Was erlaubt sich Ylva Johansson? Am Mittwoch sprach die EU-Innenkommissarin mit dem Brüsseler Online-Magazin Politico und teilte mit, dass sie ein Ferngespräch mit Suella Braverman geführt habe – kurz vor der Vorstellung eines neuen britischen Gesetzes zur illegalen Migration im Unterhaus. Der britischen Innenministerin hat Johansson mitgeteilt, dass deren bevorstehender Gesetzentwurf vermutlich internationales Recht verletzen werde.
Ein Sprecher Bravermans wies darauf hin, dass das Gespräch vor der Veröffentlichung des Entwurfs und vor Bravermans Rede im Unterhaus stattfand. Auch deshalb habe Braverman Johansson darum gebeten, zunächst die Details des Gesetzentwurfs zur Kenntnis zu nehmen. Doch der Zeitpunkt des Anrufs zeigt es deutlich: Johanssons Meinung zur Londoner Asylpolitik scheint vor und abseits der Sache festzustehen. Gegenüber Politico führt sie aus, dass das UK „ein sehr, sehr langsames Asylverfahrenssystem“ besitze und besteht darauf, dass alle Ankommenden ein Recht auf eine individuelle Prüfung ihres Falls hätten.
Ganze 71.081 Ausreisen Richtung englische Kanalküste zählte die EU-Grenzschutzagentur Frontex im vergangenen Jahr, was einem deutlichen Anstieg von 37 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Die EU entledigt sich so eines beachtlichen Teils der illegalen Migranten, die sie zuvor über Mittelmeer und Balkan hineinließ. Und die Frage bleibt aus britischer Sicht bestehen: Ist der Block, ist Frankreich, sind die Strände von Calais oder Dünkirchen (in Belgien) etwa kein sicherer Platz für Schutzsuchende? Welche Art von Kettenmigration favorisiert diese EU-Führung sowohl für ihre Mitglieder als auch für Außenstehende wie das UK?
London will das System der Vordrängler abschaffen
Suella Braverman setzte Johanssons Grenzüberschreitung (im wahrsten Sinn des Wortes) eine harte Antwort entgegen: „Wir sind nicht mehr Mitglied der Europäischen Union und können daher unsere Grenzen und unsere Migrationspolitik selbst bestimmen, und wir glauben, dass unsere Maßnahmen rechtmäßig, angemessen, notwendig, mitfühlend und fair sind, und deshalb machen wir damit weiter.“ In zwei Jahren habe sich die Zahl der illegalen Überfahrten in kleinen Booten versechsfacht. In der Tat weisen die Graphen, die das Innenministerium dazu liefert, steil nach oben. Seit 2014 flossen mindestens 232 Millionen Pfund (etwa 260 Millionen Euro) an Frankreich für besseren Grenzschutz.
Eine charakteristische Beschreibung der Regierung bei der Erklärung ihres Vorhabens ist: die, die sich in der Schlange vordrängeln, „those jumping the queue“. Und das steht in der Tat im Zentrum des britischen Gesetzentwurfes: „Fairness“ für Menschen, die wirklich eine Zuflucht vor politischer Verfolgung in Großbritannien suchen, aber unter den herrschenden Zuständen eines von unberechtigten Antragstellern überlasteten Asylsystems eine viel zu geringe Chance darauf haben.
So erklärte auch Premierminister Rishi Sunak durch einen Sprecher, dass er sich „gegenüber der britischen Öffentlichkeit verpflichtet [habe], die Boote zu stoppen, die Menschenleben gefährden und die Taschen skrupelloser krimineller Banden füllen“. Gleichzeitig würden so „Menschen, die wirklich unsere Hilfe brauchen“, benachteiligt. Und das sei „einfach nicht fair, also müssen wir den Anreiz beseitigen, sich vorzudrängeln, indem wir illegal hierher kommen und die Boote stoppen. Das ist es, was wir zu tun beabsichtigen“.
Junktim zwischen innerem Scheitern und äußerer Bockigkeit
Auch die britische Seite spricht aber vorerst nur von einer Reduktion der „untragbaren“ Zahlen und der Intensivierung der französischen Grenzpatrouillen. Dafür scheint sich Macron auch weiterhin erhebliche Tributzahlungen aus London zu wünschen. Tatsächlich wird auch deshalb keine schnelle Einigung mit Macron erwartet, weil sie gar nicht in seiner Macht liegen soll. Es könne nur eine gemeinsame Übereinkunft mit der EU geben, wie man auch in London zu wissen glaubt.
Doch ein EU-Diplomat sagte der Times noch etwas anderes: „Warum sollte Macron die Rückführungen aus Brexit-Britannien akzeptieren, solange sich andere Länder wie Italien nicht an die europäischen Regeln halten? Das wird nicht passieren.“ Das ist nun allerdings eine klassische EU-Logik: Weil wir es nicht schaffen, gemeinsame Regeln für alle Mitglieder unseres Blocks einzuführen, halten wir uns auch nach außen nicht an vernünftige Grundsätze und lassen keine Abweichung von unserer Route zu. Das Junktim zwischen innerem Scheitern und äußerer Bockigkeit hat beinahe schon Originalitätswert. Die Worte des „EU-Diplomaten“ klingen ziemlich französisch, ein Französisch allerdings, das eher in Brüssel als auf den Straßen von Paris oder Marseille verstanden werden dürfte.