Tichys Einblick
Provokationen zu Weihnachten

Erdogan droht Athen und kritisiert Griechenlands Haltung gegenüber Migration

Die illegalen Einreisen aus der Türkei nach Griechenland und Zypern reißen nicht ab. Doch Erdogan greift Athen wegen seines angeblich harten Umgangs damit an. Griechenland setzt seinen Kurs – für Grenzschutz, gegen die einschlägigen NGOs – fort.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 21. Dezember 2022 in Ankara, Türkei

IMAGO / APAimages

Nach allgemeiner griechischer Auffassung hat der türkische Staatspräsident Erdogan für sich eine Art gefunden, um auch von christlichen Feiertagen wie Weihnachten zu profitieren. In die Festtagsstille hinein sagt er etwas möglichst Empörendes, um auch im Nachbarland sicher mediale Wellen zu schlagen. Dieses Jahr gab es gleich mehrere Versuche in dieser Richtung. Erst drohte Erdogan mit Raketenflügen gegen Griechenland: Das in der Türkei produzierte Modell „Tayfun“ könne auch die Hauptstadt Athen treffen, wenn sich Griechenland nicht ruhig verhalte, bestätigte Erdogan in einer seiner vor Patriotismus und übersteigertem Selbstgefühl glühenden Wahlkampfreden. Dass er bei den Wahlen des kommenden Jahres auch verlieren kann, zeigte sich schon an der Inhaftierung seines Gegenspielers Ekrem Imamoglu aus nichtigem Grund. Ein Gericht verhängte Politikverbot gegen den Kemalisten.

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Kurz vor Weihnachten stellte sich Erdogan nun auf die Seite von unbestimmten „Migranten“ und kritisierte den Umgang der konservativen Regierung in Athen mit dem Problem illegale Migration: „Die Haltung Griechenlands gegenüber den Migranten hat das Niveau der Barbarei erreicht.“ Die griechischen Aufnahmezentren erinnerten an „Nazi-Lager“.

Allerdings wären diese Aufnahmeeinrichtungen gar nicht nötig, wenn die vergleichsweise konservativ regierte Türkei etwas mehr zum Grenzschutz beitrüge, statt sich als „unsicheres Land“ an den Grenzen Europas zu gebärden (ähnlich wie es Emmanuel Macron am Ärmelkanal tut). Was Erdogan am meisten verwundert: Die „westlichen Länder“ zeigten keine substantielle Reaktion auf das griechische Verhalten und die vorgebliche griechische Härte.

Nach jahrelangem Laissez-faire zeigen die griechischen Behörden unter Führung der konservativen Regierung von Kyriakos Mitsotakis die Bereitschaft, gegen illegale Migration vorzugehen. In diesen Tagen wurde Anklage gegen den Gründer und führenden Kopf der Migrations-NGO „Aegean Boat Report“ erhoben: Der Norweger Tommy Olsen hat mutmaßliche Bootsüberfahrten in der Ägäis erleichtert, indem er den Bootsführern (= Schleppern) Hinweise auf Hindernisse, Zielorte und zweckdienliches Verhalten nach der Anlandung (= erst einmal im Wald verstecken) gab. Daneben steht auch der Direktor des „Greek Helsinki Monitor“, der Grieche Panajotis Dimitras, unter Anklage. Beiden wird die Gründung einer kriminellen Organisation und Beihilfe zur unerlaubten Einreise vorgeworfen.

Die Staatsanwaltschaft der Ägäis-Insel Kos stellt zudem klar, dass die beiden Angeklagten hier „erwerbsmäßig“ gehandelt hätten, denn aus den bestehenden Strukturen – insbesondere beim „Greek Helsinki Monitor“, der als griechischer Arm der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte gilt – gehe hervor, dass die begangenen Taten Wiederholungscharakter haben sollten und dem Gewinn von Einnahmen dienten.

Grenzpolizist: Zaun hat Wirkungsgrad von 100 Prozent – Anwohner: Im Norden hält das Chaos an

Daneben gab die konservative Regierung schon im August bekannt, den massiven Stahlpfeilerzaun an der Landgrenze zur Türkei im kommenden Jahr um 80 Kilometer erweitern zu wollen, gleichgültig ob mit oder ohne Unterstützung der EU-Kommission. Griechenland – und mit ihm der Schengenraum – könne kein „Weinberg ohne Zaun“ bleiben, erklärte Migrationsminister Mitarakis, eine griechische Redensart zitierend, im Sommer. Zudem herrsche kein Krieg in der Türkei.

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Das fünf Meter hohe Bauwerk, dessen Fundamente bis zu zehn Meter in die Tiefe reichen und das derzeit 27 Kilometer Grenze abdeckt, würde so auf über 100 Kilometer Länge erweitert. Damit wären weitere Schlüsselstellen der insgesamt 192 Kilometer langen Grenze durch den Zaun geschützt. An einigen Stellen sei der Zaunbau aber durch natürliche Gegebenheiten erschwert.

Der Erweiterungsbau erweist sich als umso nötiger, je deutlicher die anhaltende Schleppertätigkeit an der Landgrenze zur Türkei wird. Kurz vor Weihnachten war erneut eine Bande aufgeflogen, die die illegalen Migranten teils nach Athen brachte und dort in Flugzeuge nach Westeuropa setze. Daneben wurde auch in diesem Fall die Balkanroute gefüttert.

