Das Sagen in Sachen Außenpolitik hat der Palast. Die Außenpolitik des Königreichs Marokko ist das Vorrecht des Souveräns, also von König Mohammed VI. Auch die konservativ-islamische und nationalistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die seit 2021 die Mehrheit im Parlament verlor, aber in Sachen Israel eine deutlich kritischere Meinung als der Palast vertritt, musste dieses Verdikt hinnehmen. Aber auch der aktuelle Premier Aziz Akhannouch, Erbe des großen Öl-Gas-Mischkonzerns Akwa Group (ehemals Groupe Afriquia), hat sich aus der marokkanischen Außenpolitik herauszuhalten.
In der zweiten Resolution vom 16. Februar fordern die Parlamentarier, dass die gegen Katar ergriffenen Maßnahmen und Verschärfungen auch für Marokko gelten müssten. Demnach müssten Einreisegenehmigungen für Vertreter Marokkos ausgesetzt werden, Visaliberalisierungen zurückgenommen und offizielle Besuche erst gar nicht unternommen werden.
Schock, Wut und Verrat in der S&D-Fraktion
Reisen nach Katar – waren sie angemeldet oder nicht, gesponsert oder nicht? – gehören zu den informellen Anklagepunkten, die nun untersucht werden müssen, um das ganze Ausmaß der Affäre aufzudecken. Nach all dem sieht es aber im Fall Marokko nicht aus. Hier verläuft sich die Affäre schon wieder fleißig im Sand.
Wie sich herausstellte, pflegten einige sozialdemokratische Abgeordnete, auch die, die anfangs sehr unschuldig taten, enge Beziehungen zu den „edlen Spendern“ aus dem Emirat. In der S&D-Fraktion ist, wie Politico berichtet, ein Klima des Misstrauens, ausgebrochen: Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Davon kann der weitere Verlauf des Skandals und der Berichterstattung darüber beeinflusst werden.
Eigentlich hatten sich die EU-Sozialdemokraten darauf gefreut, mit Olaf Scholz und der Finnin Sanna Marin im Rücken einen kämpferischen Wahlkampf zu führen, nun stecken sie in einer inneren Krise. Die SPD-Abgeordnete Gabriele Bischoff bestätigt, es sei nicht leicht, sich an so eine Krise anzupassen: „Man hat einigen dieser Leute vertraut.“ Gemeint sein könnten damit nicht nur die Vizepräsidentin Eva Kaili vom griechischen Pasok-Kinal, sondern auch die Abgeordneten Maria Arena und Marc Tarabella, beide Mitglieder des belgischen Parti Socialiste.
Das EU-Parlament insgesamt gab sich nun neue Regeln, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet: Ganze sechs Monate sollen Ex-Abgeordnete warten, bis sie offiziell in den Lobbyistenstand übergehen und sich auch offiziell mit ihren Ex-Kollegen im Parlament treffen können (die sogenannte „Abkühlperiode“). Außerdem sollen sie dabei Tagesausweise beantragen, statt mit Hausausweisen auch unbeachtet Eingang zu finden. Dass das irgendeine Korruption verhindern würde, davon ist nicht auszugehen. Es sind eher kosmetische Änderungen, wie selbst Insider meinen.
Panzeris lange Freundschaft mit Marokko
Für das Königreich Marokko kam der Skandal besonders ungelegen. Denn eigentlich hatte sich zuletzt eine Aufheiterung im Verhältnis zur EU angekündigt, das lange durch das erpresserische Gebaren des Maghreb-Staates in Sachen illegale Migration belastet war. Noch im Dezember lockerte die französische Regierung deshalb ihre Visabedingungen für Marokko. Da war der Name des Landes aber schon in einem der Haftbefehle gefallen, mit denen die mutmaßlichen Profiteure von Korruption und Einflussnahme festgenommen wurden.
