Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi hat diese Woche einen umfangreichen Report zum gegenwärtigen Zustand der EU vorgelegt. Der Text hat es in sich und zeigt in der Tat recht überzeugend auf, dass der „alte Kontinent“ in so ziemlich jeder denkbaren Beziehung (bis auf die Beglückung durch Neubürger und absurde Klimavorgaben) das Schlusslicht der neuen multilateralen Welt darstellt. Zu wenig Wachstum, zu wenig Wohlstand, zu wenig Fortschritt, zu wenig Verteidigungsfähigkeit – kurzum, es hapert an allen Ecken und Kanten. So weit, so gut: Bei der Krisendiagnose wird Mario Draghi wohl nur wenig Widerspruch finden. Aber es geht ihm natürlich um mehr: Im Zentrum des Textes stehen 170 verschiedene „Forderungen“, dank deren Umsetzung die EU wieder „fit“ gemacht werden solle.
Und auch, wenn der geneigte Leser an dieser Stelle zunächst einmal empört schnaufen dürfte, muss der Verfasser dieser Zeilen gestehen, dass einige der Vorschläge des im angeblich so „sparsamen“ Deutschland höchst unbeliebten Draghis durchaus sinnvoll sind:
- eine bessere Zusammenarbeit bei der Industriepolitik, um Geld in die richtigen Zukunftstechnologien zu pumpen;
- eine intensivere Koordination bei der Verteidigung, um nicht 27 ebenso inkompatible wie schwache Kleinsttruppen zu unterhalten;
- eine Ausweitung von Entscheidungen mit simpler Mehrheit, um nicht eines Tages dasselbe Schicksal wie die polnisch-litauische Republik mit ihrem selbstzerstörerischen „Liberum Veto“ zu erleiden;
- ein Rückbau der Brüsseler Bürokratie, um mehr Innovationsgeist zu fördern;
- eine größere Unterstützung für die Bildung großer Fusionsgruppen, die auch auf dem Weltmarkt echte „Player“ werden können;
- eine Sonderförderung der Automobilbranche, um sie mit derjenigen der USA und Chinas konkurrenzfähig zu halten;
- eine aggressivere Handelspolitik, um den Zugang zu strategischen Ressourcen zu sichern;
- selbst eine entsprechende (natürlich maßvolle) Neuverschuldung, um entsprechende Großprojekte mit echter und nicht nur ideologischer Rendite zu lancieren – wieso nicht?
Aber …! – Nun kommt also das „Aber“, das von Anfang an mitschwang – und gleich in doppelter Weise. Das erste „Aber“: Mehr europäische Zentralisierung macht keinerlei Sinn, wenn sie in Bereichen erfolgt, die heillos durch die herrschende, immer autoritärer auftretende Ideologie der Wokeness verseucht sind. Das ist hier aber der Fall:
- Wenn mit „Zukunftstechnologie“ und „Digitalisierung“ Möglichkeiten zur immer perfekteren Bürgerüberwachung gemeint sind;
- wenn eine gesamteuropäische militärische „Zeitenwende“ de facto nur noch mehr schwangerengerechte Panzerfahrzeuge und kriegsuntaugliche Fregatten impliziert;
- wenn hinter „Fortschritt“ die gotteslästerliche Verbindung zwischen Mensch und Maschine steckt (was kann schon schiefgehen?);
- wenn sich hinter „Menschenrechten“ eine immer weiter ausufernde Gender- und LGBTQ-Bürokratie verbirgt;
- wenn „Wettbewerbsfähigkeit“ nur die weitere Selbstbedienung einiger ultrareicher Oligarchen und die Verarmung der Bürger verschleiert;
- und wenn dazu noch ein wahres Vermögen in den sinnlosen „Green Deal“ mit noch mehr Windrädern und maroden E-Autos fließen soll (Draghi will die EU trotz seiner Skepsis gegenüber der übereilten E-Technologie wortwörtlich zu einem „Leuchtturm der Klimaverantwortung“ machen) –
… dann wäre es allerdings noch besser, dieser EU keine einzige weitere Kompetenz und anstatt der schlankerhand von Draghi verlangten 800 Milliarden Euro (jährlich) keinen einzigen weiteren Cent anzuvertrauen – ganz im Gegenteil.
