Tichys Einblick
Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2022

Éric Zemmour – Ein Politiker neuer Art könnte Frankreichs Präsident werden

Mit Éric Zemmour tritt in Frankreich ein neuer Politikertypus auf, dessen An- und Absichten an Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. Für den linken Mainstream ist das ein Schock. Doch auch die rechts-konservative Konkurrenz wird langsam unruhig.

Éric Zemmour bei einer Veranstaltung in Lille, 2. Oktober 2021

IMAGO / ZUMA Wire

Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis Éric Zemmour, der bekannte Journalist, diskussionsfreudige und vieldiskutierte politische Kommentator, seine Kandidatur um das Amt des französischen Präsidenten auch offiziell bekannt gibt. Nach neuesten Umfragen könnte Zemmour sogar in die zweite Runde der Wahlen im April 2022 kommen. Die Befragung des Instituts Harris Interactive für die Wirtschafts-Website Challenges platziert Zemmour auf dem zweiten Platz (17 Prozent) hinter dem Amtsinhaber Macron. Es folgen Marine Le Pen (15 Prozent), der Konservative Xavier Bertrand (13 Prozent) und Jean-Luc Mélenchon (11 Prozent). Alle drei haben zuletzt Einbußen hinnehmen müssen, während Zemmour seinen Wert von anfänglich sieben Prozent mehr als verdoppeln konnte. Macron konnte sich bei 24 Prozent stabilisieren.

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Seit Wochen scheint Zemmour in der Wählergunst zu steigen – und das, obwohl er noch gar nicht offiziell Kandidat ist. Dieser Aufstieg ist auch für den Chef von Harris Interactive etwas Neues: »Noch nie haben wir einen solchen Blitzaufstieg gesehen.« Seit Mitte September tourt Zemmour durch das Land, um für sein neues Buch »La France n’a pas dit son dernier mot« (»Frankreich hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen«) zu werben. Doch die Buchvorstellungen ähneln eher vorgezogenen Wahlkampfkundgebungen. Le Monde meint: Zemmour hat seine Kampagne schon lange begonnen, ohne es zu sagen.
Frankreich, Land der Debatten

Ende September hat eine zweistündige Fernsehdiskussion mit Jean-Luc Mélenchon, dem offiziellen Präsidentschaftskandidaten der linkssozialistischen Partei »La France insoumise«, für Aufmerksamkeit gesorgt und so den Aufstieg wohl noch befeuert. Der konservative Figaro sprach von der »französischen Leidenschaft für die Debatte«, die durch das Streitgespräch von neuem erweckt worden sei.

Tatsächlich war es ein Ereignis, das man in Deutschland kaum so bald erleben wird. Mit Zemmour und Mélenchon waren zwei Antipoden des politischen Spektrums zusammengekommen, die sich kaum zu halten wussten, während der jeweils andere seine Sicht der Welt erläuterte. Dennoch waren sie in der Lage, einander für zwei Stunden zuzuhören, egal ob der eine die Hände gleichsam betend zusammenlegte, egal ob der andere die Arme verschränkte, um sich gleichsam vor den schwierigen Ansichten seines Gegenübers zu schützen. Immer wieder fragte Mélenchon, der erst 2008 aus der sozialistischen Partei ausgetreten ist: »Meinen Sie das ernst?« Zemmour bejahte.

Die meisten seiner potentiellen Konkurrenten waren nicht zu einem Streitgespräch mit Zemmour bereit, weder die Konservativen Michel Barnier und Xavier Bertrand noch Marine Le Pen. Auch Mélenchon sagte anscheinend zu, um die politische Atmosphäre von Zemmours rechten Thesen zu »dekontaminieren«, was ihm allerdings kaum gelungen sein dürfte. Natürlich wollte sich Mélenchon im selben Zuge als linke Alternative ins Spiel bringen. Doch die Debatte der beiden wurde letztlich von den Themen Immigration und Islam beherrscht.

Der Figaro war begeistert von der neu entfachten Debatte: In keinem Land der Welt streite man derart engagiert um Konzeptionen wie »laïcité«, »grand remplacement«, »créolisation« und diverse Ismen, darunter auch Begriffe wie »communautarisme« und »séparatisme«, mit denen Emmanuel Macron seinen Kampf gegen die Abspaltungstendenzen des Islam in Frankreich führt.

