Ob die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft ihre Vision in der heutigen Europäischen Union wiedererkennen würden? Frieden und Wohlstand durch Kooperation gleichberechtigter Staaten, das war einst der Plan. Mittlerweile dominiert statt Frieden kriegerische Rethorik und Wohlstand soll ausdrücklich geopfert werden, um der Ukraine – kein EU-Mitglied – in ihrem Überlebenskrieg gegen die russischen Invasoren zum Sieg zu verhelfen.
Freiwillige Kooperation, garantiert durch das Vetorecht eines jeden Mitgliedstaates im Europäischen Rat sowie durch eine turnusmässig rotierende EU-Präsidentschaft, wird inzwischen nur noch als störend empfunden. Immer mehr geht der Trend zu politischen Zwangsmitteln, nicht zuletzt weil man statt dezentrale Kooperation souveräner Staaten ein europäisches Machtzentrum will: Nach dem Willen der deutschen Regierung ausdrücklich einen europäischen Bundesstaat.
Gern wird gesagt, dass die Utopie eines solchen Bundestaates als Fernziel auch zur Vision der Gründungsväter gehörte. Aber wenn man genau hinsieht, verfolgten die geistigen Paten der EU – die Franzosen Robert Schuhmann und Jean Monnet – eher eine nationalstaatliche, französische Grossmachtlogik. Ihnen ging es darum, Frankreichs Wirtschaftsleistung zu maximieren, die deutsche Konkurrenz zu minimieren, den alten Rivalen England draußen zu halten, Deutschland in Strukturen zu binden, die eine eigene Machtpolitik unmöglich machten – und natürlich sollte ein von Frankreich dominiertes Europa auch Russland die Stirn bieten können.
Zwar stand von anfang an bereits in den Römischen Verträgen der Grundsatz einer „immer engeren” Zusammenarbeit. Es hiess dort aber auch, dass dies nur über ein „einverständliches Vorgehen” zu erreichen sei. Und dass die Grundlage des ganzen Unterfangens „gemeinsame Interessen” seien.
Von „gemeinsamen Interessen” als Grundlage der europäischen Integration zu sprechen, ist heute fast tabu. Stattdessen ist fast ausschliesslich die Rede von „gemeinsamen Werten”. Logisch: Interessen diverser Länder sind nie deckungsgleich, irgendwann stösst man auf Interessenkonflikte, und das setzt dem Konzept der „immer engeren” Zusammenarbeit natürliche Grenzen auf. Auch EU-Politiker wissen, was Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán einmal sagte: Jede politische Transformation verletzt irgendjemandes Interessen, löst also Widerstand aus. Damit die erwünschte Transformation gelingt, muss dieser Widerstand gebrochen werden.
Das ist es, was die EU seit einigen Jahren versucht: Den Widerstand Ungarns und Polens zu brechen. Genauer gesagt, es versuchen dies zentrale Akteure in der EU, die ein europäisches, geopolitisches Machtzentrum wollen: Deutschland, Frankreich, überzeugte Eurokraten sowie Politiker, deren Karrieren von ihren Brüsseler Posten abhängen: Die Europa-Parlamentarier.
Das neueste Kapitel in diesem machtpolitischen Beinebrechen ist eine Resolution des EU-Parlaments vom 1. Juni, in dem die EU-Kommission aufgefordert wird, die ungarische Ratspräsidentschaft 2024 – nun ja, nicht zu verhindern, das steht da nicht ausdrücklich, aber Punkt 11. der Resolution stellt die Frage, wie Ungarn, das doch die EU-Grundwerte verletze, glaubwürdig die EU-Geschäfte leiten soll. Etwas drohend wird die Kommission aufgefordert, eine „Lösung für dieses Problem” zu finden. Sonst behalte das Parlament es sich vor, selbst eine Lösung zu finden.
https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2023-0257_EN.html
Ausdrücklich hat die deutsche Regierung diesen Vorstoss unterstützt.
Zwar kennt die EU keine Regel, die ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, eine turnusmässige Ratspräsidentschaft zu verhindern. Zwar ist Ungarn weder im Rahmen des Art. 7-Verfahrens, noch vom Europäischen Gerichtshof rechtskräftig nachgewiesen worden, dass es tatsächlich „Grundwerte systematisch verletzt”. Es gilt in dieser Debatte um „Rechtsstaatlichkeit” eine bedenkliche Umkehr der Unschuldsvermutung: Im Zweifel gegen den Angeklagten.
