Im EU-Haushaltsstreit zeigte sich Polen bis zuletzt „unnachgiebig“. Dies lesen wir zumindest aktuell in den meisten deutschsprachigen Zeitungen. Tatsächlich hatte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vor der gestrigen Übereinkunft in einigen Gastbeiträgen sein „Nein“ zu den Vorschlägen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft noch einmal nachdrücklich betont. Der geplante Mechanismus, die Auszahlung von EU-Geldern mit nebulösen rechtsstaatlichen Vorstellungen zu verknüpfen, eröffne „Tür und Tor für gefährliche Interpretationen“, schreibt der Regierungschef im „Handelsblatt“. Es ist nur fraglich, ob man sich hierzulande überhaupt mit der Argumentation des polnischen Premiers vertraut gemacht hat, wenn dieser bereits in der Bildunterschrift als „national-populistisch“ bezeichnet wird. Solcherlei Attribute ermuntern bisweilen zum raschen Überblättern.
In der Diskussion über die ungerechte Behandlung Polens und Ungarns ging es ja nicht einmal nur um die EU-Verträge. In einem anderen Gastbeitrag (diesmal für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“) hat der polnische Regierungschef treffend angedeutet, dass eigentlich andere europäische Länder etwas auf ihrem „rechtsstaatlichen“ Kerbholz haben. Und damit war nicht unweigerlich Belarus gemeint. Spitzenpolitiker dürfen vermutlich solch brisante Themen nicht weiter ausführen, doch glücklicherweise gehört die publizistische Zunft nicht dem diplomatischen Corps an. Die ganze Diskussion ist nämlich nicht ganz frei von Heuchelei.
Als Morawiecki und Orbán zuletzt im EU-Haushaltsstreit ihr Veto ankündigten, überlegte wiederum Ministerpräsident Mark Rutte ganz öffentlich und ungeniert, ob man vielleicht auch ohne die „trotzigen“ Polen und Ungarn über den Aufbaufonds abstimmen könne. Bereits vor einigen Monaten sann der Premier aus Den Haag darüber nach, ob sich künftig eine Europäische Union ohne die neuen ostmitteleuropäischen Staaten vorstellen ließe, da man auf dem Brüsseler Parkett wohl auch künftig weiterhin mit Blockaden und Hindernissen rechnen müsse. Auch nach der gestrigen Beilegung des monatelangen Streits ist eigentlich nur einer immer noch unzufrieden: Mark Rutte. Nun gehören die Niederlande in unserer Gemeinschaft zu den Nettozahlern und haben durchaus das Recht, bestimmte Ansprüche an eine gerechte Verteilung der EU-Gelder in Europa zu stellen. Aber wirklich auch an „Rechtsstaatliches”?
Aus einer Studie der OECD geht hervor, dass jedes Jahr mehr als 90 Milliarden Dollar an Konzerngewinnen über niederländische Konten geschleust werden. Davon profitieren besonders US-amerikanische Konzerne, doch die anderen EU-Staaten (darunter Polen und Ungarn) erleiden dadurch finanzielle Verluste in dreistelliger Milliardenhöhe. Jegliche Reformversuche der Regierung Ruttes schlugen bislang fehl. Warum nur? Welche „Hindernisse“ in der EU gibt es sonst noch aus dem Weg zu räumen?
Angesichts der ernsten Bedenken über die Achtung der rechtsstaatlichen Situation in den Niederlanden müssten Mitgliedsstaaten wie Polen oder Ungarn eigentlich Ansprüche auf milliardenhohe Ausgleichzahlungen anmelden. Eigentlich. Denn in der aktuellen Lage bleiben den Regierungen in Warschau und Budapest augenscheinlich nur die in den EU-Verträgen gesetzlich festgelegten Spielräume, die sie gewiss nicht umgehen werden. Die polnische Regierungspartei Solidarna Polska, ein Koalitionspartner der PiS, prüft derzeit die Anforderungen für ein Artikel-7-Verfahren gegen die Niederlande. Die Aussicht auf Erfolg ist erwartungsgemäß gering, denn in Den Haag, Brüssel, Straßburg und Luxemburg werden alle „demokratischen“ Hebel in Bewegung gesetzt, um ein solches Szenario abzuwenden.