Dabei soll der Stahlzaun selbst durchaus gute Arbeit leisten. Das behaupten jedenfalls ein Polizist und Anwohner in einer Reportage für das US-Fernsehnetzwerk ABC News. So behauptet der Grenzpolizist Konstantinos Tsolakidis gegenüber dem Associated-Press-Reporter Derek Gatopoulos, der bestehende Zaun im südlichen Flussverlauf sei undurchdringbar, der Wirkungsgrad liege bei 100 Prozent. Auch die Grenzanwohner scheinen zufrieden mit den bestehenden Teilabschnitten der Stahlbetonbarriere, so der 41-jährige Landwirt Stavros Lazaridis: „Bevor die Mauer gebaut wurde, hatten wir eine Menge Probleme. Teilweise durchquerten mehr als 200 oder 300 Menschen an einem einzigen Tag das Dorf. Die Sache war außer Kontrolle.“ Weiter im Norden, wo es noch keine Mauer gebe, seien die Zustände „immer noch verrückt“. Alte Menschen, die in jenen Dörfern leben, viele von ihnen allein, lebten in Angst, das Haus zu verlassen.

Der AP-Bericht selbst ist durchaus aus der Sicht der Migranten geschrieben, schielt sicher auch auf die Mauerbauten im Süden der USA, wo das Migrationsthema gerade wieder Fahrt aufzunehmen scheint. Aber Gatopoulos streute auch Spuren der Wahrheit ein, etwa die zitierten Worte des Grenzbauern Lazaridis.

Die Grenze ist nicht mehr nur an der Grenze

Daneben ist „die Grenze“ auch in Griechenland längst nicht mehr nur an der Grenze. Das ist ein kombiniertes Ergebnis der Regierungszeiten von Alexis Tsipras (Syriza) und Kyriakos Mitsotakis (Nea Dimokratia). Durch neu errichtete Migrantenheime ist die (illegale) Migration inzwischen in allen Regionen Griechenlands angekommen, am stärksten natürlich in den städtischen Ballungszentren.

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So erstaunt es nicht, dass fast zwei Drittel der Griechen die Anstrengungen für mehr Grenzschutz unterstützen. Nur 8,1 Prozent sind laut ABC News anderer Ansicht. Auch die Syriza-Wähler unterstützen die Erweiterung des Zauns zu mehr als 60 Prozent – was darauf hinweist, dass der ultralinke Syriza erst in der Finanzkrise für breitere Schichten wählbar wurde und noch immer als Ersatz der älteren sozialistisch-sozialdemokratischen Pasok-Bewegung dient (neuerdings Pasok-Kinal genannt und mit anderen Mitte-links-Parteien vereint).

Premierminister Kyriakos Mitsotakis sagte nun: „Der Zaun ist effektiv. Auch Bulgarien sollte einen bauen. Europa im Allgemeinen muss leider in Zäune investieren, und leider ist die Kommission nicht bereit, diese Projekte zu finanzieren, die wir aber in jedem Fall durchführen werden.“ Außerdem müsse die Türkei endlich wieder Rückführungen aus Griechenland akzeptieren.

Erdogan: Griechenland „sperrt“ illegale Migranten „ein“

Der türkische Präsident reagierte auf seine Weise auf den griechischen Kampf gegen illegales Schleusertum. Recep Erdogan kritisierte die Erweiterung des Grenzzauns in scharfen Tönen: „Anstatt eine Lösung für die Krise zu finden, sperren sie die Migranten hinter Stacheldraht ein.“ Ein ebenso absurder wie demaskierender Vorwurf: Dass ein Grenzzaun Migranten „einsperrt“, ist sachlich falsch – es sei denn, den Migranten ist der Rückweg in die Türkei versperrt. Dabei hat auch die Türkei Grenzbarrieren an ihrer Ostgrenze gebaut und unterhält eher schlechter ausgestattete Aufnahmezentren.

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Im griechischen Regierungshandeln will Erdogan „die primitivsten Reflexe des Faschismus“ erkennen sowie das Resultat einer „krankhaften Wahrnehmung der Muslime“. Zugleich kritisierte er die relative Offenheit europäischer Länder für die kurdische PKK und die national-islamische Gülen-Bewegung, eine weitere Abspaltung jenes politischen Islams, den auch Erdogan so wortmächtig vertritt.

Migrationsminister Mitarakis befand die Aussagen Erdogans für „heuchlerisch“. Griechenland habe heute eine „strenge, aber gerechte Migrationspolitik“. Die chaotischen Zustände unter der Syriza-Regierung gehörten der Vergangenheit an. Zu den Aufnahmezentren in der Ägäis sagte Mitarakis: „Die dortigen Einrichtungen verfügen über Sicherheit und Ordnung und sind so auch sicher für die Inseln.“ In den fünf Ägäis-Einrichtungen leben derzeit 4.000 Asylbewerber. Die Belastung der dünnbesiedelten Inseln ist damit noch immer deutlich für die Anwohner spürbar.

Ähnlich ist es übrigens auf Zypern, dessen südlicher Teil ebenfalls stark von Grenzübertritten vom türkisch besetzten Nordteil betroffen ist. Insgesamt erfuhr die östliche Mittelmeerroute laut Frontex eine Steigerung von 116 Prozent bis November 2022 gegenüber den Vorjahreswerten. Die Hauptherkunftsstaaten waren Syrien, Afghanistan, Nigeria und Kongo (Kinshasa). Diese Afrikaner bilden inzwischen stattliche Gemeinschaften im türkisch kontrollierten „Nordzypern“. Dass die Türkei dies zulässt, zeigt, wie sehr die Regierung dort selbst Opfer einer Destabilisierung ist, die sie selbst durch attraktive Reisepakete mit herbeiführt.

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