Tichys Einblick
EVP in bequemer Mittelposition

EU: Dreier-Koalition einigt sich auf Tableau – Deals mit Meloni allenfalls im Geheimen

Die informelle EU-Dreier-Koalition hat ihren Hinterzimmerdeal wasserfest gemacht. Von der Leyen, Costa und Kallas sollen es werden, Metsola in der Hinterhand. Meloni und Orbán polemisieren aus Rom. Die Stunde des Parlaments kommt, dann könnte von der Leyen Meloni wieder brauchen.

Ursula von der Leyen und Antonio Costa am 26.10.23 in Brüssel

picture alliance / Hans Lucas | Union Europeenne

Es ist dabei geblieben: Eine eigentlich nicht existierende Koalition dreier „Parteifamilien“ auf EU-Ebene will die wichtigsten Posten der EU unter sich verteilen, ohne Einmischung anderer. Wie dpa und andere Medien melden, haben sich Unterhändler von Europäischer Volkspartei (EVP), Sozialisten & Demokraten (S&D) und Renew Europe (RE) informell auf ein Personalpaket für die drei Spitzenposten geeinigt. Es hat sich also das fortgesetzt, was Giorgia Meloni scharf kritisiert hatte und was auch der inzwischen nach Rom geeilte Viktor Orbán beklagt: „Drei Parteien haben eine Mehrheit gebildet und agieren wie eine Regierung, mit einer Mehrheit und einer Opposition. Ursprünglich war Europa nicht so: Es basierte auf der Beteiligung aller, der Großen und der Kleinen, nicht auf Ausschlüssen. Das können wir als Ungarn nicht akzeptieren.“ Das – also den Ausschluss bestimmter Parteien und Fraktionen, aber sogar ganzer Länder, wo sie von einem „EU-Outlaw“ wie Orbán vertreten werden.

Der Einbeziehung aller Fraktionen steht, wie bekannt, die von den Sozialdemokraten errichtete Brandmauer „gegen rechts“ entgegen. Die EVP dürfe nicht „mit Rechten“ zusammenarbeiten, sonst müsse sie auf die Stimmen der Sozialdemokraten verzichten, hatte auch Kanzler Scholz versichert. Dieser Schachzug drückt die Grünen in die informelle Kommissionsmehrheit hinein, sobald mehr Stimmen benötigt werden, als die schwarz-rot-gelbe EU-Koalition sicherstellen kann.

Nun werden aber die Grünen zunehmend zum „Kassengift“ an den Wahlurnen und sind folglich bei Mitte-rechts-Politikern nicht mehr so sehr als passender Partner verbucht. Dieser Prozess der Entgrünung des politischen Mainstreams ist noch keineswegs abgeschlossen. Er kann nur zunehmen, wenn man sich die Inkompatibilität der Partei mit der Realität ansieht.

EVP setzt sich ins gemachte Nest

Die EU-Sozialisten waren sich offenbar einig, dass der umgängliche, linientreue António Costa – trotz noch nicht entkräfteter Korruptionsvorwürfe – die richtige Wahl für die Michel-Nachfolge ist. In der FAZ heißt es dazu schmallippig: „Der Sozialist António Costa soll die Mehrheitsverhältnisse berücksichtigen, wenn er die Ratsagenda festlegt. Seine Amtszeit wird aber nicht von vornherein beschnitten.“ Mehrheitsverhältnisse berücksichtigen? Welch unsozialistische Angewohnheit! Zum anderen hat die EVP an dieser Stelle zurückgesteckt, indem sie nicht mehr auf der Abberufung Costas nach zweieinhalb Jahren bestand. Das war als Forderung so etwas wie der Fehdehandschuh an die zweitplazierten Sozialdemokraten. Nun soll Costa also für fünf Jahre bleiben, das könnte uns immerhin die erfolglose SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley an der Spitze des Parlaments ersparen.

Man muss es der EVP lassen: Sie präsentiert sich aktuell anschlussfähig für linke wie auch rechte Parteien, nimmt damit eine ziemlich geschickte Positionierung im neuen Parteiensystem der EU vor. Das gilt auch für von der Leyen persönlich, die sich damit in einer guten Position befindet, um ihren Job trotz anhaltender Skandale zu behalten. Der Flirt mit den EKR nützt hier zumindest, um ein Druckmittel gegen die Koalitionspartner (S&D und Renew) zu haben. Ganz nach dem Motto: Wir haben da auch noch Freunde jenseits eurer Vorstellungskraft; vielleicht finden wir doch einen günstigen Kompromiss?

