Tichys Einblick
POLNISCHE JUSTIZREFORM

EU-Debatte über Polen – endloses Tadeln und semantisches Chaos

Polens Premier Mateusz Morawiecki hat vor einigen Wochen vor einem „Dritten Weltkrieg“ gewarnt, den Brüssel lostreten möchte. Es ist ein sehr publizistischer Begriff, jedoch keineswegs ein intellektueller Lapsus. Die Konstruktionsfehler der EU bedürfen offenbar einer historisch aufgeladenen Sprache. Ansonsten werden sie überhört.

IMAGO/NurPhoto

Man könnte eigentlich annehmen, dass einer EU-Kommissarin der Inhalt eines EU-Grundlagenvertrags vertraut sein müsste. Der tschechischen Politikerin Věra Jourová, die in Brüssel seit 2019 für „Werte und Transparenz“ zuständig ist und sich dort vorher mit „Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung“ befasste, wird der Satz zugeschrieben, sie sei durch den Kommunismus im eigenen Lande historisch „sensibilisiert“ worden. Sie habe die Diktatur am eigenen Leib erfahren und verfüge daher über ein sicheres Gespür für „Paradoxa sowie Ungereimtheiten“ in den heutigen parlamentarischen Demokratien. Deshalb seien beide Ämter auf sie persönlich zugeschnitten.

Darf man ihre Worte für bare Münze nehmen? Wohl kaum. Mit politischen Nebelkerzen und der Schlagkraft emotionsgeladener Formulierungen verteidigt Jourová heute die Wertmuster und Handlungsmaximen jener Machthaber, gegen die sie einst opponierte. Im Gespräch mit einer Gruppe polnischer Journalisten machte sie unlängst jedenfalls nicht den Eindruck, dass sie von ihrem festgefahrenen Argumentationsgerüst abweichen würde. Kaum sind die fiesen Gerüchte über die „unmenschliche“ polnische Asylpolitik verstummt, lesen wir nun wieder den nächsten Abschnitt des Fortsetzungsromans „Rechtsstaat unter Druck. Polen und die Rolle der EU“.

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Mit einem effektvollen Paukenschlag hat jüngst die EU-Kommission erneut Sanktionen in Richtung Warschau angekündigt. Sofern die Disziplinarkammer am Obersten Gericht nicht abgeschafft werde, müsse Polen mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen. Oder etwas freundlicher ausgedrückt – mit finanziellen Sanktionen. Somit würden erst einmal keine Mittel aus dem EU-Aufbaufonds gen Osten fließen. Lässt sich aus polnischer Sicht der Streit mit Brüssel noch beilegen? Nein, natürlich nicht.

Denn auch, wenn Ministerpräsident Mateusz Morawiecki schon morgen in Straßburg das vorläufige Ende der polnischen Justizreform verkündete, würde der Druck auf Warschau kaum abnehmen. Denn es geht hier längst nicht mehr um die Justizreform. Nach dem Regierungsantritt der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Herbst 2015 war die Disziplinarkammer noch gar nicht installiert und schon wurden in Brüssel, Strasburg und Luxemburg in vorauseilender Panik die schwersten Geschütze aufgefahren. Die unbegründete Kritik an der polnischen Asylpolitik im Zusammenhang mit der von Minsk aus gesteuerten Migrationskrise belegt doch nur, dass die Justizreform stets nur eine von vielen Angriffsflächen war. Man mag dies in Anführungszeichen setzen oder nicht, aber es geht hier schlichtweg darum, eine Regierung zu stürzen. Um eine politische Amokfahrt, die aus Sicht der Brüsseler Beamtenschaft kein zufriedenstellendes Ende nehmen wird, solange in Polen die Konservativen an den Schalthebeln sitzen. Ob Kohlekraftwerk oder Abtreibungsrecht, Medien oder Frauenrechte, Justiz oder Wirtschaft – morgen und übermorgen werden den juristischen Heckenschützen in Luxemburg die nächsten Munitionen geliefert.

