Tichys Einblick
Eva Kaili

EU-Korruptionsskandal: „Denen in Brüssel“ glaubt man nicht

Kurz nach Ostern wurde die frühere Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Eva Kaili, aus der Untersuchungshaft entlassen. Überwacht von einer elektronischen Fußfessel wartet sie nun auf ihren Korruptionsprozess. Der EU hat sie einen unermesslichen Vertrauensschaden zugefügt.

Eva Kaili, Straßburg, 05.04.2022

IMAGO / Panama Pictures

Wenn sich die Bürger im aktuellen Deutschlandtrend nur mit der Arbeit eines Spitzenpolitikers (Verteidigungsminister Boris Pistorius) überwiegend zufrieden zeigen und sich beim Bundeskanzler 58 Prozent der Befragten als unzufrieden und nur 37 Prozent als mehr oder weniger zufrieden zeigen, dann haben wir es wohl mit einer tiefgreifenden politisch-kulturellen Krise zu tun.

Die Leute stört, dass fast überall gestritten wird, auch da, wo die Dinge eigentlich klar liegen: bei den Migrationsthemen, bei der Wahlrechtsreform, beim Autobahnbau, bei klimaneutralen Kraftstoffen, beim Atomausstieg, der Weiterbildung, Kindergrundsicherung, dem Bürgergeld, der Wohngeldreform, dem Tankrabatt, dem massiven Ausbau des Bundeskanzleramts, dem Ausbau der Bundeswehr, der Zukunft der Landwirtschaft. Es gibt keine wirklich klaren Auskünfte, keine präzisen dauerhaft gültigen Entscheidungen.

Die Parteien verlieren sich im wolkigen Ungefähr. Sachliche Debatte: Fehlanzeige. Stattdessen mediale Inszenierungen mit Dramen-Qualität. Die Nachtsitzung des Koalitionsausschusses Ende März, die dann sogar noch vertagt werden musste, war der bisherige Höhepunkt. Beziehungskrise statt Zeitenwende, Problemlösungsverschiebung statt des vom Bürger erwarteten zupackenden Handelns.

Ein Störgefühl erfasst den Bürger aber nicht nur beim Blick auf das Treiben in Berlin. Auch in Brüssel ist in jüngster Zeit viel Vertrauen zerstört worden. Die Europäische Union (EU) ist zum Ort der Korruption verkommen. Korruption bedeutet Vertrauensverlust, und jedes komplexe System – so auch die EU – lebt vom Vertrauensvorschuss. Ist der weg, haben die Bürger kein Zutrauen in die Institution mehr.

Wird Vertrauen vernichtet, dann ist auf nichts mehr Verlass. Ohne Vertrauen wird dem sozialen Leben der Sauerstoff entzogen

Die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, zog deshalb kürzlich völlig zu Recht eine traurige Bilanz: „Das ganze Vertrauen, das wir in 20 Jahren Arbeit aufgebaut haben, wurde in ein paar Tagen zerstört.“ Was sie in diesen dürren Worten zusammenfasste, war die Entdeckung von mit insgesamt 1,5 Millionen Euro gefüllten Taschen bei der ehemaligen Vizepräsidentin des Parlaments Eva Kaili. Diese hatte die griechische Sozialdemokratin mutmaßlich vom Emirat Katar für eine katarfreundliche Beeinflussung der EU-Politik bekommen – Korruption in Reinkultur. Nach vier Monaten Untersuchungshaft wurde Kaili wie zuvor schon ihre vier Mitbeschuldigten – darunter ihr Lebensgefährte – in den mit einer elektronischen Fußfessel überwachten Hausarrest entlassen. Nun wartet man auf die Anklageerhebung.

Zunächst hatte man es sich relativ einfach gemacht und darauf verwiesen, dass die Korruptionsvorgänge in sozialdemokratischen Büros aufgedeckt wurden. Der Vorgang wurde auf ein sozialdemokratisches Phänomen reduziert. Dann aber wurde eine Razzia in der Brüsseler Zentrale der Europäischen Volkspartei (EVP) durchgeführt, und man fand etliche weitere Beweise, die auf eine weiter verbreitete Anfälligkeit der EU-Parlamentarier für Zuwendungen schließen lassen.

Dabei muss man sehen: Die EU verfügt durchaus über eine ganze Reihe von Instrumenten zur Korruptionsbekämpfung, die aber offenbar die großen Korruptionsskandale aktueller Art nicht verhindern konnten. Die EUKommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete die Korruptionsskandale als „unendlich schmerzhaft“ und forderte, jetzt müsse das Vertrauen der europäischen Bürger zurückgewonnen werden. Man fragt sich allerdings, wie das gelingen soll.

