Tichys Einblick
Geschichtspolitik am Schwarzen Meer

Erdogan droht Griechen mit nächtlicher Invasion

Kurz vor zwei Jahrestagen teilte Präsident Erdogan erneut gegen Griechenland, USA und Nato aus. Er drohte gar mit einer nächtlichen Invasion griechischer Inseln: eine denkwürdige Art, sich an den Brand von Smyrna (9.9.1922) und das Pogrom von Konstantinopel (6.9.1955) zu erinnern. Der griechische Außenminister reagierte ungläubig, aber umso entschiedener.

IMAGO / ZUMA Wire

Erdogan kann es nicht lassen. Er muss, gleich aus welchem Grund, immer wieder gegen den westlichen Nachbarn Griechenland austeilen. Die Friedenspfeifenwolken vom Frühjahr, als der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis den türkischen Präsidenten in Istanbul traf, sind inzwischen so gründlich verflogen, wie nur ein Lüftchen verfliegen kann. Erdogan legt erneut seine alte Platte auf, die außerdem einen Kratzer hat.

Inzwischen hat er ein Repertoire handfester Drohungen parat, die er regelmäßig wiederholt und ausschmückt. Jede neue „Ausschmückung“ hat das Potential zum Aufreger, und genau das könnte das Kalkül hinter diesem Vorgehen sein. Die blutige Geschichte der letzten hundert Jahre dient dem türkischen Präsidenten dabei als Klaviatur, auf der sich spielen lässt. Was er am vergangenen Wochenende in Samsun am Schwarzen Meer sagte, das taugte allerdings zum Aufreger, zumal zwei sensible Jahrestage bevorstanden, was das griechisch-türkische Verhältnis angeht.

Vom 6. bis zum 7. September 1955 fand das sogenannte „Pogrom von Istanbul“ statt, das inzwischen 67 Jahre her ist. Am 9. September jährte sich zum 100. Mal die „Kleinasiatische Katastrophe“ von 1922, als die Armee von Mustafa Kemal, alias „Atatürk“, brandschatzend auf Smyrna vorrückte, um die wirtschaftlich und kulturell blühende Hafenstadt durch ein großes Feuer dem Erdboden gleichzumachen. Die griechische, armenische und jüdische Bevölkerung wurde bei dieser Gelegenheit „ins Meer geworfen“, wie die populäre Erinnerungsfigur lautet. In der Stadt hatten sich zudem zehntausende Flüchtlinge aus der näheren Umgebung angesammelt. Natürlich standen Schiffe bereit, aber sicher nicht für alle.

Auf die Besetzung Smyrnas durch Atatürk folgte letztlich die Revision des Vertrags von Sèvres, der sehr zum Nachteil der Türkei gewesen war, und seine Ersetzung durch das Abkommen von Lausanne, das eine faire Balance zwischen den Ägäis-Anrainern suchte: Das Festland ging an die Türkei, die Inseln zuallermeist an Griechenland.

Außenminister Dendias: „Können unser Vaterland allein verteidigen“

In dem Ausschnitt seiner Rede, der als Twitter-Video leicht zugänglich ist, wendet sich Erdogan nach kurzem Vorgeplänkel den imaginären Griechen in seinem Kopf zu. „Eure Besetzung der Inseln bindet uns nicht“, ruft er ihnen zu. „Wenn die Zeit kommt, werden wir tun, was nötig ist. Wir können plötzlich mitten in der Nacht kommen.“ Keiner dieser Sätze ist neu, das bemerkt auch Erdogan, er hat sie schon viele Male gesagt. Aber zusammen ergeben sie einiges an Sprengpotential. Denn was ist das für eine griechische „Besetzung“ von Inseln wie Lesbos, Chios oder Rhodos? Welche Schritte sind die aus türkischer Sicht schon bald „nötigen“? Ist die Drohung mit der Insel-Invasion überhaupt in irgendeiner Weise ernstzunehmen?

Der griechische Außenminister Nikos Dendias erklärte vor dem Parlament, dass Erdogans Worte von einer „Besetzung der griechischen Inseln“ jenseits des Inakzeptablen seien. „Kraftmeiereien“ seien das, die keiner Kritik standhielten, ja noch nicht einmal einer offiziellen Antwort wert seien: „Billige Drohungen darüber, wann irgendjemand kommt, berühren das griechische Volk nicht.“ Man werde nicht mit ähnlichen Drohungen antworten, um nicht eine Frage von Prinzipien, des internationalen Rechts in einen „orientalischen Streit“ ausarten zu lassen. Natürlich sei Griechenland aber in der Lage, sich auch allein gegen einen solchen Angriff zu wehren: „Natürlich können wir unser Vaterland auch alleine verteidigen, das ist ja unsere Pflicht, alles andere wäre schlimm. Kein ernsthaftes Land überträgt seine Verteidigung anderen Mächten, und wenn sie ihm noch so freundlich gesinnt sind.“ Bei einem Treffen mit seiner französischen Amtskollegin hatte Dendias darauf hingewiesen, dass es die Türkei sei, die derzeit auf Zypern Teile eines EU-Mitgliedsstaats besetzt halte.