Zu den Werten der christlichen Ideengeber unserer europäischen Gemeinschaft gehörte einst der unanfechtbare Grundsatz, dass die Entscheidungsträger in Brüssel oder Luxemburg zu keinem Zeitpunkt in die nationale Rechtsprechung eines souveränen Mitgliedstaates eingreifen durften. Věra Jourová behauptet, ihre kritische Meinung über den aktuellen polnischen Justizminister Zbigniew Ziobro werde von einigen „überaus angesehenen polnischen Richtern“ (sic!) geteilt. Zudem habe ein polnischer Rechtsexperte aus Australien behauptet, die von der PiS angestoßene Reform sei „undemokratisch“. Dies reiche wohl aus, um eine Lawine loszutreten und die Maßnahmen der polnischen Regierung a priori als „undemokratisch“ herabzustufen. Keiner hat nachgeschaut, wer vor 2015 in den Gerichten saß und teilweise immer noch sitzt. Niemand weiß, dass der „Rechtsprofessor“ aus Sydney längst als Tusk-Vertrauter entlarvt wurde und heute der oppositionellen Linken applaudiert. Außerdem sollte man einmal die Disproportionen zwischen den in Luxemburg vorgebrachten Vorwürfen und dem tatsächlichen Charakter der Reformprojekte der PiS betrachten. Wenn diese nämlich abgeschlossen sind, wird das polnische Gerichtswesen weitaus demokratischer sein als in anderen EU-Ländern.

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Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, dass im polnischen Justizwesen eigentlich erst jetzt – 32 Jahre nach dem politischen Umbruch – einschneidende Veränderungen vorgenommen werden, die bereits 1989 notwendig gewesen wären. Noch heute finden wir auf vergilbten Titelseiten der New York Times oder Le Monde ein Foto vom berühmten Runden Tisch, der von einigen unverbesserlichen Marxisten immer noch als Sinnbild der „samtenen Revolution“ bemüht wird. Tatsächlich erzeugten die Aufnahmen aus Warschau damals so etwas wie Aufbruchstimmung. Was aber erst später ersichtlich wurde: Hinter der trügerischen Fassade einer „friedlichen Revolution“ kam es zu einem Schulterschluss kommunistischer Machthaber wie Wojciech Jaruzelski (verantwortlich für das Kriegsrecht von 1981) und vermeintlichen Demokraten wie Adam Michnik, die die Machtbefugnisse unter sich aufteilten.

Kurzum: Nicht nur, dass die Kommunisten ihrer Macht nicht entledigt wurden, sie konnten sie darüber hinaus noch im freien Polen entfalten, besonders im Justizwesen. Als im Juni 1992 eine konservative Regierung versucht hatte, die Mitläufer und Profiteure des totalitären Systems zur Verantwortung zu ziehen, wurde sie über Nacht gestürzt, übrigens mit tatkräftiger Beteiligung des künftigen Premiers und EU-Ratspräsidenten Donald Tusk. Der Wyborcza-Herausgeber Michnik, damals längst schon ein enger Freund des postkommunistischen Staatschefs Aleksander Kwaśniewski, fauchte die konservativen „Ruhestörer“ an: „Pfoten weg vom General!“ Er meinte damit Jaruzelski.

In den frühen Neunzigern hat in Polen also etwas stattgefunden, was wir heute mit dem Begriff „Cancel Culture“ versehen würden. Hier wurden bestimmte Exklusionsverfahren in Gang gesetzt, mit dem Argument: „Lasst die Kommunisten in Ruhe, der Krieg ist doch schon vorbei.“ Was Michnik und seine medialen Gefolgsleute offenkundig nicht begriffen (bzw. absichtlich verschleierten), war die Tatsache, dass man keinen Krieg mehr führen musste, um einige PZPR-Bonzen zu entmachten.

