EU-Außengrenzen-Krise: Eine diplomatische Lösung ist fern – und kann teuer werden
Matthias Nikolaidis
Der Belagerungszustand an der polnisch-weißrussischen Grenze stabilisiert sich. Eher hilflos agiert derweil die EU-europäische und speziell deutsche Diplomatie. Die Minsker Krise könnte zum Grab ›europäischer‹ Hoffnungen werden – und Putin der Gewinner.
Blickt man in diesen Tagen auf Polen, dann fragt man sich ab und zu: Wo bleibt eigentlich die tätige Hilfe und Unterstützung der EU-Partner, die im Fall Griechenlands innerhalb weniger Tage, wenn nicht Stunden anrollte? Es gab zwar verschiedene Solidaritätsadressen, aber – vielleicht bis auf eine Ausnahme – keine Truppenentsendungen. Auch die Verteidigungsminister der drei baltischen Länder – Litauen, Lettland und Estland – haben Polen ihre Unterstützung zugesagt, befinden sich aber selbst in einem Abwehrkampf gegen Provokationen aus Weißrussland, vielleicht bald auch Russland. Die Region sei in der »heikelsten Sicherheitskrise« seit vielen Jahren und mit ihr die EU und die NATO. Konkret wird befürchtet, dass auch Litauen wieder stärker unter Druck durch illegale Migranten gerät.
Polen selbst konnte in den letzten Tagen weitere tausende Soldaten aktivieren. Laut dem Verteidigungsministerium sind inzwischen 15.000 Soldaten aus vier Divisionen im Einsatz an der rund 400 Kilometer langen Grenze zu Weißrussland. Die Soldaten und Offiziere verrichteten an jedem Tag ein »titanisches Werk«, so das Ministerium.
Der Grenzschutz berichtet derweil von einem grünen Laserlicht, das in der Nacht von weißrussischer Seite aus eingesetzt wurde, wohl um die polnischen Patrouillen zu blenden. Ebenfalls nachts konnten die Grenzschützer beobachten, wie Migranten in großen Mengen auf der anderen Seite des Zauns entlanggetrieben wurden. Das dürfte eine weitere Ablenkungstaktik sein. Erneut berichtet Polen auch von gewaltsamen Ereignissen im Laufe der Nacht.
Am Mittwoch gab es laut Grenzschutz 223 versuchte Grenzübertritte, gut halb so viel wie am Vortag. 26 Migranten wurden ausgewiesen, drei festgenommen (zwei Iraker, ein Syrer). Der 11. November war im übrigen der polnische Unabhängigkeitstag. Am selben Tag vor 103 Jahren hatte Polen seine Unabhängigkeit nach langer Unfreiheit wiedergewonnen. Man scheint nicht willens, die eigene Unabhängigkeit so bald wieder aufzugeben. Vielleicht fehlt auch deshalb ein offizielles Hilfsgesuch an die EU-Partner. Allenfalls mit britischen Aufklärungseinheiten scheint man schon jetzt zu kooperieren, wie ein Tweet des Verteidigungsministers verrät.
Die polnische Regierung trifft ihre Entscheidungen offenkundig selbst und lässt sich nicht vom diplomatischen Gewitter, das gelegentlich über sie hinweg zieht, beeindrucken.
Am Donnerstag konnte man laut Innenministerium die Errichtung eines ausgedehnten Lagers auf der weißrussischen Lagers beobachten, für das Bau- und Feuerholz sowie Lebensmittel angeliefert wurde. Die Migranten, so deutet man das Manöver auf polnischer Seite, sollen sich dauerhaft niederlassen, um die Grenze langfristig zu destabilisieren. Und das macht immer mehr Politiker in Westeuropa nervös. Deutschland ist natürlich besonders betroffen.
Schlangenlinien der deutschen Diplomatie
Tatsächlich ist es so: In der Migrationskrise an der weißrussischen Grenze fahren deutsche Politiker in wilden Schlangenlinien durch halb Europa und zerschlagen dabei jede Menge diplomatisches Porzellan. Die zentrale Frage aus deutscher Sicht scheint inzwischen geworden zu sein: Wohin mit den irregulären Migranten? Die vorauseilende Übernahme einer moralischen Verantwortung für etwas, das sicher nicht im Verantwortungsbereich der EU und ebenso wenig im dem der deutschen Bundesregierung liegt, ist schon erstaunlich.