Zu Anfang seiner Rede hatte Erdogan bestätigt, dass man sein Volk auch als „verrückte Türken“ titulieren darf: „Diese Leute haben recht. Die verrückten Türken sind unterwegs und wachsen weiter.“ Das mag sich auf den türkischen Kinderreichtum beziehen – die Wirtschaftsaussichten der Türkei wachsen derweil nicht. Man kann auch diese Aussage als implizite Kriegserklärung an alle Nachbarn verstehen.

Erdogans „wir“ als Amalgam der Türken mit ihrem Anführer

Das politische Athen gehört sicher zu den Adressaten dieser Rede, aber daneben wendet sich Erdogan auch an seine Wähler, die spätestens im Juni 2023 über ihn und seine Amtsführung abstimmen werden. Immer wieder spricht er in seinen Reden von einem obskuren „wir“. Das dürfte aber kein Pluralis majestatis sein, sondern eine imaginäre Einheit, ein Amalgam aus ihm selbst und dem türkischen Volk: Die Entscheidungen Erdogans sind für ihn zugleich Entscheidungen aller Türken – Entscheidungen, die aus dem Denken der Türken entstehen.

Es geht um eine kollektivistische Phantasie, die im diametralen Gegensatz zu einer freien, offenen Gesellschaft steht, wie Europa und der „Westen“ sie sich errungen haben. Aber auch wenn es diese Einheit aus Volk und Präsident wirklich in dieser Form gäbe, müssten Erdogans Vorschläge noch lange nicht im besten Interesse der Türkei oder der Türken liegen – um von den Interessen anderer Völker zu schweigen. Das „wir“ unserer Regierenden ist übrigens ein anderes, das eigentlich ständig zwischen verschiedenen Kollektiven (Volk, Regierung, Partei) hin und her schwankt. Erdogans „wir“ ist beständig in seiner Usurpation des türkischen Volkswillens durch den Präsidenten.

Wenige Tage später traf sich Erdogan in Bosnien mit Imamen und erinnerte auf einer Pressekonferenz wiederum an seine Worte in Samsun: „Es ist kein Traum. Wenn ich sage, dass wir plötzlich in einer Nacht kommen können, dann können wir das.“ In der Zwischenzeit verkündete sein Innenminister Süleyman Soylu, dass die Türkei weder die USA noch Europäer brauche, die sein Land spalten wollten – nämlich mittels des Konflikts mit der kurdischen Minderheit. Alles bestätigt die Erkenntnis, dass die Türkei heute noch weit weg von einer offenen Gesellschaft westlichen Zuschnitts ist.

Erdogan zweifelt die territoriale Integrität des Nachbarlandes an

Erstaunlich bleibt, dass Erdogan in Samsun davon sprach, dass die griechischen Ägäis-Inseln von Athen „besetzt“ seien, was schlicht nicht stimmt. Hier hat sich der Staatsführer in seiner eigenen Propaganda verlaufen und kommt so von einer strittigen Behauptung zur nächsten.

Die Erklärung von Erdogans Gedankengespinst: Seit Jahr und Tag behauptet der Staatsführer, dass Griechenland die Ägäis-Inseln zu Unrecht, entgegen dem Lausanner Vertrag militarisiert habe. Darüber könnte man durchaus reden. Derzeit fehlen Angaben aus Athen, um den Vorwurf zu bestätigen oder zu entkräften. Und gute, wirksame Gründe für die Stationierung von Militär und Flottenteilen könnten vorliegen oder nicht. Mit seiner neuen Rede geht Erdogan aber noch einen Schritt weiter: Zur Forderung einer vollständigen „Demilitarisierung“, die in keinem der griechisch-türkischen Verträge festgeschrieben ist, kommt die grundsätzliche Anzweiflung der griechischen Souveränität über die Inseln an sich hinzu.