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Wie auch immer: Die notwendigen Reformversuche blieben jedenfalls aus. Manche dubiosen Personen, die gegenwärtig in den westlichen Tageszeitungen als engagierte PiS-Kritiker auftreten, haben in den dunkelsten Jahren Solidarność-Anhänger verurteilt und Täter aus der polnischen Milicja entlastet. Es ist freilich eine traurige Ironie der Geschichte: Als Premier Morawiecki zuletzt das polnische „Nein“ zum EuGH-Urteil verteidigte, wurde die Situation im EU-Parlament immer wirscher. In Erscheinung traten ebenfalls einige polnische linke Parlamentarier, darunter die ehemaligen Regierungschefs aus dem sogenannten „Linksbündnis“: Włodzimierz Cimoszewicz, Leszek Miller und Marek Belka. Alle drei haben das totalitäre System gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen und wagten es dennoch, in Straßburg den antikommunistischen Widerstandskämpfer und Vertreter einer frei gewählten polnischen Regierung über rechtsstaatliche Angelegenheiten zu belehren.

Es gibt aber noch ganz tagesaktuelle, prosaische Gründe für die gesellschaftliche Befürwortung der Justizreform, wie beispielsweise die im Richterstand verbreitete, ungeahndete Korruption. Es wird oft vergessen, dass sich 70 bis 80 Prozent der polnischen Bürger einschneidende Veränderungen in der polnischen Gerichtsbarkeit wünschen. Die Gerichtsverfahren verlaufen schleppend, die Urteile seien intransparent. Vor 2015 gab es in diesem Bereich einen drastischen Rückgang demokratischer Standards, die erst jetzt mühsam wiederhergestellt werden. Zudem wurde die aktuelle Regierung mehrfach in demokratischen Wahlen im Amt bestätigt. Die Justizreform wurde im Wahlprogramm angekündigt, gleichfalls bei der zweiten siegreichen Wahl im Jahr 2019. Indessen versuchen die regierungskritischen Medien den Eindruck zu erwecken, die PiS verfüge über keine Mehrheiten. Das Koalitionsgefüge sei „brüchig“ geworden und es wird ja ohnehin jeden Monat eine neue Regierungskrise ausgemacht.

Dabei ist die Partei von Jarosław Kaczyński nach rund sechs Jahren immer noch sattelfest beim Ritt über die zu beherrschenden Politikfelder. Seit 2015 behauptet Donald Tusk, der ein Bündnis mit der postkommunistischen Linken eingegangen ist, dass sein Widersacher dem Untergang geweiht sei. Auf der letzten PO-Kundgebung in Warschau waren einige Tausend Menschen zugegen. Vermutlich haben die restlichen Millionen Polen ihre Züge verpasst.

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In einem Interview mit der „Financial Times“ hat Premier Morawiecki zuletzt vor einem „Dritten Weltkrieg“ gewarnt, den die EU vom Zaun breche. Es war ein sehr publizistischer Begriff, aber kein intellektueller Lapsus. Der polnische Regierungschef hatte ihn bewusst gewählt, um hervorzuheben, dass die polnische Justizreform vor allem auch in Deutschland widerrechtlich angegriffen wird. In der britischen Tageszeitung weist er nicht unzutreffend auf bestimmte Konstruktionsfehler der EU hin. Der PiS-Politiker betont zurecht, dass im Hinblick auf Polen mit zweierlei Maß gemessen wird.

Die polnischen Richter werden von einem Landesjustizrat gewählt, deren Auslese wird von Juristen getroffen, die keiner politischen Partei angehören, während einige Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe bis heute ihre Parteiausweise nicht abgegeben haben. In Polen wäre so etwas undenkbar. Über die Unbefangenheit deutscher Richter wird hierzulande in diesen Tagen viel diskutiert. Auch deutsche Publizisten verweisen darauf, dass die personellen Auswahlverfahren im Gerichtswesen alles andere als unpolitisch sind.