Derweil gehen die Urteile über von der Leyen scharf auseinander. Von Mette Frederiksen wird der Satz überliefert, UvdL habe einen großartigen Job gemacht (wohl gemeint: bei der Vertretung der EU in der Welt). Ihr Vorgänger als Kommissionschef Romano Prodi meint hingegen, sie sei nur die „Buchhalterin der EU-Regierungen“: Von der Leyen tue, was die Mitgliedsländer ihr sagen und habe „keine Autorität bei der Auswahl der Kommissare“. War das je anders? Prodi muss es offenbar wissen.

Sechs Männer für den gender-korrekten Deal

Zugleich geraten die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament immer stärker ins Wanken. Am letzten Freitag erklärte der Parteichef der tschechischen „Aktion unzufriedener Bürger 2011“ (ANO), Ex-Premierminister Andrej Babiš, den Austritt seiner Parlamentarier aus der quasi-liberalen Renew-Fraktion, in der noch immer die dezimierten Macronisten dominieren. „Renew Europe“ (in Anlehnung an Macrons Renaissance so genannt) hat damit nur noch 74 Abgeordnete und ist eindeutig hinter die Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) zurückgefallen. Der Grund für Babiš’ Austritt war aber der: „Wir sind bei den Wahlen angetreten, um die illegale Migration zu bekämpfen und den Green Deal zu ändern, der unsere europäische Industrie und Landwirtschaft zerstört und negative Auswirkungen auf unsere Bürger hat.“ Babiš sieht die Zukunft seiner Partei offenbar außerhalb der „Kommissions-Koalition“.

Damit hat die informelle „Koalition“ von EVP, Sozialdemokraten und Renew noch immer eine Mehrheit, rund 400 Stimmen von 720. Aber im EU-Parlament gibt es keine Fraktionsdisziplin im Sinne nationaler Parlamente. Zehn bis 15 Prozent Schwund könnten da schnell geschehen, und dann wäre die Mehrheit schon dahin. Die Zustimmung für die beiden EU-Präsidenten und die Außenbeauftragte bleibt also ungewiss. Und die Abstimmung über die Postenbesetzungen ist immerhin geheim, lässt also auch Raum für unsichtbare Deals und Verweigerungen hinter verschlossenem Vorhang. Spätestens bei den Abstimmungen Mitte Juli könnten von der Leyen & Co. die Stimmen der EKR wieder brauchen – allerdings nur hinter vorgehaltener Hand.

Natürlich gibt es gar kein Privileg dreier Parteienfamilien, die Geschicke der EU zu leiten, auch wenn sich die Verhandlungen um die Top-Posten in den letzten Tagen so ausnahmen. Sechs weiße Männer – Mitsotakis und Tusk für die EVP, Scholz und Sánchez für die S&D, Macron und Rutte für Renew – handelten den schon gender-hyperkorrekten Deal UvdL–Costa–Kallas aus. Das weibliche Übergewicht an der EU-Spitze wird noch verstärkt durch Roberta Metsola als Parlamentspräsidentin, aber darüber bestimmt das Parlament formal autonom.

Fast jeder andere Kandidat wäre besser gewesen

In Rom fanden sich, oberflächlich betrachtet, zwei ein, die bei dem Deal übergangen wurden. Die Berichte gehen dabei ziemlich auseinander in der Frage, ob zumindest die beiden Regierungschefs sich ganz einig waren oder nicht. La Repubblica machte eine „Uneinigkeit in allen Punkten“ aus, namentlich beim leidigen Thema Ukraine, bei dem Ungarn aber zuletzt keine Beschlussfassungen verhindert hatte. Aber eine Uneinigkeit „in allem“, wie die linke Zeitung meint, ist das nicht. Orbáns Fidesz-Partei wird offenbar nicht in Bälde den EKR beitreten, aber das ändert nichts daran, dass Meloni und er sich in den meisten Fragen durchaus einig waren.

Zunächst ist da natürlich der nun fortgesetzte Hinterzimmer-Deal, über den sich Meloni schon zu Beginn der Woche empört hatte. Wie eine abgestandene Suppe war er ihr bei einem informellen Arbeitsessen vorgesetzt worden. Meloni stellte die angeblich schon beschlossene Verteilung der drei bis vier wichtigsten Spitzenämter der EU wieder in Frage. „Vorgefertigte Vereinbarungen“ seien abzulehnen.

