Vor zwei Wochen zog ein wütender Mob durch die Straßen der türkischen Hauptstadt. Es waren mehrere Hunderte, welche Geschäfte, Häuser und Fahrzeuge von dort lebenden Syrern zerstörten. In Videos ist zu sehen, wie grölende Männer so lange an einem Schaufenster-Gitter ziehen, bis es zu Boden fällt, worauf darüber laufen, um das Geschäft zu plündern und zu zerstören. Es sind Bilder, die man als einen Pogrom deuten kann: rassistisch-gewalttätige Ausschreitungen gegen Minderheiten.
Der Auslöser für die Ausschreitungen war die Nachricht, dass ein Syrer einen 18-jährigen Türken nach einem Streit erstochen habe. Doch dahinter steht als Konfliktgrund der Präsident selbst, der in seinem Land Rassismus schürt, nachdem er sich mittels seines „Flüchtlingsdeals“ mit der EU ein Migrationsproblem schuf, für das er sich von der EU bezahlen lässt. Erdogan sitzt in einer selbst gebauten Falle. Das ist der Grund dafür, dass er schon vor dem Taliban-Einmarsch in Kabul mit ihnen verhandeln und den Flughafen kontrollieren wollte. Erdogan versucht sich in Schadensbegrenzung-Politk, indem er weitere afghanische Migranten in der Türkei verhindern will.
Der Milliarden-Deal wird zu Erdogans „Flüchtlingsproblem“
Die Türkei bekommt durch den EU-Flüchtlingsdeal als Transitland Milliardensummen dafür, die syrischen Migranten zu versorgen und an der Weiterreise in die EU zu hindern. Damit wurde die Türkei selbst das Land mit den meisten „Flüchtlingen“ auf der Welt. Stand Dezember 2020 leben laut UNO in der Türkei 4,1 Millionen „Flüchtlinge“ und Asylsuchende – davon mehr als 3,6 Millionen syrische „Flüchtlinge“ und 330.000 aus anderen Ländern wie Afghanistan und Irak. Nur 1,7 Prozent der „Flüchtlinge“ leben in Flüchtlingslagern, der Rest lebt im städtischen oder im ländlichen Raum. Jeden Tag kommen weitere rund 2000 Afghanen ohne Papiere über die Grenze.
Im selben März 2020 machte Erdogan bereits deutlich, dass er nicht noch mehr „Flüchtlinge“ in der Türkei haben will. Er hat das Brodeln in der Gesellschaft schon vor einem Jahr gespürt. Doch er und seine Regierung haben große Mitschuld an dieser Eskalation. Teile der türkischen Bevölkerung sind sowohl emotionalisiert als auch rassistisch aufgeladen worden. Emotionalisiert sind sie durch ihre soziale Situation, die durch die galoppierende Inflation in der Türkei verschärft wird. Die türkische Währungspolitik sorgt selbst dafür mit ihrem dauerhaft niedrigen Leitzins. Durch die höhere Geldmenge im Umlauf verliert die Lira massiv an Wert. Mit der Corona-Krise verschlechterte sich die gesamtwirtschaftliche Lage in der Türkei zusätzlich. Große Teile der Bevölkerung befinden sich in einer finanziellen Notsituation. Viele Bürger sind der Meinung, dass die Staatskasse wegen der Migranten leer ist – eine Ansicht, die auch die Oppositionsparteien CHP und die nationalistischen lyi-Partei befördern. In der Türkei das Thema „Flüchtlinge“ zum wichtigsten und zentralen Wahlkampfthema geworden.
Getriebene von Erdogans rassistischer Politik
Der wütende, plündernde Mob von Ankara wurde indirekt auch von der türkischen Regierung getrieben, ja von ihrem Präsidenten Erdogan persönlich. Seit 20 Jahren regiert Erdogan die Türkei und veränderte das ganze Land. Als eine Strategie, um seine Macht zu erhalten, spielte er immer wieder nationalistische Karten aus; zunächst war dies die Kurden-Karte. Er propagiert systematisch ein Feindbild von Kurden als „Terroristen“. Sowohl die ihm gefährlich gewordene Oppositionspartei HDP als auch prokurdische Demonstranten schaltete er damit aus. Der zuvor – seit Republikgründung – existente antikurdische Rassismus wurde seit Erdogans Amtsantritt verstärkt. Vor kurzem wurden in Konya sieben Mitglieder einer kurdischen Familie getötet und ihr Haus angezündet. Erdogan betreibt eine rassistische Sündenbock-Politik: So hat er beispielsweise „kurdische Terroristen“ für die schrecklichen Waldbrände in der Türkei verantwortlich gemacht.
Erdogans nationalistischer Politischer Islam
Erdogan sympathisiert zugleich mit Nationalismus und Islamismus – dies gilt für ihn persönlich als auch für seine Politik. So gehörte es zu seiner Strategie gegen die Oppositionspartei HDP, durch eine aggressive nationalistische Politik an Beliebtheit zu gewinnen und das nationalistisch Lager, also die rechtsextreme, nationalistische MHP und die kemalistische CHP, hinter sich zu vereinen. Stolz offenbarte Erdogan, das er ein Anhänger der rechtsextremen „Grauen Wölfe“ und der islamistischen Muslimbruderschaft (MB) ist, indem er den Wolfs-Gruß und das Rabia-Zeichen seinen Anhängern von der Bühne aus zeigte.
