistischen Grauen Wölfe trägt – und einem Soldaten zum Aussteigen aufgefordert. Es antworten mehrere Stimmen in Arabisch, Persisch, gebrochenem Türkisch. Ein Teil des Dialogs geht, wie folgt:
– »Los, steigt aus dem Bus aus! Ihr geht auf die andere Seite.«
– »Wir können nicht … Kinder!« – »Wir steigen nicht aus!«
– »Boot, Boot! Das Militär wird euch auf die griechische Seite bringen.«
– »Wir wollen nicht, wir wollen nicht nach Griechenland!«
– »Warum seid ihr dann mitgekommen?«
– »Ungerecht! Polizei lügt.«
Dann drohen die Beamten mit Prügel und gezogenen Pistolen und treiben so die Gruppe aus dem Bus. Eine arabische Stimme beharrt bis zum Schluss darauf: »Frauen, steigt nicht aus!« Sie wirft den Beamten Grausamkeit vor. Der Polizist droht ihr erneut mit Gewalt.
Seit dem Wochenende sind anscheinend viele Migranten wieder von der griechisch-türkischen Grenze abgezogen, da sie keine Hoffnung sahen, die Grenze zu überwinden. Doch immer noch harren einige tausend Migranten im Niemandsland am Evros aus. Vielleicht rücken auch zugleich neue, willigere Truppen nach, das kann niemand so genau sagen. Täglich befragt ein Reporter des Fernsehsenders Skai junge Männer, woher sie kommen und wohin sie streben. Auf die einfache Antwort »Yunanistan« (Griechenland) hin fragt er häufig nach: und wohin von dort aus? Meist kommt dann etwas wie »Almanya« (Deutschland), obwohl da schon Zweifel in der Stimme des Afghanen zu liegen scheinen. Er sagt es ihnen auch allen: Aber die Grenzen sind doch geschlossen! Was erwartet ihr?
Irgendwann werde man die Grenzen öffnen müssen, lautet die stereotype Antwort. Man kämpft also weiter, mit Steinen, Feuer, Haken und Seilen. Mehrere griechische Regierungsmitglieder nennen das inzwischen einen »hybriden Angriff«, in dem sich reguläre und irreguläre Truppen mischen. Der Professor für Verfassungsrecht und Staatsminister ohne Portfolio Jorgos Jerapetritis sprach von einem »menschlichen Schutzschild«, der aus »geopolitischen Gründen« missbraucht wird.
Eine gemeinsame Grenze, in Frieden bewacht?
In Berlin trafen am Montag der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis und sein Wirtschaftsminister Adonis Georgiadis auf Angela Merkel und Peter Altmaier. Seit längerem hatte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ein deutsch-griechisches Wirtschaftsforum geplant. Man besprach vieles, doch das Thema der EU-Grenzen konnte nicht fehlen. »Die asymmetrische Bedrohung aus dem Osten verändert unsere Prioritäten, und die medizinische Krise kompliziert unsere Arbeit«, sagte Mitsotakis. »In den vergangenen zehn Tagen haben wir bewiesen, dass wir die nationale und europäische Souveränität verteidigen können.«
Mitsotakis hat dabei durch verschiedene Äußerungen deutlich gemacht, dass er kein Weiter-so mit dem alten Türkei-Deal akzeptieren wird. »Seien wir ehrlich, die Vereinbarung ist tot«, sagte er dem CNN-Moderator am Wochenende. Mitsotakis akzeptierte dabei keinen Vorwurf für die Aufrechterhaltung des griechischen Grenzschutzes. Es handle sich nicht mehr um ein Problem der Migration, vielmehr um einen »bewussten Versuch der Türkei, Flüchtlinge und Migranten als politische Bauern einzusetzen, um die eigenen politischen Interessen zu befördern«.
In Griechenland hat man sehr wohl bemerkt, wie sich die Bundeskanzlerin erst spät zur Lage am Evros erklärte und seitdem in jeder Wortmeldung »Verständnis« für die türkische Seite äußerte, die »eine große Last« trage. Auf dem Berliner Wirtschaftsforum fand sie nun heraus, dass auch die Griechen eine »große Verantwortung für ganz Europa« tragen und dafür Solidarität und Unterstützung verdient hätten. Merkel sprach dann freilich noch von jenen »verzweifelten Menschen« auf der »Flucht«, die auf der Suche nach Asyl seien. Am Dienstag wird Mitsotakis in Wien auf Bundeskanzler Sebastian Kurz treffen.
Man glaubt nicht, dass es passieren wird
Was aber eigentlich von Bedeutung ist: Die griechischen Bürger glauben nicht mehr an eine Umverteilung der Migranten auf die EU-Staaten, sie glauben nicht, dass das passieren wird (hier die neueste deutsche Umfrage zum Thema). Insofern gibt es nur zwei mögliche Lösungen des Problems: Entweder man richtet sich mental auf eine lange Abwehrschlacht am Evros und in der Ägäis ein oder man zahlt den Türken deutlich mehr Geld für ihre so überaus fehlbaren Dienste. Die anständige Lösung, dass sich verbündete Nachbarstaaten auf einvernehmliche Lösungen und guten Grenzschutz einigen, scheint nicht auf dem Tisch zu liegen. Oder kann man die Türkei irgendwie anders zur Selbstdisziplin anregen?
