Für viele Deutsche ist die Schweiz das Land hinter den sieben Bergen, mit diesen sieben Bundeszwergen, Pardon, Bundesräten. Genau, die Eidgenossenschaft wird von sieben Ministern regiert. Das reicht auch. Und wer ist der Regierungschef? Eigentlich keiner. Jedes Jahr wird zwar ein Bundespräsident gewählt, aber dieses Amt ist nur für repräsentative Zwecke gedacht, jeder Bundesrat bekleidet es im Turnus.
Die Schweiz legt bei ihrer Regierung grossen Wert auf Stabilität. Wer einmal Bundesrat geworden ist, kann es normalerweise solange bleiben, wie er darauf lustig ist. Es gilt als eher unfein, einen amtierenden Bundesrat, der es gerne bleiben möchte, abzuwählen. Das letzte Mal passierte das dem Vordenker der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Christoph Blocher. Das war im Jahr 2007, und bis heute wirkt diese Ausnahme von der Regel nach. Von welcher Regel? Nun, die Regel heisst «Zauberformel». Die Idee dahinter: Wieso Zustände wie in Deutschland, Italien oder Frankreich? Regierung und Opposition, Wahlkampf, Regierungswechsel, Stimmenfang, Wahlversprechen. Ach was, sagt da die clevere Schweiz, seit 1959 besteht die Landesregierung aus je zwei Vertretern der stärksten Parteien und einem Vertreter der nächstgrössten. Daran hat sich seit 1959 lediglich geändert, dass die CVP, ungefähr mit der CDU vergleichbar, durch Wählerschwund von zwei Ministern auf einen heruntergestuft wurde. Und die SVP, inzwischen die stimmstärkste Partei der Schweiz, bekam zwei Minister zugesprochen. Unverändert stellen die beiden anderen grossen Parteien, die Freisinnigen (ungefähr die deutsche FDP) und die SP (etwas linker als die SPD) zwei Minister.
Und wie funktioniert denn das, fragt sich der bundesdeutsche Michel, der gewohnt ist, dass nicht nur im Parlament Regierung und Opposition ständig im Clinch liegen und sich Saures geben? Das funktioniert nach der eigentlichen Zauberformel der Schweizer Demokratie: dem Kompromiss. In den Bundesratssitzungen wird über alles abgestimmt, und was die Mehrheit bekommt, müssen alle sieben Bundesräte vertreten, auch wenn das Resultat nicht unbedingt der Position ihrer Partei entspricht. Es kann also durchaus passieren, dass ein SP-Bundesrat eine politische Forderung ablehnt, die seine Partei lautstark propagiert. Das funktioniert natürlich nur, wenn eben Kompromisse gemacht werden, die Mehrheit sich immer bewusst ist, dass sie auch in Zukunft mit der Minderheit zusammenarbeiten muss.
Gerade haben zwei Bundesräte das getan, was normalerweise eine Neuwahl nach sich zieht: Sie haben ihren Rücktritt angekündigt. Da es sich um eine CVP-Bundesrätin und einen Freisinnigen handelt, haben logischerweise diese beiden Parteien das Recht, einen Nachfolger zu nominieren, der dann vom Parlament gewählt wird. Dieser ganze Wahlprozess ist ungefähr so aufregend, wie der Farbe an der Wand beim Trocknen zuzuschauen. Etwas erregte Debatten gibt es einzig zur Frage, ob keine, eine oder zwei Frauen in die Landesregierung gewählt werden sollen. Bekanntlich hat die Schweiz etwas spät, aber immerhin auch das Frauenstimmrecht eingeführt, was dann folgerichtig auch zu Bundesrätinnen führte. Daran haben sich die Schweizer inzwischen gewöhnt.