Das Argument des Parlaments, demzufolge das laufende Art. 7-Verfahren gegen Ungarn, sowie die vorläufige Suspendierung vieler EU-Mittel für das Land dessen Ratspräsidentschaft unmöglich machen, hat ebenfalls keine Grundlage im europäischen Regelwerk. Und das Europaparlament selbst hat keinerlei Kompetenz, die es ihm erlauben würde „selbst eine Lösung” zu finden. Insofern scheint es auf den ersten Blick unwahrscheinlich, dass Ungarn tatsächlich um die Ratspräsidentschaft gebracht werden kann.
Aber Eurokraten sind findig.
Die wahre Bedeutung der Resolution liegt in dem, was sie nicht enthält.
Zunächst einmal ist nicht von Polen die Rede, aber natürlich wird auch Polen um seine turnusmässige Ratspräsidentschaft gebracht werden, wenn es im Falle Ungarns gelingt.
Zweitens ist die Abwesenheit einer Rechtsgrundlage nicht unbedingt ein Hindernis für gewiefte Europapolitiker. Auch der neue Rechtstaatlichkeitsmechanismus ist eine frische Erfindung, und obwohl er ursprünglich nicht als Bedingung für die Zuteilung der Covid-Gelder gedacht war, wurde er in der Praxis dennoch ruckzuck darauf angewendet.
Die schlaue „Lösung” im Hinterkopf der Parlamentarier liegt in einem „Kommentar” des sogenannten „Meijers-Komitees” versteckt. Das ist ein ständiger Expertenausschuss zu Fragen von Migration und Flüchtlingsrecht. Hier ist der Kommentar.
Darin wird die Option erwogen, dass Spanien und/oder Belgien, also die beiden Länder, die vor Ungarn die Ratspräsidentschaft führen, signalisieren könnten, dass sie ihre eigene Ratspräsidentschaft nicht verantwortungsbewusst erfüllen können, wenn danach Ungarn übernimmt. Problem: Ungarn müsste bei einem solchen Szenario selbst auf die Präsidentschaft verzichten. Spanien und Belgien könnten sich dann, mit Ungarns Einwilligung, dessen Präsidentschaft hälftig teilen.
Zweite Option: Wenn Ungarn nicht einwilligt, käme es härter: Spanien und Belgien (oder auch, vorausschauend, Schweden, das die Ratspräsidentschaft derzeit ausübt) könnten den Europäischen Rat auffordern, die Abfolge der turnusmässigen Präsidentschaften zu ändern.
Das alles hilft nicht wirklich zuverlässig, und so führt der Expertenkommentar als extreme Lösung den Vorschlag an, der Rat möge mit qualifitierter Mehrheit eine Ratsentscheidung von 2009 ändern, in der es um die Funktionsweise der Ratspräsidentschaft geht.
Moment! – wird Ungarn dann rufen. Solche Ratsentscheidungen erfordern Einstimmigkeit. Ja, aber – so dürften dann die schlauen Eurokraten erwidern – die Entscheidung von 2009 erfolgte ja einstimmig. Deren Modifizierung hinsichtlich der Implementation bedarf nur noch einer qualifizierten Mehrheit.
Wie gesagt: Nichts ist mehr wie es einmal war in dieser EU, was gestern noch klare Regel schien, kann morgen schon von umtriebigen Juristen ins Gewgenteil verkehrt werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Land über die Hintertür ausgetrickst wird.
Dabei geht verloren, worum es in der „alten” EU immer vor allem ging: Gegenseitiges Vertrauen, das Gefühl, zu einander zu gehören. Die frühere EU, in der es um freiwillige Kooperation im Europäischen Rat ging, gehört zunehmend der Vergangenheit an. Die Zukunft gehört dem immer selbstbewusster lärmenden und spaltenden Europaparlament, in dem Mitgliedländer routinemässig erniedrigt, beleidigt und nach Möglichkeit hintergangen werden.
Dabei mag am Ende eine zentralere europäische Machtstruktur entstehen. Aber der emotionale Zusammenhalt, der seelische Kitt, der Europas Gesellschaften zusammenhält, geht dabei verloren.