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Zemmour teilt diese Kritik an den islamischen Gemeinschaften in Frankreich und benennt die gesellschaftlichen Folgen, die Macron oft im Ungefähren lässt. So ist für Zemmour klar, und er sagt es allen, die es hören wollen: Aus der hohen Zuwanderung von »Flucht«-Migranten nach Frankreich (die immer noch nicht zu vergleichen ist mit der viel höheren nach Deutschland) resultieren Kriminalität und andere Probleme, zum Beispiel an den Schulen. Immer mehr Viertel gehen in Macrons Sinn »verloren« an die muslimische Parallelgesellschaft. Die Probleme, die einst vor allem Paris, die Mittelmeerküste und den Norden des Landes betrafen, haben sich nun bis in dessen letzten Winkel ausgedehnt. Angesichts der Bilder und Berichte aus den Banlieues des Landes kann man das nicht für Panikmache halten. Die Kriminalität der Randgruppen begreift Zemmour als Kriegserklärung an die Mehrheitsgesellschaft und fordert konsequente Abschiebungen auch von Binationalen, denen man ja die französische Staatsangehörigkeit auch entziehen könne.  

Gleichzeitig soll der Rest der Gesellschaft, ähnlich wie in anderen Ländern, auf Linie gebracht werden: Die französische Polizei wird wegen »Polizeigewalt« und »racial profiling« angegriffen. Mit den angeblichen Verfehlungen der französischen Kolonialzeit kann heute fast jeder Missstand erklärt werden. Schließlich soll an die Stelle »alter weißer Männer« das vereinte Tableau der Minderheiten treten. Und natürlich sind da noch Frankreichs grüne Bürgermeister, die keine Weihnachtsbäume mehr aufstellen wollen und zugleich den Bau von Großmoscheen finanzieren. Zemmour ist genervt von all dem, auch vom »Internationalismus, der die Nationen verneint« (er nennt es auch »sans-frontièrisme«), den Alt-68er und zum Beispiel auch die christlichen Kirchen heute pflegen.

Assimilation oder Kreolisierung?

Seit einiger Zeit existiert ein Verein der »Freunde Éric Zemmours« (Les Amis d’Éric Zemmour), der auch schon ein Büro in Paris, unweit des Elysée-Palastes, angemietet haben soll. Wird hier die kommende Wahlkampfzentrale ihr Lager aufschlagen? Vor einigen Wochen erschienen Plakate mit dem Konterfei des Journalisten und der Aufschrift »Zemmour Président«, was man auch mit diesem mysteriösen Verein in Zusammenhang brachte. Auch eine Gruppe junger Menschen, die sich anspielungsreich »Génération Z« nennt und einige hundert Mitglieder haben soll, unterstützt Zemmour bei seinen Auftritten. Seit Sonntag gilt auch die Gründung einer richtiggehenden Partei als sicher. Ende des Monats könnte die offizielle Verkündung der Kandidatur folgen.

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Dass ein solcher Schnellstart gelingen kann, hat vor vier Jahren Macron mit seiner Bürgerbewegung »La République en Marche« bewiesen. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten der beiden möglichen Konkurrenten um das Präsidentenamt. Zemmour ist kein Kandidat des Juste Milieu, dazu ist er zu unbequem. Man nennt ihn Polemiker, was im Land der Debatten ein Ehrentitel sein müsste, oder aber einen Vertreter der extremen Rechten, jenseits der heutigen Républicains. Tatsächlich passt diese Zuschreibung zur Eigenbeschreibung Zemmours, der sich seit langem in die Kontinuität De Gaulles gestellt hat und jüngst auch das neogaullistische Rassemblement pour la République (RPR), das Jacques Chirac in den 1970er Jahren gründete, für sich in Anspruch nahm. Wie einst Chiracs Partei der rechten Mitte so stehe auch Zemmour heute für eine Begrenzung der Einwanderung und den Schutz der nationalen Grenzen. Zweifel an der Kompatibilität des Islams mit der Republik und ihren Gesetzen seien keineswegs neue Ideen unserer Zeit.