Die in einer ersten Reaktion des Europäischen Parlaments angekündigte Verschärfung der bisher existierenden Regeln wird wohl nicht reichen – zumal die eingeleiteten Beschränkungen für den Umgang mit Lobbyisten am Kaili-Problem völlig vorbeigehen. Demnach sollen ehemalige EU-Abgeordnete, die nach Ende ihres Mandats Lobbyisten geworden sind, sechs Monate warten müssen, bis sie sich mit ihren früheren Kollegen in den Gebäuden des Parlaments treffen dürfen. In Brüssel nennt man dies „Abkühlperiode“. Damit stellt man nicht nur alle ehemaligen Politiker unter Generalverdacht, sondern verschlechtert im Zweifel auch die Qualität der politischen Entscheidungen, weil nicht mehr auf externen Sachverstand zurückgegriffen wird.

Diese Gruppe soll statt eines dauerhaften Hausausweises – wie andere Besucher auch – jeweils einen Tagesausweis beantragen, was die Transparenz der Interaktionen erhöhen soll. Dies zeigt allenfalls eine gewisse Naivität – als ob unlautere Einflussnahme vom Betreten des Gebäudes abhängig sei.

Was sich mit dem Fall Kaili indes gezeigt hat, ist, dass das „Europäische Amt für Betrugsbekämpfung“ offen- sichtlich ein zahnloser Tiger ist. Und auch das 2014 für alle EU-Institutionen eingerichtete Transparenzregister – meist als ‚Lobbyregister‘ bezeichnet – scheint seinen Zweck nicht ganz zu erfüllen. Derzeit sind dort knapp 14.000 Akteure verzeichnet, aber niemand scheint ihnen auf die Finger zu sehen.

Das Europäische Parlament kündigte nun ein Reformpaket mit 14 Punkten zur Korruptionsprävention an. Dem- nach sollen Abgeordnete zwei Jahre nach ihrer Arbeit im Parlament keine Lobbyarbeit machen dürfen. Zukünftig sollen alle Treffen von Abgeordneten mit externen Personen dokumentiert werden. Generell müssten dann Ab- geordnete ihre finanziellen Interessen, Geschenke und Reisen detaillierter verzeichnen lassen. Zusätzlich soll ein Ethikgremium eingerichtet werden.

Der Handlungsdruck ist sehr groß. Denn der schwere Vertrauensschaden muss reduziert werden, wenn die Handlungsfähigkeit gesichert werden soll. Wir wissen: Die besten Regeln helfen nichts, wenn es an wirksamer Kontrolle und Aufsicht fehlt. Die EU muss alles dafür tun, Vertrauen wiederherzustellen.

Dabei erschwert der Kontext, in dem der Betrug am europäischen Bürger stattgefunden hat, die Sache erheblich: Die Welt ist aus den Fugen geraten, Kriegsbilder gehören zum Alltag. Die weltpolitische Architektur hat ihre Kalkulierbarkeit verloren. Die Suche nach einer Antwortstrategie bleibt offenbar erfolglos. Und die Sehnsucht nach einem orientierenden Entwurf, das Verlangen nach strategischer Rationalität für die politische Konfliktregelung wird immer dramatischer spürbar.

Vertrauen ist der Anfang von allem

Der 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann, einer der Klassiker der Systemtheorie des 20. Jahrhunderts, macht uns in seinem wichtigen Buch „Vertrauen“ klar, welch ein immenser gesellschaftlicher Verlust in dem Phänomen der Vertrauensvernichtung wie etwa bei der europäischen Korruptionsaffäre festzustellen ist: „Vertrauen reduziert soziale Komplexität dadurch, dass es vorhandene Informationen überzieht und Verhaltenserwartungen generalisiert, indem es fehlende Informationen durch eine intern garantierte Sicherheit ersetzt. … Vertrauen ist nicht das einzige Fundament der Welt, aber eine sehr komplexe und doch strukturierte Weltvorstellung ist ohne eine ziemlich komplexe Gesellschaft und diese ohne Vertrauen nicht zu konstituieren“.

Kein Wunder, dass die Deutsche Bank in den 1990ern ihren Werbeslogan daran orientierte: „Vertrauen ist der Anfang von allem“. Vertrauen bündelt Informationen, die wir ansonsten nicht verlässlich erhalten würden. Wird dieses Vertrauen vernichtet, dann ist auch auf nichts mehr Verlass. So geht es nun der EU. Die arbeitsteilige Welt lebt vom Vertrauen in die Kompetenz des anderen. In Europa wächst dagegen das Misstrauen. So wird unserem sozialen Leben der Sauerstoff entzogen.

Anzeige
Die mobile Version verlassen