Im Laufe der Ermittlungen erwies sich, dass Pier Antonio Panzeri – der vermutliche Kopf der Bande – schon in seiner Zeit als EU-Abgeordneter marokkanische Anliegen unterstützt hatte, unter anderem auch die Bereitstellung von Kommissionsgeldern für das Königreich (schon 2010). Auch in den folgenden Jahren bekleidete Panzeri offizielle Posten, so saß er laut Politico von 2011 bis 2019 zusammen mit dem marokkanischen Botschafter in Polen, Abderrahim Atmoun, dem gemeinsamen EU-Marokko-Parlamentskomitee vor.
2014 erhielt Panzeri dann den höchsten marokkanischen Orden „Ouissam Alaouite“ (dritter Klasse) für seine Verdienste um Marokko. Und noch im September 2022 reisten vier EU-Abgeordnete auf Kosten des marokkanischen Parlaments in das umstrittene Gebiet Westsahara, das Marokko gerne definitiv annektieren würde. Der Sahara Press Service sieht folglich in der gesamten Affäre dunkle Machenschaften der Marokkaner, die hoffen, die Sahraouis (die Einheimischen der Westsahara) mit Hilfe von EU-Abgeordneten noch besser ausplündern zu können.
Marokko – Pfeiler der Stabilität für die Wirtschaftsautobahn der EU?
Aber es geht nicht nur um die EU oder Spanien, das besondere Interessen in Nordafrika hat. Der ehemalige EU-Erweiterungsbeauftragte, der Brite Michael Leigh, stellt fest, dass auch Emmanuel Macron das Königreich Marokko mit Glacé-Handschuhen anfasst, um den Druck aus dem Themenkomplex Migration und marokkanische Gemeinschaft in Frankreich herauszunehmen: Diese „Realpolitik“ Macrons senke das Risiko auf Null, dass „die mutmaßliche Rolle Marokkos bei der Bestechung von Mitgliedern des Europäischen Parlaments einen Schatten auf die bilateralen Beziehungen wirft“. Kurz gesagt: Da, wo der Skandal einem Realpolitiker wie Macron nicht nützt, wird er schlichtweg ignoriert.
Das macht aber alles nichts, denn Marokko ist in Afrika – vermutlich so ähnlich wie Katar am Persischen Gold – ein „Pfeiler der Stabilität“, also etwas, worauf man sich partout stützen will, eine Partnerschaft von „extremer Wichtigkeit“, so Varhélyi in Rabat. Das Land bewege sich angeblich stürmisch auf „europäische Werte“ zu, die freilich kaum jemand im alltäglichen Politikbetrieb definieren muss, um den Ausdruck zu benutzen. 500 Millionen Euro (5,5 Milliarden Dirham) sind die Kooperationsprogramme wert, die die EU mit Marokko nun beginnen will – nach dem Bestechungsskandal im EU-Parlament.
Marokko: Land der Berufszeugen, ISIS-Zellen und gut motivierten Terroristen
Natürlich gibt es auch dafür Gründe – zum Beispiel, wie schon bemerkt, die Bedeutung des Landes beim Thema Migration. Daneben ist die außenpolitische Prärogative des Königs nützlich, wo man einen weiteren Partner für Israel sicherstellen will. Es ist bekannt: Despotien haben praktische Seiten, da wird es auf etwas Pressefreiheit mehr oder weniger nicht ankommen. Marokko, so ein Experte, sei ein „Hafen des Friedens und der Stabilität“ und spiele als solcher eine Schlüsselrolle für EU-Investitionen in Afrika, die in nächster Zeit (noch bis 2027) von einem 300-Milliarden-Euro-Programm namens „Global Gateway“ profitieren sollen, mit dem man in Brüssel versucht, der neuen Seidenstraße der Chinesen Konkurrenz zu machen. Damit will man sich die Chance erdienen, die EU zu einem „geopolitischen Player“ zu machen, so der ständige Vertreter Deutschlands bei der EU, Michael Clauß. In Nordafrika spielt man allerdings eher noch in der Defensive, übrigens trifft das auch für Marokko zu, dass durchaus nicht glücklich ist über den wachsenden Zustrom an Subsahara-Migranten.