Aber sie ist ein Faktum. So schlug der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, im Deutschlandfunk vor, die irregulären Migranten »vorübergehend« in der Ukraine zu parken, wo auch etwaige Asylverfahren abzuwickeln wären – obwohl vermutlich auch der SPD-Fraktion im Bundestag noch keine Anträge vorliegen. Das soll nun also das »Vorgehen mit aller Härte« sein, das der Kanzleraspirant Olaf Scholz sich gegen Lukaschenko wünscht?
In der Ukraine sorgten Schmids Vorschläge jedenfalls für helle Aufregung. Der Sprecher des ukrainischen Sicherheitsrats, Alexej Danilow, gab ein geradezu entgeistertes Pressestatement ab: »Wir haben einen Vorschlag für die deutschen Sozialdemokraten. Sie müssen Migranten zu sich nach Hause holen, je zwei, drei, fünf. Wenn es im Bundestag nicht genug Platz gibt, wo sie Ihre Büros haben, dann nehmen Sie sie zu sich nach Hause.« Danilow fügte hinzu, er scherze keineswegs: »Sehr seltsam, dass Deutsche uns belehren, was wir in diesem Fall tun sollen.« Sogar der ukrainische Botschafter beschwerte sich öffentlich über den SPD-Sprecher, wie die Junge Freiheit berichtet. Der Vorschlag sei nicht mit der ukrainischen Regierung in Kiew abgesprochen gewesen. Nun ja, Deutschland ist eben eine Mediendemokratie. Wo sollten seine führenden Politiker da Anstand und diplomatische Manieren lernen?
Im selben Interview hatte Schmid auch die Aufnahme von Asylverfahren direkt an der polnischen Grenze gefordert, aber recht bald gemerkt, dass diese Idee auch Nachteile hat: »Die Einhaltung des internationalen Rechts muss geknüpft sein an die Trockenlegung der Schleuserrouten nach Belarus.« Sollen die Migranten also willkommen sein oder will man die illegale Migration doch irgendwie verhindern? Wenn Schmid auch künftig für die Regierungsfraktion sprechen darf, stehen uns hier wohl noch allerhand Schlangenlinien bevor.
Spannungen in der Region erhöhen sich – Warschau rüffelt Merkel
Die Ukraine hat jedenfalls derzeit andere Sorgen. Am Donnerstag verlegte die Kiewer Regierung 8.500 Soldaten an die Grenze zu Weißrussland, um dort eine »intelligente Grenze« aufzubauen. Auch sonst steigt die Truppenkonzentration in der Region. Nicht nur wurden laut Merkur.de russische Langstreckenbomber an der polnisch-weißrussischen Grenze gesichtet. An der Grenze zu Litauen testeten Russland und Weißrussland ihre gemeinsamen militärischen Fähigkeiten mit einem Fallschirmabwurf. Daneben soll Russland auf dem Boden Truppen zusammengezogen haben, allerdings in der Nähe der Ukraine. Die Spannungen, die die Migrationskrise erzeugt, drohen die schlummernden Konflikte der Region aufzuwecken.
Daneben sind polnische Akteure nicht begeistert von den Putin-Avancen der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel, die schon am zweiten Tag in Folge mit dem Kreml-Chef telefonierte. Unter den ausgesprochenen Kritikern der scheidenden Kanzlerin (die angeblich seit Jahren unser Diplomatie-Ass war) ist Sławomir Dębski, Direktor des Polish Institute of International Affairs, das einer der einflussreichsten Thinktanks in der EU ist. Dębski twitterte: »Mein Gratis-Rat für eine neue deutsche Regierung: Wenn Sie mit Russland über die polnischen Grenzen sprechen, rufen Sie vorher in Warschau an und holen Sie die Zustimmung der Polen ein. Andernfalls seien Sie nicht überrascht, wenn man Sie nicht respektiert. Bestätigte Information.« Die letzten beiden Worte deuten auf eine deutliche Verstimmung der polnischen Regierung hin.