Das letzte Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist in der EU kein Präzedenzfall. Die Richter in Warschau stellten lediglich fest, dass nationales Recht über dem europäischen stünde, nicht zuletzt und vor allem im Justizwesen. Die Richter in Karlsruhe haben im Mai 2020 festgestellt, dass die Europäische Zentralbank mit ihren milliardenschweren Anleiheankäufen den Bogen überspannt hätte. Nun behaupten einige Kritiker, diese Urteile dürfe man nicht miteinander vergleichen. Wieso eigentlich nicht? Die Urteile unterscheiden sich allenfalls an der Oberfläche. Beide verweisen auf die Überschreitung der EuGH-Kompetenzen. Der entscheidende Unterschied ist, dass in Polen Empfehlungen der judikativen Gewalt nicht lediglich in der symbolischen Sphäre verbleiben bzw. nicht von politischen Entscheidungsträgern ignoriert werden.

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Diese Nuancen werden in den deutschen Medien aber viel zu selten akzentuiert, denn auch die Interviews mit Mateusz Morawiecki oder dem polnischen Außenminister Zbigniew Rau können nicht zum deutschen Leser durchdringen, wenn bereits im Titel oder Kommentar vom „Polexit“ sowie einer „nationalistisch-populistischen“, „fundamental-katholischen“ und „radikal-rechtsverorteten“ Regierung gesprochen wird. Offenbar wird im Westen auch das Epitheton „katholisch“ pejorativ gebraucht, was sich manchen Polen nicht ganz erschließen will. Jedenfalls wird häufig schon in der Einleitung des Artikels eine sachliche und konstruktive Auseinandersetzung mit der polnischen Justizreform zunichte gemacht.

Und was denken die Polen darüber? Nicht alle sind von einer solchen Berichterstattung angetan. Nach fast 50 Jahren kommunistischer Herrschaft sehen wir im Westen plötzlich junge Menschen in roten Kleidern, die nichts an der marxistisch-leninistischen Symbolik auszusetzen haben. Wenn obendrein ehemalige „Handelsblatt“-Chefredakteure öffentlich fordern, man müsse Polen „umerziehen“, dann haben wir es entweder mit einem traurigen Witz oder eklatantem Unwissen zu tun (beides ist verwerflich).

Doch auch ein Gabor Steingart lässt sich überbieten. Wenn nämlich der EU-Abgeordnete und frühere belgische Premier Guy Verhofstadt allen Ernstes behauptet, die PiS spiele mit ihrer Justizreform Putin in die Hände, dann werden wir zu Zeugen einer ungewollten Slapstick-Einlage. Denn unter uns: Der an die polnische Regierung adressierte Vorwurf, sie sei „russlandfreundlich“, während sie sich seit Jahren mit zahllosen energiepolitischen Projekten vom einstigen Okkupanten zu lösen sucht, beweist einmal mehr, dass wir es in Straßburg nicht nur mit einem politischen Zirkus zu tun haben, sondern auch mit einem semantischen.

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Dennoch hält Polen weiterhin an der EU fest. Ende Oktober hat Morawiecki in einem Gastbeitrag für die Welt betont, dass Polen nicht aus der Gemeinschaft austreten wolle. Allerdings meint er damit eine, die ihre Heterogenität anerkennt und nicht dem trügerischen Zauber Altiero Spinellis erliegt. Der polnische Premier schreibt, dass sich die EU mit „imaginären Problemen“ befasse. Tatsächlich sehen wir einen Machtapparat mit vielen überbezahlten Funktionären, die sich eher auf vegane Kultur und vermeintliche Homophobien konzentrieren, statt einer weiteren Migrationskrise vor der eigenen Haustür entgegenzuwirken. Viele Polen fragen sich zurecht, weshalb das EU-Parlament überhaupt noch existiert. Die EU-Kommission und der Europäische Rat verfügen zumindest noch über einige Aufgabenfelder, während Straßburg offensichtlich lediglich als Bühne für zweitrangige Politiker dient. Wir sehen dort Hunderte ausländische EU-Abgeordnete, die nichts mit den polnischen Wählern zu tun haben und es sich nichtsdestotrotz erdreisten, über sie herzuziehen.