Kein Geheimnis ist auch, dass der türkische Präsident Graue Wölfe und Islamisten weltweit unterstützt. Nachdem die Grauen Wölfe als paramilitärische Organisation – als politischer Arm der MHP – in der Türkei in den 1970er Jahren schwere Anschläge verübten, wurden sie dort verboten. Doch heute erstarken sie wieder in der Türkei dank Erdogan und der MHP – sie fördern die Ideologie dieser rechtsextremen Bewegung. Sie alle träumen gemeinsam den Traum von einem großtürkischen Reich und sind vereint in Feindschaft gegenüber Armeniern, Kurden und Juden, Christen und gegen liberale, säkulare Muslime.
Erdogans Schadenbegrenzungs-Politik
Mit dem in weiten Bevölkerungsteilen existierenden Rassismus wird das Flüchtlingsproblem für Erdogan zum doppelten Problem. Als die NATO ankündigte, ihre Truppen in Afghanistan abzuziehen, fürchtete Erdogan die Flüchtlingswelle die auf ihn und Europa zukommen würde. Sofort bot er US-Präsident Joe Biden an, den Flughafen in Kabul zu sichern, wenn die Truppen abziehen würden. Im Gegensatz zu westlichen Regierungen hat er vorhergesehen, dass die Taliban in kürzester Zeit in Kabul einmarschieren würden. Erdogans strategisches Ziel dahinter war, durch eine Kontrolle des Flughafens auch eine Kontrolle über das Flüchtlingsgeschehen zu erlangen. Für seine Schadenbegrenzungs-Politik war er bereit, mit den Taliban direkt zu verhandeln. Er machte seinem Volk und der Weltöffentlichkeit deutlich, dass die Türkei keine weiteren Schutzsuchenden aufnehmen werde. Die Türkei könnte diese „zusätzliche Belastung“ nicht tragen, machte Erdogan auch der deutschen Bundeskanzlerin klar. Wiedermal setzt er Merkel damit die Pistole auf die Brust, denn dies bedeutet nicht anderes, als das Erdogan nicht mehr bereit ist, sich an den Flüchtlingsdeal zu halten. In den letzten Tagen hat die Türkei vorsorglich den Bau einer Grenzmauer zum Iran weiter vorangetrieben.
Erdogans Verhandlung mit den Taliban
Für seine Schadensbegrenzungs-Politik ist der türkische Präsident voll motiviert, mit den islamistischen Taliban zu verhandeln. Das Ziel: Alles unternehmen, um Afghanistan innenpolitisch zu stabilisieren, damit Flüchtlingsbewegungen unterbunden werden. Dabei spielt das Weltbild auch eine zentrale Rolle. So machte er klar: „Wir stehen nicht im Widerspruch mit dem Glauben der Taliban“. Der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid antwortete auf den Anruf von Erdogan: „Die Türkei ist unser Bruder“.
Alte neue Freunde
Wer sich mit Erdogans Vergangenheit auskennt, der weiß, dass schon in den 1980er Jahren Erdogan an einem Tisch mit afghanischen Islamisten saß. Es war das Jahr 1985 in Istanbul, als Erdogan der Vize-Vorsitzende der damaligen islamistischen Wohlfahrtspartei (RP), die der Milli-Görüs angehörte, war. Er speiste an einem Tisch mit Gulbuddin Hekmatyār, damaliger Führer der islamistischen Partei Hizb-i Islāmī in Afghanistan. Derselbe Gulbuddin Hekmatyār stellte sich ab 2001 auf die Seite der Taliban und wurde 2003 von der USA als Terrorist eingestuft.
Bei der Frage, wie schnell Afghanistan in die Hände der Taliban fallen konnte, spielt er eine wichtige Rolle, die bislang völlig unausgesprochen ist: Als die Taliban die Stadt Kabul am 15. August umzingelt hatten, war bereits der frühere Premierminister Hekymatyār auf dem weg nach Doha, um schon dort mit einer Taliban-Delegation Gespräche zu führen – obwohl die Taliban noch nicht einmarschiert waren. Präsident Ghani hatte am selben Tag längst das Land verlassen. Die Gespräche mit der Taliban-Delegation wurden offiziell als ein Koordinierungsrat geführt, der die Übergabe Afghanistans – bevorzugt friedlich – regulieren solle.
Es ist davon auszugehen, dass die Türkei einer der wichtigsten Verbündeten für die Taliban werden könnte. Allerdings sind die Taliban in dieser Freundschafts-Frage gespalten, da die Türkei ein Nato-Mitglied ist und mit dem verhassten Westen zusammenarbeitet. So wollten sie, dass auch die türkischen Truppen Afghanistan sofort verlassen. Doch es bleiben zwischen den beiden immer noch Katar und Pakistan, zwei Länder, die zwischen Erdogan und den Taliban schon seit Tagen zu vermitteln versuchen. „Wir brauchen eine Verständigung auf der Top-Ebene“, sagte Erdogan gegenüber CNN Türk.