Tatsächlich existieren Formulierungen zur „Demilitarisierung“ der Inseln in verschiedenen Abkommen, auch dem von Lausanne. Dass Griechenland die darin genannten Bestimmungen verletzt, ist aber keineswegs Konsens. Der Lausanner Vertrag von 1923 und Folgeverträge unmittelbar vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, als Italien die Dodekanes an Griechenland abgab, billigten Griechenland fast alle Ägäis-Inseln zu – bis auf Gökceada-Imvros und Bozcaada-Tenedos unweit der Dardanellen, die wie die einst griechisch besiedelten Gebiete Kleinasiens an die Türkei fielen. Ein absolutes Bewaffnungsverbot gibt es aber auch laut den Verträgen für keine der Ägäis-Inseln. Vielmehr werden teils Flottenbasen ausgeschlossen, teils die Landtruppen auf ein Maß begrenzt, das auch auf den Inseln ausgebildet werden kann. Es sind also durchaus dehnbare Bestimmungen.

Türkische Kampfflieger vor Kreta

Kaum Interpretationsspielraum gibt es dagegen da, wo Überflüge von türkischen oder griechischen Flugzeugen über dem jeweils anderen Territorium ausgeschlossen werden. Hier wirft Griechenland der Türkei ein Vielfaches an Luftraumverletzungen vor, und das seit Jahrzehnten. In letzter Zeit versucht die Türkei, es den Griechen gleichzutun, und beschwert sich ebenso über Luftraumverletzungen – allerdings bisher über weitaus weniger, als es Griechenland tut. So viel Stolz behält Erdogan dann doch. Er will nicht als der quasi „Schwächere“ dastehen, dann lieber als der Aggressor.

Das neueste Husarenstück der Türken geht noch einen Schritt weiter: Bei Kreta sollen türkische Kampfflieger laut der Agentur Anadolu ins Visier von griechischen S-300-Abwehrraketen gekommen sein, die aufgrund einer alten Übernahme auf Kreta zum Einsatz kommen. Diese Abwehrraketen stammen aus russischer Produktion und wurden ursprünglich von der Republik Zypern gekauft, später im Nato-Rahmen an Griechenland weitergegeben. Die Türkei forderte US-Sanktionen gegen den Einsatz der russischen Raketen, was Washington ablehnte.

Etwas Absurderes als die „Verurteilung“ Athens für den Einsatz von Abwehrraketen auf seinem eigenen Territorium kann es wohl kaum geben. Aber auch bei dem S-300-Vorfall gibt es wieder einmal mehrere Ebenen. Denn zum einen untermauert der Kampffliegereinsatz bei Kreta offensichtlich das türkisch-libysche Memorandum, also den türkischen Expansionismus im östlichen Mittelmeer. Die Türkei versucht mit Manövern auch Druck auszuüben, der letztlich zu einer „gemeinsamen“ und „gerechten“ Ausbeutung von Bodenschätzen im östlichen Mittelmeer führt.

Zum anderen versucht Erdogan so das Licht von den eigenen S-400-Raketen abzuwenden, die er (auch als Spitze gegen Nato und USA) direkt bei den Russen erworben hat. Mit dem möglichen Einsatz der S-400-Abwehrraketen wird die Nichtbelieferung der Türkei mit dem amerikanischen Tarnkappen-Kampfflugzeug der neunten Generation, der Lockheed Martin F-35, begründet. Derzeit nutzen neben den USA neun weitere Staaten die Kampfflieger. Am 14. März wurde bekannt, dass die deutsche Bundesregierung die Anschaffung plant. Auch Kyriakos Mitsotakis ist an den Tarnkappenfliegern für sein Land interessiert.

Die Türkei fühlt sich auch von US-Flottenbasen gestört

Man kann in all dem die intensive Rivalität zweier Nachbarn erkennen, die gewissermaßen um den Rang einer inoffiziellen Führungsmacht in der Region kämpfen. Griechenland versucht es als südöstlicher Flügel der Nato und Bindeglied in den Nahen Osten, etwa auch zu Israel, die Türkei eher als freier Spieler mit neo-imperialen und irredentistisch-expansionistischen Anwandlungen.

Von dem S-300-Vorfall sprach Erdogan auch in Samsun, als er ein wenig Stimmung gegen den anderen Nato-Verbündeten, die USA, machte. „Wir müssen genau wissen“, so rief er seinen Wählern zu, „wer Freund und wer Feind ist. Schicken die Vereinigten Staaten nicht in dieser Zeit Waffen und Kampfflugzeuge nach Griechenland?“ Daneben würde die Türkei durch (russische) S300-Abwehrraketen auf Kreta „herausgefordert“, wobei nicht klar ist, ob Erdogan sich hier von den USA oder von Athen herausgefordert fühlt, die Griechenland in der Sache unterstützen. Absonderlich ist seine Rede gewiss, denn dass ein Nato-Land das andere bedrohen oder herausfordern wollte, ergibt wohl nur in seinem Kopf (und in seinen Volks- und Vorwahlkampfreden) Sinn.