Ebenso die These, Polen sei nur wegen den zu vergebenden Mitteln an einem EU-Verbleib interessiert, stößt in Warschau auf Unverständnis. Wir haben im Zuge des EU-Beitritts einen intellektuellen Aderlass erlebt, wie vielleicht nie zuvor. Millionen junge Polen sind in den Westen ausgewandert, noch bevor die wirtschaftliche Erholung spürbar wurde. Sie zahlen dort ihre Steuern. Dem EU-Aufbaufonds hat die polnische Regierung zwar zugestimmt, doch auch in diesem Kontext ist man sich nicht ganz sicher, ob dies langfristig ausschließlich mit einem positiven Ertrag verbunden ist oder ob wir nicht eher auf eine Schuldenunion zusteuern, in der Polen für die Schulden reicherer Mitgliedstaaten mitbezahlen muss. Vermutlich ist auch der Westen nicht sonderlich daran interessiert, dass Polen von dem sinkenden Schiff springt. Das osteuropäische Land ist keine „verlängerte“ Werkbank mehr, sondern der fünftgrößte Handelspartner Deutschlands.

Die meisten Polen haben jedoch derweil vernommen, dass sich hinter den an zahlreichen Spielplätzen angebrachten EU-Hinweisschildern extrem politisierte Institutionen verbergen, in den Kanäle für bestimmte Ideologien entstehen. Dies mag zwar deutsche Leser in Erstaunen versetzen, aber auch Donald Tusk hat diese Entwicklung einst mit Sorge betrachtet. Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2005 hat der PO-Vorsitzende seine Wählerschaft dazu aufgerufen, sich gegen den „Verlust christlicher Werte“ in der EU aufzulehnen. Nebenbei hat er noch schnell kirchlich geheiratet. Als er dann allerdings zu einem integralen Bestandteil dieses Systems wurde und bemerkte, dass die politischen „big points“ woanders zu holen sind, hatte er am Antiklerikalismus plötzlich nichts mehr auszusetzen.

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Frankreich und Italien machen Deutschland dienstbar
Die Realität sieht jedoch anders aus: Der schmerzhafte Prozess des Brexit und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Staatsanleihekäufen sind auch in Deutschland deutliche Warnsignale, die es wahrzunehmen gilt. Die europäische Integration ist an einem Wendepunkt, wobei deren zentralistisches Vertiefen sich nicht mehr als eine erfolgreiche Strategie behauptet. Dennoch wird die neue Bundesregierung die Idee eines föderalistischen europäischen „Superstaats“ weiterhin forcieren. Die Pandemie hat sich hierbei als ein „Momentum“ erwiesen, um dieses Konzept auszubauen und beiläufig einige „Gegner“ zu kreieren, die nicht „mitspielen“ wollen.

Und trotzdem: Es gibt Hoffnung. Sogar in Frankreich (wenn auch nicht im Élysée-Palast) stellt man plötzlich hier und da betroffen fest, dass ein „Hamilton-Moment“ keineswegs auf Europa übertragbar ist. Die EU-Mitgliedstaaten können mit ihren höchst unterschiedlichen Kulturen und Geschichten nicht einfach einem Zentralorgan unterworfen werden. Das wäre nicht nur unklug, sondern verrückt. Die Konsequenzen einer solchen „Balkanisierung“ Europas mag man sich gar nicht vorstellen.

In unseren Medien wurde bereits viel Tinte über die vermeintliche Unwissenheit von manchen EU-Abgeordneten über die Lage in Polen und Ungarn vergossen. Dieser Umstand ist zwar in der Tat nicht besonders erbaulich, aber vielleicht liegt darin auch eine Chance. Wenn nämlich der CSU-Politiker Manfred Weber apodiktisch anführt, die Mehrheit der polnischen Gesellschaft stünde eigentlich hinter Donald Tusk, dann ist er offenbar desinformiert worden. Vielleicht sollten einige Herrschaften in Brüssel und Straßburg einfach mal neue „östliche“ Horizonte erschließen.


Wojciech Osiński ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Hörfunks

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