Angeblich will Erdoğan in Brüssel neue Zahlen von bis zu neun Millionen »Flüchtlingen« präsentieren, nicht nur aus der Region Idlib, sondern auch aus den anderen bekannten Herkunftsländern von Pakistan bis Somalia. Was bisher gezahlt wurde, war auf zwei Millionen von der Türkei beherbergte Syrer berechnet. Der neue Betrag müsste also entsprechend höher ausfallen.
Auf weitere Forderungen Erdoğans wies nun eine griechische Ex-Ministerin mit ernster Miene hin, vor allem ist da die Visafreiheit für Türken in der EU. Allerdings habe Erdoğan seinerseits, so die Konservative Marietta Giannakou, die Visumspflicht für muslimisch geprägte Länder von Marokko bis Afghanistan aufgehoben, um sich symbolisch an deren Spitze zu stellen. Doch diese Politik der offenen Grenzen fällt der Türkei gerade auf die Füße: den Migranten der Türkei fehlen wirtschaftliche Perspektiven, Rechte und Respekt.
»Bereit für jedes Szenario«
Noch am Montagmorgen hatte Kyriakos Mitsotakis gesagt, wie er seine Rolle und die Rolle Griechenlands derzeit sieht: »Es ist meine Pflicht, die Grenzen des Landes zu schützen, mit oder ohne die Hilfe Europas, mit oder ohne eine Vereinbarung mit der Türkei. Wir sind bereit für jedes Szenario. Wir werden niemanden provozieren, aber auch nicht zurückweichen, sondern solange aushalten, wie es nötig ist.«
Immerhin hat Erdoğan nun die Überfahrten in der Ägäis gestoppt, vielleicht ja wegen der 32 Millionen, die die Bundesregierung in diesen Tagen nach Ankara überwiesen hat. In den Pressemitteilungen der Bundesregierung wurden die Gelder exakt der türkischen Küstenwache gewidmet. Auch SPD-Außenminister Heiko Maas hat verstanden und lehnt zwar zusätzliche Finanzhilfen strikt ab – aber »wenn der Bedarf größer geworden ist«, könne man über eine beschleunigte Auszahlung von schon zugesagten Summen durchaus reden. Der türkische Präsident weiß schon, wie er seine Erpressungsversuche mit Verhandlungsbereitschaft bemäntelt. Aber eine Atempause für die Griechen darf es wohl sein.
Auch ohne neue Ankünfte bleibt die Situation auf den Nordägäis-Inseln, namentlich auf der Hauptinsel Lesbos, gefährlich und geradezu explosiv. Bilder des europäischen Nachrichtensenders »Euronews« von letzter Woche zeigen die eskalierenden Zustände auf der Ägäis-Insel. Dutzende Migranten zelten im Hafen der Hauptstadt Mytilini, in Erwartung eines Schiffs, das sie aufs Festland bringen soll. Derartige Gerüchte machen offenbar immer wieder die Runde in den Lagern. Als die Migranten zur Hafenmole vordringen wollen, wird ein massiver Polizeieinsatz nötig. Auch an dieser Stelle haben es die Sicherheitskräfte also nicht leicht. Kein Wunder, dass die Zivilbevölkerung gelegentlich zur Selbsthilfe greift, auch wenn der griechische Staat das natürlich nicht gutheißen kann – zumal wenn die Selbsthilfe in gewaltvolle Selbstverteidigung umschlägt.
Journalisten und NGOs wollen das zu spüren bekommen haben. Auf Lesbos brannte am Samstagabend ein Gemeinschaftszentrum nieder, das die Schweizer Organisation »One Happy Family« betrieb. Ob es sich um Brandstiftung handelt, ist noch unklar. Straßenkämpfe entbrennen indes vor allem zwischen linken Griechen – auch sie eher nicht von den Inseln selbst – und einzelnen Identitären, die aus dem europäischen Ausland angereist sind, wie das Insel-Portal »Sto nisi« berichtet. Die Insulaner selbst, die man kaum zu Ideologen stempeln kann, diskutieren durchaus kritisch, welchen Weg sie in der derzeitigen schwierigen Lage gehen wollen. Überwiegend bleibt aber das Bedürfnis nach Schutz vor den gravierenden Auswirkungen der Massenmigration, die ebenso sozialer wie kultureller und ökonomischer Natur sind.
Am Weltfrauentag wurden Frauen vom Evros gefragt, wie sie die Lage sehen. Kyriaki, die Söhne und Enkel bei der Armee hat, meint: »Bislang hatten wir kein Problem mit den Migranten, aber so viele können wir nicht aushalten.« Eine andere sagt: »Schön sind die großen Worte, aber wir brauchen wirkliche Hilfe aus Europa. Was täten wir heute ohne den Zaun?« Am Evros sei man eben immer auch Soldat, seit Generationen. »Wir Frauen und Kinder verlassen die Grenzregion nicht. Wir bleiben bis zum letzten Moment hier«, sagte eine dritte.