Laut La Stampa zog Meloni Mette Frederiksen als Ratspräsidentin einem António Costa vor, und das ist angesichts der Korruptionsvorwürfe, die auf dem Portugiesen lasten, und der realistischeren Position, die die Dänin zum Thema Migration einnimmt, verständlich. Auch die nordischen EU-Länder (also Dänemark, Schweden und Finnland) hatten eine Nominierung Frederiksens aus ähnlichen Gründen ins Spiel gebracht. Aber das ist nun alles Schnee von gestern: Frederiksen soll es wohl nicht werden.

Auch den italienischen Sozialdemokraten Enrico Letta hätte Meloni angeblich als Michel-Nachfolger akzeptiert, meint La Stampa. Aber es scheint nicht, dass die „Koalition“ von Costa abrücken wird, der den drei EU-Parteien doch so gut passte. Ähnlich wie im Fall von der Leyen wäre fast jeder andere Kandidat besser.

Orbán: Neuen Ansatz Italiens weiterverfolgen

Und noch mehr wusste La Stampa: Angeblich will Manfred Weber der Bekämpfung der illegalen Migration Vorrang einräumen. Alle künftigen EU-Spitzen müssten diese „roten Linien“ der EVP folgen, sie „verkörpern“. Tatsächlich hat Weber so etwas gesagt. Aber war es genau das?

Meloni und Orbán zeigten ihrerseits weitgehende – und altbekannte – Einigkeit beim Umgang mit „Migrationsströmen“ und bei der „demographischen Herausforderung“. Meloni benannte das Problem konkret als den Geburtenrückgang, der heute den gesamten Kontinent Europa betreffe: „Keine europäische Nation erreicht die Erhaltungsrate, also die Mindestzahl an Kindern pro Frau, die die Kontinuität der Bevölkerung gewährleistet.“ Wird die ungarische Ratspräsidentschaft auch zu diesem Thema wichtige und wahrnehmbare Vorschläge machen?

In Sachen Migration stimmte Orbán zu, den „neuen europäischen Ansatz“ weiterverfolgen zu wollen, der sich auch dank Italien in den vergangenen Monaten entwickelt habe. Die vier Pfeiler des italienischen Ansatzes seien der „Schutz der europäischen Grenzen“, die „Bekämpfung der illegalen Masseneinwanderung“ ebenso wie der Schlepper. Schließlich „ein neues Modell der Zusammenarbeit zum Nutzen aller“, womit vor allem die nordafrikanischen Transitstaaten gemeint sein dürften.

Für den italienischen Ansatz steht laut Orbán auch die Vereinbarung mit Albanien, die von einer Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten in einem Brief begrüßt worden sei. Der Brief von 15 EU-Regierungen – darunter Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Malta, die Niederlande, Österreich, Polen, Tschechien, Rumänien, Zypern – ging an die aktuelle Innenkommissarin Ylva Johansson, die darin zu „neuen Lösungen im Umgang mit irregulärer Migration in Europa“ aufgefordert wurde.

Was Weber fordert, dafür soll Ungarn Strafe zahlen

Auch der EVP-Vorsitzende Manfred Weber hat nun auf X eine Position skizziert, die sich ziemlich nach dem „italienischen Ansatz“ anhört: Weber verlangt da „ein klares Bekenntnis zur Bekämpfung der illegalen Migration“ (von seiner eigenen Partei?), „Stärkung des EU-Außengrenzschutzes, Kooperation mit den Herkunftsländern und einen neuen Mittelmeerpakt“ – von freilich unklarem Gehalt. „Illegale Migranten“ müssten „bereits an der Außengrenze gestoppt und zurückgeführt werden“. Das ist scheinbar die klarste Position in dem Tweet, und doch ist auch hier klar, dass Weber nicht alle illegal Einreisenden meinen kann. Oder möchte er dann doch das Asylrecht abschaffen? Man fragt sich nur, auf welche Wahl Weber hier hintextet.

Allerdings wurde Ungarn gerade wegen einer solchen Politik vom EuGH mit einem Zwangsgeld von 200 Millionen Euro plus eine Million Euro pro Tag belegt. Das sind die bestehenden inneren Widersprüche des EU-Projekts, die auch auf dem kommenden Gipfel wieder zum Tragen kommen werden. Zwischen dem Aufbruch zu neuen Anfängen und dem Festhalten am Bestehenden

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