Dann aber kommt ein weiteres Versatzstück von Erdogans antigriechischen Reden. „O Griechen!“, ruft er wieder seiner fixen Idee von dem ihn provozierenden Nachbarvolk zu. „Schaut auf die Geschichte. Wenn ihr so weiter macht, werdet ihr einen hohen Preis bezahlen.“ Das sind unverhüllte Drohungen, die gerade in diesen mit historischer Erinnerung getränkten Tagen verstanden werden. So spielt Erdogan für gewöhnlich auf die Ereignisse des 20. Jahrhunderts an – und er meint damit türkische Kriegsverbrechen, die sich gegen die Zivilbevölkerung richteten, gegen jene Griechen, die damals noch Untertanen des Osmanischen Reichs waren. Das ist unerhört und sollte zu seiner konsequenten Ächtung durch alle „demokratischen“ Staaten führen. Jedenfalls aber muss ihm und seinem Expansionismus nun vom „Westen“ insgesamt Paroli geboten werden.

Anspielungen auf das „Ins-Meer-Werfen“ der christlichen Kleinasiaten

Die planvolle Auslöschung des kleinasiatischen Griechentums hatte lange vor dem 9. September 1922 begonnen. Seit 1913 wurden Griechen deportiert, zuerst im ostthrakischen Vorland von Konstantinopel, dann im westlichen Kleinasien, schließlich auf der gesamten anatolischen Halbinsel. Doch der Mittel zur Tilgung des christlichen Bevölkerungselements, egal ob griechisch oder armenisch, waren viele: Zwangsarbeit, Todesmärsche über hunderte Kilometer, bei denen unweigerlich ein Großteil starb. Schließlich kam es auch zu Erschießungen und dem Abbrennen ganzer Orte. Hinzu kamen Hungersnöte im Umfeld der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russen, Türken und Griechen. Insgesamt kann man von Verlusten in Höhe eines Drittels der christlichen Bevölkerung Kleinasiens ausgehen.

Erdogan sind diese Zusammenhänge wohlbekannt, wie immer erneute Anspielungen auf das „Ins-Meer-Werfen“ der christlichen Kleinasiaten beweisen. Es war folglich vor diesem Hintergrund, dass Erdogan in Samsun an der einst griechisch besiedelten Schwarzmeerküste sprach. In der Antike hieß der Ort Amisos, unter osmanischer Herrschaft gehörte er zum Vilâyet Trapezunt, in dem laut offiziellen Zahlen 350.000 christliche Griechen lebten – neben 45.000 Armeniern und einer Million muslimischer „Türken“, die freilich ganz verschiedenen Ethnien angehörten. Im Vilâyet Aydin rund um Smyrna (Izmir) an der Westküste Anatoliens lebten gar 629.000 Griechen – ein gutes Drittel der lokalen Bevölkerung. Das „ungläubige Smyrna“ (gâvur Izmir) war die Wiege des Liedgenres Rembetiko, das Griechen, Türken und Juden gleichermaßen zelebrierten und das nur in Griechenland überlebte. Die „Befreiung“ von Smyrna-Izmir feierten die heutigen Einwohner der Stadt zu Hunderttausenden.

Laut der amtlichen osmanischen Statistik lebten im Jahr 1912 insgesamt 1,8 Millionen Griechen in Kleinasien, das waren 18 Prozent der Gesamtbevölkerung. Hinzu kamen die Griechen Ostthrakiens und des europäischen Teils von Konstantinopel, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertrieben wurden, vor allem durch das Pogrom von 1955, dem eine vorgebliche „Emanzipation“ des Islams in der kemalistischen Republik Türkei vorausging. In Erdogans Worten ging es um all das, wie jedem Einwohner der Region bekannt ist. Nur für westliche Ohren muss man die einzelnen Anspielungen vielleicht noch entschlüsseln.

Außenminister Nikos Dendias formulierte die Quintessenz der Geschichte so: „Im Gegensatz zu der blühenden muslimischen Minderheit in Thrakien sind die wenigen verbliebenen Griechen in Konstantinopel heute ein unbestreitbarer Beweis für die Behandlung, die jedes Land seinen Minderheiten vorbehält.“

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