Der Frühling in den griechisch-türkischen Beziehungen ist, wenn es ihn je gegeben haben sollte, einstweilen vorüber. Im März hatte es so ausgesehen, als ob man zumindest miteinander reden könnte. Premierminister Kyriakos Mitsotakis war in Konstantinopel gewesen und hatte neben dem Ökumenischen Patriarchen auch den türkischen Präsidenten besucht. Beide Regierungschefs stimmten darin überein, dass man die Chancen wirtschaftlicher Zusammenarbeit über die Ägäis hinweg ausloten wollte, vielleicht auch mit Hinblick auf mögliche Gas- und Erdölleitungen. Aber auch die gemeinsame Nutzung von Rohstoffen, die unter der Ägäis vermutet werden, schwappte bald in die griechischen Medien – nicht immer ohne Empörung: Wie könne man über gemeinsame Wirtschaftsprojekte sprechen, wo die Türken doch mit Forschungsschiffen wie der „Oruc Reis“ die ausschließlichen Wirtschaftszonen Griechenlands und Zyperns missachten.
Darüber hinaus werden die griechischen Ägäis-Inseln regelmäßig von türkischen Kampfflugzeugen überflogen – in offener Missachtung alter Verträge, die den Frieden zwischen den beiden Mittelmeerstaaten sichern sollen. Mitte Mai waren türkische Kampfjets gar 2,5 Kilometer vor der Festlandstadt (und NATO-Basis) Alexandroupoli aufgetaucht. Das griechische Außenministerium reagierte mit einer harten Verurteilung dieser Verletzung der nationalen Souveränität durch das illegale Eindringen zweier Kampfjets.
Die griechische Regierung hatte nach der Begegnung im März vorsichtig angedeutet, dass man im Herbst zu einem intensiveren Dialog reichen könnte, soweit es vorher nicht zu neuen Spannungen komme. Die traten nun ein. Abrupt verkündete Erdogan das Ende der Zusammenarbeit mit Griechenland im Rahmen eines dafür geschaffenen bilateralen Rates. Tatsächlich war der „Kooperationsrat“ bisher eher ein Ort, an dem jede Seite ihre Beschwerden vorbringen konnte, weniger ein Ort von Wirtschaftsverhandlungen, wie die konservative Tageszeitung Kathimerini vermutet.
Erdogan: „Wir reden zusammen, wir essen zusammen, du versprichst es mir“
Die Entscheidung Erdogans, die er als Rakete mit zwei Stufen zündete, wird in Griechenland als Warnsignal verstanden. Erdogan übersetzte sie selbst mit den Worten: „Griechenland, reiß dich zusammen.“ Daneben sagte er, dass Premierminister Mitsotakis für ihn nicht mehr existiere. Eine Woche später verkündete der türkische Staatschef das Ende der Gespräche auf absehbare Zeit. Als Grund führte Erdogan die Rede des griechischen Premierministers vor dem US-Kongress am 17. Mai an. Mitsotakis habe dort gegen die Türkei gesprochen und außerdem die Lieferung von F-16-Kampfjets an die türkischen Streitkräfte hintertrieben. Das sei nicht sein, Erdogans, Politikstil: Er sei es gewohnt, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die „Politik mit Persönlichkeit betreiben“: „Wir reden zusammen, wir essen zusammen, wir sagen: ‚Lassen wir keine dritten Länder oder Personen zwischen uns treten‘, du versprichst es mir.“ Ich schwöre, ich schwöre, möchte man da ausrufen. Erdogans scheinbar knuffiges Verständnis von internationalen Beziehungen läuft auf ein türkisch-osmanisches ‚Reich der Mitte‘ hinaus, dem sich die kleineren Nachbarn bitte einzeln mit angemessenen Tributzahlungen ergeben sollen.
Türkische Zeitungen hatten sich aus Anlass von Mitsotakis’ Washington-Besuch mit argwöhnischen Meldungen überschlagen: So berichtete die Tageszeitung Yeni Safak davon, dass Mitsotakis dem US-Präsidenten das türkische Propagandagespinst einer „Blauen Heimat“ als Seekarte vorgelegt haben soll. Richtig ist, dass sich der griechische Premier in seiner Rede gegen jeden Expansionismus aussprach, wobei er auch an die türkische Besetzung Zyperns seit nun 48 Jahren erinnerte. Verletzungen der eigenen Souveränität werde Griechenland nicht hinnehmen. Tatsächlich warnte Mitsotakis im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg auch vor einer weiteren Quelle der Instabilität, nun an der südöstlichen NATO-Flanke, und bat um Vorsicht mit Rüstungsgütern im östlichen Mittelmeer. All das wohlgemerkt vor dem US-Kongress, das war vielleicht zu viel für Erdogan.
Daneben führt der Türkenlenker nun den Verkauf neuer Waffensysteme an Griechenland ins Feld, deren Qualität und Zahl beträchtlich seien („solche Waffensysteme, das eine, das andere…“). Für die türkische Regierung gelte: „Wir sind Freunde mit denen, die freundlich mit uns umgehen. Aber eine Sache müssen sie wissen, dass wir alles, was nötig ist, tun werden gegenüber denen, die uns als Feind sehen…
Die Frage ist: Was verlangt er von Washington?