Und das zweite „Aber“: Die gegenwärtig die EU dominierende Elite hat bei einem signifikanten Teil der Bürger nachhaltig jegliche Glaubwürdigkeit verspielt; man sollte ihr also die Sorge um die wesentlich von ihr selbst verursachten Probleme ebenso wenig zutrauen wie der deutschen SPD ein echtes und nachhaltiges Umschwenken im Migrationskurs. Will sagen: Selbst gesetzt den Fall, nicht nur die im Report enthaltenen Diagnosen, sondern auch die Reformvorschläge würden tatsächlich Sinn machen, sollten trotzdem alle Alarmglocken klingeln – und zwar ziemlich laut.
Wer hat denn durch die erzwungene „Liberalisierung“ der Märkte die Auslagerung unserer Industrien nach China und Indien befördert? Wer hat denn durch naiven Pazifismus und die Trittbrettfahrerpolitik auf dem Militärapparat der Weltpolizei USA den Aufbau einer ernstzunehmenden und eigenständigen EU-Verteidigung versäumt? Wer hat denn durch kontraproduktive wissenschaftspolitische Vorgaben echte Zukunftstechnologien zugunsten von hypertrophierten Ideologieprojekten wie Gender- und Diversitätslehrstühlen beiseitegeräumt? Wer hat denn durch eine völlig verfehlte Klimapolitik im Namen der angeblichen Weltrettung die Verteuerung der Energiepreise erst provoziert? Wer hat denn durch Überregulierung und EU-Vorgaben im Agrar- wie im Industriesektor den Mittelstand zerschmettert? Die Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen, zeigt aber in jedem Fall, dass es hieße, den Bock zum Gärtner zu machen, wenn man diese EU-Elite mit der Lösung der Probleme beauftragen würde, die sie selbst wesentlich verursacht hat.
Freilich: Man wird – völlig zu Recht – einwenden müssen, dass diese Argumentation nicht nur auf wesentliche Teile der EU-, sondern auch der nationalen Eliten zutrifft. Denn die EU ist, im Gegensatz zu dem, was oft von rechts- wie linksaußen zu hören ist, eben nicht ein Raumschiff aus einer anderen Galaxis, das völlig überraschend in Brüssel und Straßburg gelandet sei, um freiheitsliebende Nationalstaaten zu schinden und zu knechten. Die EU-Eliten stammen allesamt aus der nationalen Politik, sind weiterhin engstens mit ihr und den entsprechenden Medien verbandelt und spielen sich tagtäglich gekonnt die Bälle zu, um Verantwortungen zu verwässern und Kompetenzen hin- und herzuschieben, wie es den eigenen Machtinteressen gerade am besten passt; auch und vor allem in Deutschland.
Der Brexit hat zur Genüge gezeigt, dass ein EU-Austritt ohne entsprechenden Elitenwechsel ein völlig sinnloses Unterfangen ist, während die Rückkehr Donald Tusks nach Polen demonstriert, wie sehr im Zentrum der endlosen Kampagnen gegen die ehemalige konservative Regierung nur der Machthunger der linksliberalen polnischen Eliten stand, die in der EU ein williges Instrument zur Selbstermächtigung gefunden hatten.
Nun ist sattsam bekannt, dass Politik die Kunst des Möglichen darstellt, und Fundamentalopposition ist nur bis zu jenem gewissen Punkt sinnvoll, wo es entweder darum geht, Verantwortung zu übernehmen und sich nötigenfalls die Hände schmutzig zu machen, oder eben im Vollbewusstsein des eigenen Idealismus mit weißer Weste in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Gerade in dieser Hinsicht ist es aber hochinteressant, wie gegenwärtig nicht nur auf nationaler, sondern auch EU-Ebene erste Anzeichen spürbar sind, im Interesse der eigenen Selbsterhaltung allmählich auf einen Kurs umzuschwenken, der bislang noch als „rechtspopulistisch“ oder „illiberal“ verteufelt war.
Der Weg ist freilich noch ein langer, und gerade jetzt sollte man den ersten Sirenenklängen noch keineswegs vertrauen. Aber der Moment wird kommen, wenn die Zeit reif ist – und dann wird es gelten, den richtigen Augenblick nicht zu verpassen, um neben den Nationalstaaten auch die EU-Institutionen entsprechend zu reformieren. Und dann mögen auch Teile des Draghi-Reports durchaus willkommene Anregungen zu einer echten Stärkung Europas und der abendländischen Zivilisation in der Welt darstellen.