In Großbritannien stehen noch in diesem Jahr, vermutlich im Herbst, Wahlen zum Unterhaus an. Insofern kommt den englischen Lokalwahlen eine besondere Rolle als Stimmungstest zu. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die Bürgermeisterwahl in London, die aber längst nicht so spannend war, wie sie manche konservative Kommentatoren machen wollten. Am Ende gewann Khan mit der lange vorausgesagten deutlichen Mehrheit, gewann 275.000 Stimmen mehr als die konservative Ratsfrau Susan Hall. Die Meinungsumfragen war zuletzt knapper geworden, einige Themen nagten an der Popularität des Bürgermeisters, darunter der Anstieg der Messerkriminalität und die Verkehrspolitik, in der er auf Einschränkungen gegen Verbrenner setzte.
Die Wahlbeteiligung in London war allerdings die schwächste seit 2012 und lag bei 40,5 Prozent: Keiner der Hauptkandidaten konnte anscheinend übermäßig für sich einnehmen. Aber die eigentliche Frage war gar nicht mal, ob der Muslim Sadiq Khan weiter über „Londonistan“ herrschen kann, wie bösartige Zungen die Hauptstadt längst nennen, auch wenn nicht alle grausamen Messerangriffe von Angehörigen ethnischer Minderheiten begangen werden und nicht alle Probleme von ihnen herrühren.
Vielmehr interessiert die Lage im Land insgesamt, weil man von dort die wirklich neuen Signale für den Herbst erwartet oder erhofft. Und da scheint sich in der Tat eine politische Wende anzukündigen: Die Konservativen verloren fast die Hälfte ihrer Ratssitze und behalten gerade einmal 513 der umkämpften Sitze in den Stadt- und Gemeinderäten (Stand Samstag, 17 Uhr). Labour gewann rund 200 dazu und bekommt damit 1.140 Sitze. Die Liberaldemokraten konnten etwa ein Viertel Sitze dazugewinnen (jetzt 521). Auch die Grünen legten zu und konnten 181 Sitze halten oder gewinnen (rund 70).
Nur ein kleiner Schwenk nach links?
Auf den ersten Blick zeigt sich also ein Schwenk nach links, hin zu Ratsmehrheiten von Labour, Lib Dems, die vielleicht noch von Grünen verstärkt werden. Es gibt aber noch eine Partei, die ein deutliches Wachstum verzeichnet. Das sind die sogenannten „Unabhängigen“, die über 90 Sitze dazugewannen und so auf mindestens 225 neue Ratssitze kommen. Es handelt sich dabei trotz des Namens („Unabhängige“) um eine weitere Partei, so lose sie auch organisiert sein mag.
Wie die BBC dank eigenem Local Democracy Reporting Service weiß, verdankt sich der Erfolg der Gruppe in Bradford vor allem der Unzufriedenheit mit der Labour-Position zum Gaza-Konflikt. Abgewählt wurden Labour-Ratsmitglieder wie Abdul Jabbar, der merklich verärgert war und Kommentare gegenüber der Presse ablehnte.
Der wiedergewählte Ratsmann der Unabhängigen, Ishtiaq Ahmed, spricht von einer weitverbreiteten Enttäuschung durch Labour, das Bradford in einen „untragbaren Zustand“ überführt habe, angefangen „von der finanziellen Instabilität der Stadtverwaltung bis hin zum Versagen beim Schutz unserer schutzbedürftigsten Kinder“. Außerdem hätten aber Keir Starmers „Handlungen während des Gaza-Konflikts zu einer wachsenden Unzufriedenheit unter den Wählern geführt, die das Gefühl haben, dass ihre Stimmen zu lange als selbstverständlich angesehen wurden“. Muslime als Stimmenbeschaffer für Labour, das könnte demnach auch im Herbst vorbei sein.