Diese Äußerungen lassen tief blicken. Denn damit sind ziemlich direkt auch die anderen NATO-Verbündeten, vor allem die Vereinigten Staaten, angesprochen. Die USA sind wohl der einzige „ehrliche Makler“, der zwischen Athen und Ankara für Harmonie sorgen könnte, scheinen aber nicht maximal dazu gewillt zu sein. Man greift wohl ein, wo es um eine Entscheidung im vermeintlichen Eigeninteresse geht wie bei der (permanenten?) Absage an eine israelisch-zyprisch-griechischen Erdgaspipeline durchs östliche Mittelmeer. Stattdessen hat die Biden-Administration angeblich Trans-Mittelmeer-Stromtrassen nach Griechenland vorgeschlagen, die eher dem Klimawandel-Narrativ der regierenden Demokraten entsprechen.
Mit der Entscheidung gegen die Eastmed-Pipeline schien Washington die Türkei erneut ins Spiel zu bringen. Mit der Errichtung neuer und dem Ausbau bestehender Militärbasen an der griechischen Ägäis setzen die Amerikaner Erdogan aber einem weiteren Stresstest aus. Die Basen – eine besonders bedeutende liegt im östlichen Alexandroupoli – gelten als Misstrauenssignal an Ankara. Die Türkei wird so bei Truppentransporten nach Osteuropa übergangen. Daneben könnte Griechenland am Ende Zugang zu den begehrten F-35-Jets bekommen, die man der Türkei wegen des Erwerbs russischer Flugabwehrsysteme noch immer vorenthält.
Zu alldem kommt hinzu, dass die Türkei sich gegenwärtig in einem Grundsatzdisput mit den NATO-Partnern befindet. Die Aufnahme Schwedens und Finnlands hat Erdogan mit brüsken Worten abgelehnt, weil die beiden nordischen Länder die PKK und ähnliche Organisationen nicht in gebührender Weise ächteten. Die NATO sei aber ein Sicherheitsbündnis, nicht eine Unterstützerorganisation für terroristische Gruppen. Andererseits sind mit der syrisch-kurdischen Miliz YPG auch die USA eng verbandelt. Für Ankara ist auch sie nur ein Arm der türkisch-kurdischen PKK. Erdogan verlangt nun „bindende Schriftstücke“, die einen Meinungswechsel in Stockholm und Helsinki belegen. Die Frage ist, was verlangt er von Washington?
Tatsächlich könnte man den Eindruck gewinnen, dass die USA unter der zweifelhaften Führung Joe Bidens im internationalen Konzert gerade herumtorkeln wie eine bauchige Weinflasche. Zuletzt kündigte Erdogan auch noch eine neue Militäroperation in Syrien an, die jeden Tag beginnen könne. Erdogans Ziele sind in diesem Fall offen expansionistisch: Eine 30-Kilometer-Zone soll zur Wiederansiedlung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei dienen und zugleich – für ihn praktischerweise – von kurdischen YPG-Milizen gesäubert werden.
Kommt der heiße Sommer? Was tun die EU-Partner?
Was erwartet man nun in Griechenland von diesem Sommer? Neue Bohrversuche türkischer Erkundungsschiffe könnten kommen – in der Ägäis oder auch vor Kreta, wo ein Memorandum mit Libyen der Türkei (aus eigener Sicht) Ansprüche verschafft. Ähnliche Versuche haben zweimal zur Alarmierung der griechischen Streitkräfte und zur blitzartigen Heimreise des griechischen Verteidigungsministers geführt.
Ins Visier nimmt die Türkei daneben immer gezielter die griechischen Ägäisinseln, die demilitarisiert werden müssten. Das passt zur versponnenen Blaue-Heimat-Theorie, die türkische Einflusszonen vorsähe, die auch größere Inseln wie Lesbos oder Rhodos einfach verschlucken, weil nur die Festlandmassen für die Vermessung hergenommen werden. Auch das ist Ausdruck des türkischen Expansionismus. In der Folge könnte es Störungsversuche gegen griechische Truppentransporte geben, vor allem in der nordöstlichen Ägäis (Lesbos, Chios usw.) und der Dodekanes um Rhodos. Und die Aufgriffe von Migranten sind im ersten Dritteljahr 2022 schon leicht gestiegen gegenüber dem Vorjahr. Dieses Druckmodell steht Erdogan ja auch noch zur Verfügung.
Insofern erfreulich wäre eine klare Zurückweisung türkischer Gebietsansprüche von seiten der europäischen Partner. Emmanuel Macron hat nicht gezögert, Griechenlands „Souveränität“ in vielleicht etwas wolkiger Weise zu unterstützen. Es handelt sich bekanntlich um eines der Lieblingsworte von Président Jupiter. Sogar Kanzler Scholz ließ sich, untypisch für eine deutsche Bundesregierung, zu einer Solidaritätsadresse hinreißen, indem er erklärte, dass türkische Kampfjets nichts über griechischen Inseln zu suchen hätten. Obwohl man wie immer nicht weiß, was aus den dürren Worten folgen soll. Nun, Scholz hat ja auch andere Sorgen als unsichere Grenzverläufe in der Ägäis… Vielleicht besteht aber doch Hoffnung auf eine gemeinsame EU-Position in diesen Fragen, die auch Konsequenzen in der Außenwelt hätte.