Vor allem versucht man inzwischen, Weißrussland diplomatische Klemmzwingen anzulegen. Westliche Mitglieder des UN-Sicherheitsrates haben das Land für die Eskalation der Migrationskrise und die Destabilisierung der östlichen EU-Außengrenze kritisiert. Auch der Sprecher von EU-Außenkommissar Josep Borrell übte scharfe Kritik an dem Land. Der Slowake Peter Stano warf dem weißrussischen Regime eine »orchestrierte Instrumentalisierung menschlicher Wesen« und Zynismus vor. Man werde auch weiterhin die »staatlich geförderte illegale Migration« und »das Schmuggeln von Migranten« bekämpfen, und zwar durch eine Ausweitung des Sanktionsregimes gegen alle, die zu diesen Tätigkeiten beitragen. Außerdem sei man im Gespräch mit Herkunfts- und Transitländern.
Späte Klemmzwingen gegen Minsk – doch auch Putin erhöht den Druck
Man scheint entschieden, Alexander Lukaschenko niederzuringen. So versucht Vizekommissionspräsident Margaritis Schinas gerade in Beirut, die libanesischen Behörden davon zu überzeugen, keine Aeroflot-Flüge nach Minsk (oder auch Moskau?) mehr zuzulassen. Diesem Zweck dienten auch die Merkel-Telefonate, als deren Ergebnis sich Putin zu einem maßvollen Zugeständnis bereitfand: Man müsse die »akute Migrationskrise« so bald wie möglich »in Übereinstimmung mit internationalen humanitären Standards« beenden. Beobachter deuten das als kleinen Ordnungsruf an Lukaschenko. Aber wenn man es genau besieht, vermindert es nicht den Druck, der auf der EU an dieser Stelle lastet.
Indem Putin eine humanitäre Lösung der Migrantenkrise befürwortet, setzt er die EU zusätzlich unter Druck. Denn wie diese Krise zu lösen ist, dazu gibt es ganz verschiedene Auffassungen in der EU. Hat sich Merkel also auf den letzten Metern ihrer Kanzlerschaft noch einmal austricksen lassen? Daneben fordert die Kreml-Mitteilung die Wiederaufnahme der normalen Kontakte zwischen den EU-Ländern und Weißrussland. Das ist auch das Ziel der Minsker Regierung.
Intensive diplomatische Übungen werden auch aus der Türkei vermeldet. So will man offenbar die Hauptroute Istanbul austrocknen: Die türkische Regierung will nun angeblich den Verkauf von Flügen nach Minsk unterbinden. Auch gemeinsame Verbindungen mit der weißrussischen Linie Belavia über Istanbul soll es nicht mehr geben. Turkish Airlines soll keine Tickets von Istanbul nach Minsk an bestimmte Nationalitäten verkaufen, etwa an Iraker, Syrer, Jemeniten. Doch der Flickenteppich dieser Maßnahmen wird wohl umgehbar bleiben.
IOM: Gehen sie vielleicht einfach nach Hause?
Aber die EU müht sich – vermutlich unter Einsatz teurer Versprechen – um Einfluss auf den Flugverkehr in der Türkei. Im Fall der Türkei kostet das vermutlich Geld. Im Falle Putins wird der Preis ein anderer sein. Vielleicht ist es also kein Zufall, dass plötzlich wieder die Ukraine in aller Munde ist. Zum Thema Gashahn-Abdrehen gab eine Kommissionssprecherin übrigens zu Protokoll, Gas sei eine essentielle Ressource und sollte nicht für geopolitische Konflikte missbraucht werden. Es ist die alte Geschichte von der Hilflosigkeit der EU-Europäer (und anderer supranationaler Organisationen). Und alle jetzt ergriffenen Maßnahmen ändern nichts an den vielleicht 20.000 Migranten, die schon in Weißrussland sind, teils an der polnischen Grenze kampieren und auf eine Gelegenheit warten, den Zaun zu durchbrechen.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) verkündete derweil, dass die Migranten nun auch in Weißrussland Anträge auf internationalen Schutz stellen könnten. Die IOM-Repräsentantin im Land, Mahym Orazmuchammedowa, reiste eigens in das Grenzgebiet, um die frohe Botschaft zu verkünden. Allein es fehlt der Glaube, dass die »Flüchtlinge« dieses Angebot auch annehmen werden. Daneben wies Orazmuchammedowa darauf hin, dass die Migranten auch in ihre Herkunftsländer zurückreisen könnten. Eine ganz neuartige Idee der internationalen Organisation. Man wird das Gefühl von der Sackgasse Weißrussland nicht los. Einzelne Migranten wurden bereits beim Verbrennen ihrer Pässe beobachtet.
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