„Inschallah, das ist, wo es alles begann“
Ein weiterer Kandidat, Rizwan Saleem (unten im Twitter-Video), der nun als Stadtrat gewählt wurde, bekennt sich in einem seiner TikTok-Videos offen zum Islam als dem Punkt, „wo es alles begann“. Saleem gibt es auf Wahlplakaten mit Anzug und Krawatte, aber auch im TikTok-Video im traditionellen Gewand. Mehrmals benutzt er islamische Segensformeln, um dann hervorzuheben, wie wichtig eben dieses Element für ihn sei. Man habe die „Labour-Maschine“ geschlagen. Auf der Liste der Unabhängigen ist daneben auch der Ex-Lib-Dem-Abgeordnete David Ward in den Stadtrat von Bradford gewählt worden, der schon seit Jahren Partei für die Palästinenser ergriffen hat und seine Partei wegen antisemitischer Kommentare verlassen musste.
Mindestens ein Viertel der Bevölkerung in Bradford ist muslimisch. Die Gegend insgesamt ist von außerordentlichen Vorfällen betroffen, die dort aber längst die Regel zu sein scheinen: ein Lehrer (aus dem nahegelegenen Batley), der ein Bild des Propheten Mohammed gezeigt hat, um über das Thema Blasphemie zu sprechen, ist zu einem Leben im Versteck verurteilt; ein Schüler (aus Wakefield) musste sich wegen der Beschädigung eines Korans verantworten.
Vor drei Jahren machte Buchautor Ed Husain („Among The Mosques: A Journey Across Muslim Britain“) auf No-Go-Areale für „weiße“ Briten und den Einfluss radikaler islamischer Sekten wie der Deobandi und anderer aufmerksam, die Familien zu besonders strengen Praktiken anregen. Und Bradford und das es umgebende West Yorkshire ist nicht die einzige Gegend, in der es so aussieht. In Orten wie Bolton, Dewsbury oder Blackburn scheint es nicht anders zu sein.
Hamas-Rechtfertigung im Wahlkampf, Allahu akbar nach dem Wahlsieg
Im Stadtrat von Leeds gewann ein gewisser Mothin Ali einen Sitz für die Grünen. Er schlug den Labour-Kandidaten Arif Hussain mit einem Vorsprung von knapp 700 Stimmen. Auf seiner Wahlfeier rief er „Allahu akbar“ und versprach vor einer Palästina-Flagge, dass seine Gruppe nicht zum Schweigen gebracht würde. Was der Gaza-Krieg im Stadtrat von Leeds zu suchen hat, scheint nicht zu den Fragen gehört zu haben, die seine Wähler ihm stellten. Der Kandidat Mothin Ali hatte nach dem 7. Oktober die Täterschaft der Hamas angezweifelt und umgehend vom „Recht zum Zurückschlagen“ der Palästinenser gesprochen.
In der Beinah-Großstadt Oldham in Greater Manchester liegt der Muslimanteil bei einem Viertel. Auch hier wurde Labour geschlagen und verlor zudem die Mehrheit im Rat: Die Partei verlor vier Mandate, die Lib Dems eines, alle fünf wurden von den Unabhängigen gewonnen. Auch hier ist klar, wie die Kandidaten ihre Sitze gewannen: Aisha Kouser zog mit Vote-for-Palestine-Schildern durch die Stadt. Insgesamt blasen die „Unabhängigen“ sehr klar zum Angriff auf Labour, was sie zu einer Art Reform Party für links macht. Wo Reform (derzeit landesweit bei 13 bis 15 Prozent) die Konservativen Stimmen kosten wird, weil die Wähler nicht zufrieden sind mit der Bilanz von Rishi Sunak, da kosten die „Unabhängigen“ Labour bereits einige Siege bei den Lokalwahlen.
Bei den Lokalwahlen konnte die Reform Party allerdings keinen Boden gutmachen. Ein Sitz ging verloren, zwei wurden gehalten. Parteichef Richard Tice schloss daraus, dass das Wahlsystem überholt gehöre. Schon jetzt sei Reform die „wahre Opposition“ zu Labour im Norden, den Midlands und in Wales. Aber die Ergebnisse zeigen eher etwas anderes: Die wahre Konkurrenz für Labour sind die „Unabhängigen“ und die Workers Party of Britain, die ebenfalls wieder einen lokalen Erfolg in Rochdale erringen konnte – erneut mit gazafreundlichen Kandidaten. Doch die Gewinne der offen als Vertreter eines politischen Islam auftretenden „Unabhängigen“ dürften die Strategen in den Parteizentralen mittelfristig weitaus mehr beschäftigen als alles andere an diesen Wahlen.