Übrigens ist Marokko auch das Land der gekauften „Berufszeugen“, in dem erst kürzlich wieder eine ISIS-Zelle ausgehoben wurde und aus dem gut motivierte Terroristen auch in Frankfurt stammen. Davon weiß sogar die Maghreb-Post.
Den Defensivstatus der Europäer belegt dabei auch der Marokko-Besuch einer anderen EU-Größe, die aber durchaus selbständig agiert. Ende Februar war auch der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer in Rabat zu Besuch. Er setzt damit seine umsichtig geplanten und veröffentlichten Schritte fort, die einen Wiener Kampf gegen die illegale Migration nahelegen sollen. Gibt es den wirklich? Im Fall des Migrations- und Mobilitäts-Abkommens mit Indien vom Anfang des Jahres regten sich Zweifel. Wie viele der 18.000 indischen Asylbewerber von 2022 waren denn überhaupt noch im Alpenland? Waren sie nicht praktisch alle (bis auf ein paar hundert) weiter ans Mittelmeer, nach Frankreich, Italien und Spanien gezogen, um sich dort als Erntehelfer zu verdingen? Wanderarbeiter-Abkommen dieser Länder mit Indien wären in diesem Fall hilfreicher, um den Schleppern auf dem Balkan den Zustrom abzugraben, als Abkommen mit Indien. Der Mobilitätspakt dürfte also eher neue legale Wege nach Österreich öffnen.
In seinem „Kanzlerwort“-Newsletter rühmt sich Nehammer noch weiterer Initiativen zum Grenzschutz auf der Balkanroute. Dazu gehört die Vereinbarung mit Serbien, dass Indern und Tunesiern die visumsfreie Einreise wieder entzogen würden. Daneben hat sich Österreich eng mit Ungarn verbündet, dem es beim Grenzschutz an der EU-Außengrenze im Rahmen der „Operation Fox“ mit Grenzbeamten aushilft. Noch so ein Tropfen auf den heißen Stein, womit nicht gesagt sein soll, dass er falsch ist.
Für die EU ergeben sich neue Möglichkeiten legaler Zuwanderung
Nun war der österreichische Kanzler als einer der ersten EU-Regierungschefs in Rabat, um eine neue Ära der Zusammenarbeit zwischen Marokko und der EU und insbesondere Österreich einzuleiten. Die marokkanischen Asylanträge in Österreich hatten in den letzten Monaten – nach einer ähnlichen Hausse der tunesischen und indischen – stark zugenommen. Nach den Verhandlungen in Rabat schrieb Nehammer Anfang März: „Marokkanische Staatsbürger ohne gültigen Asylbescheid“ sollen künftig „schneller rückgeführt werden“, sie könnten dann „schnell abgeschoben werden“.
Und was hat die EU dazu zu sagen? Die Sprecherin von Innenkommissarin Ylva Johansson, Anitta Hipper, sagte es im Nachgang der Nehammer-Reise so: „Marokko ist ein strategischer Partner, und wir arbeiten sehr eng beim Migrationsmanagement zusammen.“ Man strebt offenbar eine sogenannte Migrationszusammenarbeit mit Rabat (und anderen Drittländern) an: „Die Verringerung von irregulärer Migration durch verbesserte Rückführungen kann den Weg für mehr legale Migration ebnen.“ Hier sollen „Fachkräftepartnerschaften“ helfen, neben Marokko vielleicht auch mit Tunesien, Ägypten, Bangladesch oder Pakistan, so die Wiener Kronenzeitung. So könnten die Aktivitäten der linken EU-Hand das Ziel von Nehammers „rechter Hand“ am Ende wieder zunichtemachen.