Noch putziger mutet dem Ausländer die Hornkuh-Initiative an. Auch dazu eine kurze Einführung in Schweizer Wesensart. Natürlich kennt die Schweiz die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative. Es gibt das Bundesgericht als höchstes Schweizer Justizorgan, aber es gibt kein Verfassungsgericht. Es gibt dafür die Möglichkeit, die Aufnahme eines neuen Artikels in die Bundesverfassung, das Schweizer Grundgesetz, zu verlangen. Dafür müssen in einer gewissen Frist die Unterschriften von mindestens 100.000 Stimmberechtigten gesammelt werden. Das verpflichtet die Schweizer Regierung dazu, anschliessend eine Abstimmung anzuberaumen. Einem wie aus dem Bilderbuch entsprungenen Schweizer Bauern ist es gelungen, für sein Anliegen genügend Unterschriften zusammenzubringen, sodass im November darüber abgestimmt wird, ob Bauernfamilien mit staatlichen Anreizen dazu motiviert werden sollen, ihren Kühen und Ziegen die Hörner zu belassen. Bei Dreiviertel aller Kühe werden die heute früh entfernt, um Verletzungen vorzubeugen.
Das sei eine schmerzhafte Praxis, das Horn habe diverse Funktionen beim Tier, also soll es dranbleiben, fordert diese Initiative. Wird sie angenommen, wird die Bundesverfassung in ihrem Artikel 104 entsprechend geändert. Die Schweizer Regierung und das Parlament empfehlen den Stimmbürgern die Ablehnung dieser Initiative. Dennoch zeigen aktuelle Meinungsumfragen eine Mehrheit der Befürworter. Ist das alles putzig, pittoresk, gar merkwürdig und rückständig, halt typisch für ein Land, das sich standhaft weigert, in die EU einzutreten?
Keinesfalls. Im Gegenteil. So funktioniert lebendige und bürgernahe Demokratie. Ein vergleichendes Beispiel? Bitte sehr. In der Schweiz wurde über den Gotthard-Tunnel abgestimmt. Mit Schweizer Pünktlichkeit ist das Jahrhundertbauwerk fertiggestellt worden, während weder Deutschland noch Italien die zugesagten Gleisanschlüsse bauten. Also könnte man von einem zudem sauteuren Flop sprechen. Aber in der Schweiz randaliert oder protestiert niemand dagegen. Tumulte wie beim Stuttgarter Bahnhof sind in der Schweiz unvorstellbar. Ganz einfach deswegen, weil auch diejenigen, die gegen den Bau waren, ihre Abstimmungsniederlage akzeptieren. Weil sie eben darüber abstimmen konnten. Noch ein Beispiel? Gerne. So etwas wie der Berliner Flughafen wäre in der Schweiz undenkbar. Weil über Infrastrukturbauten ebenfalls abgestimmt wird. Und, wichtiger, weil auf drei Ebenen, Gemeinde, Kanton und Eidgenossenschaft, die Regierungen gewählt werden.
Das hat zwei gewaltige Vorteile. Wenn der Gemeinderat das Projekt eines neuen Schulhausbaus, für das die Gemeindesteuern erhöht werden mussten (richtig, darüber wird auch abgestimmt), in den Sand setzt, dann hat er sehr gute Chancen, abgewählt zu werden. Die Behaftbarkeit für ihr Tun bei den sogenannten Volksvertretern ist in der Schweiz unvergleichlich stärker ausgeprägt als beispielsweise in Deutschland. Das gilt übrigens auch für die Staatsbürokratie. Eine der üblichen Anekdoten von einwandernden Deutschen, die staunend und mit grossen Augen erzählt wird: «Ich habe auf dem Steueramt angerufen, denn hier in der Schweiz werden einem die Steuern nicht gleich vom Lohn abgezogen, sondern man muss eine Steuererklärung ausfüllen. Also rufe ich an, und der Beamte sagt doch tatsächlich: «Grüezi. Mein Name ist Vetterli. Wie kann ich Ihnen helfen?» Als ich mein Erstaunen über diese Freundlichkeit zum Audruck bringe, sagt der doch: «Aber dafür bin ich doch da.»»
Aus all diesen Gründen funktioniert die Schweiz viel besser. Ist sie deswegen die Insel der Seligen? Im Sinne, dass alles relativ ist: ja.