Jüngst hat Zemmour vorgeschlagen, dass jedes in Frankreich geborene Kind mindestens einen französischen Namen tragen müsse (er wiederholt das gegenüber Mélenchon). Daneben spricht Zemmour davon, dass man den Islam »französieren« müsse – so wie sich einst die Juden an die französische Kultur assimiliert hätten. Für Mélenchon gibt es so etwas nicht, nur die Vermischung, »Kreolisierung« der in Frankreich existierenden Kulturen, die er bis auf die Römerzeit zurückführen will. 

Assimilation bedeutet für Zemmour, der selbst der Sohn jüdischer Algerienfranzosen ist, die Geschichte, Sitten und Lebensart eines Landes zu übernehmen, seine Sprache und Literatur aufzunehmen und zu verinnerlichen. Auch das ist eine Erinnerung an ältere Zeiten, als Frankreich zwar bereits das Territorialprinzip bei der Staatsbürgerschaft anwandte, aber davon ausging, dass die neuen Landsleute auch wirklich das sein wollten: Franzosen im vollen Sinne des Wortes. Das droht heute, im Zeichen der Diversity, in Vergessenheit zu geraten. Zemmour bekennt sich als Jude zum christlichen Kulturkreis, der ebenso ihn wie den Trotzkisten Mélenchon geprägt und hervorgebracht habe.

Steht Zemmour weit rechts oder doch in der Mitte?

Steht Zemmour also rechts von Marine Le Pen oder bildet er eine bürgerliche Alternative zu ihr? Das dürfte eine trügerische Alternative sein. Vielleicht kann auch beides stimmen, denn Le Pen hat sich in den letzten Jahren bemüht, für Wähler jenseits der Stammklientel ihres Vaters hinaus attraktiv zu werden. Und Zemmour schöpft keineswegs nur ihre Wähler ab, sondern hat wohl auch Unterstützer vom möglichen LR-Kandidaten Bertrand gewonnen, vielleicht sogar von Mélenchon.

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In der Harris-Umfrage fällt Zemmour bei der Frage nach der zweiten Runde hinter Marine Le Pen zurück. Mit der Vorsitzenden des Rassemblement national (RN) im zweiten Wahlgang könnte das Rennen gegen Macron demnach knapper ausgehen. Harris Interactive maß den Abstand als sechs Prozentpunkte aus (53 Prozent für Macron, 47 Prozent für Le Pen), während Macron und Zemmour nach heutiger Stimmungslage durch zehn Prozentpunkte getrennt wären.

Zemmour scheint derzeit die kontroversere, in gewissem Sinne radikalere Figur zu sein. Sogar Jean-Marie Le Pen, der Gründer des Front national, hat gesagt, er würde Zemmour wählen, wenn dieser sich dauerhaft an die Spitze des »nationalen Lagers« setzen könne, und setzte hinzu: »Marine hat ihre befestigten Stellungen verlassen, Éric besetzt nun das Terrain, das sie verlassen hat.« Am Ende könnten die Vorgänge auf eine Spaltung des rechten Lagers zwischen den konservativen Républicains (LR), Marine Le Pen und Éric Zemmour hinauslaufen.

Le Pen gibt sich von solchen Gedanken unerschüttert, sieht sich sicher in der zweiten Runde. Sie hat in den letzten Jahren viel Mühe darauf verwandt, weniger radikal zu wirken und so für mehr Menschen wählbar zu werden. Die Immigration will sie, so ihre neueste Ansage, »ohne Schwäche, aber auch ohne Übertreibung« bekämpfen und sich daneben für den Mann auf der Straße und seine wirtschaftlichen Nöte einsetzen. Rechnet man Zemmours Wert und den von Le Pen zusammen, kommt man auf 32 Prozent für diesen politischen Raum. Im Frühsommer konnte Le Pen in derselben Umfrageserie 28 Prozent als Höchstwert verzeichnen.

Es bleibt dabei: Wenn im nächsten halben Jahr nicht völlig andere Themen gesetzt werden, sieht es nach einer Konfrontation zwischen dem Zentristen Macron und der politischen Rechten aus. In seiner jüngsten Pressemitteilung fordert Zemmour, dem französischen Recht wieder die Priorität vor dem europäischen Recht zu geben, und ordnet sich damit zudem in die Reihe der EU-Kritiker ein.

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