Es ähnelt einem Konklave. Anders als die Bundespräsidentenwahl kann sich die Wahl des italienischen Staatsoberhauptes über Tage hinziehen. Wie bei der Papstwahl ist die Zahl der Wahlgänge pro Tag begrenzt – 1971 etwa dauerte die Wahl von Giovanni Leone 23 Wahlgänge, heißt 15 Tage. Der Sitz des Staatspräsidenten ist der Quirinalspalast, die einstige Sommerresidenz der Päpste, in der früher auch das ein oder andere Konklave stattfand. Und ähnlich wie die Kardinäle des Konklaves schreiben die Abgeordneten und Senatoren den Namen des Kandidaten auf den Zettel. Das italienische Wahlritual hat darüber hinaus noch weitere Besonderheiten: Wenn keiner der aufgestellten Kandidaten den Vorstellungen der Wähler entspricht, werfen sie einen weißen Zettel in die Urne.
Unabhängige Kandidaten dominieren das Amt seit 1994, weil die Parteien zerstritten sind
Das klingt für deutsche Ohren nach Kindergeburtstag, doch die Italiener halten sich eine gewisse Freiheit und Offenheit bei der Wahl zugute, und wenn diese nur symbolisch zelebriert wird. Während in Deutschland der Präsident schon vor der Bundesversammlung feststeht, gehen die Italiener seit einigen Jahrzehnten besonders „ergebnisoffen“ an die Sache heran. In Rom regiert eine Regierung der nationalen Einheit, aber die Wahl für den Quirinalspalast ist zersplitterter denn je. Erst am Donnerstag beginnt die „heiße Phase“, weil dann keine Zweidrittel-Mehrheit mehr gilt, sondern eine absolute Mehrheit zur Wahl reicht.
Dazu kommt eine weitere Besonderheit: Italien betrachtet den Beginn der 1990er Jahre als innenpolitische Zäsur, in welcher ein Übergang vom alten Parteienmodell des Kalten Krieges – geprägt von der Christdemokratie und den Sozialisten bzw. Kommunisten – zu jenem aus einem bürgerlich-rechten und einem linksliberal-sozialistischen Block stattfand; eine Transition, an der die Korruptionsfälle des erwähnten Craxi nicht ganz unschuldig waren. Zugleich regiert ein Trauma das Lager rechts der Mitte: Seit diesem Wechsel haben die „neuen“ Parteien – die Forza Italia von Silvio Berlusconi, die Lega von Matteo Salvini und die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni – kein einziges Mal einen Staatspräsidenten aus ihren Reihen ins Amt hieven können.
Stattdessen hangelte sich die „Zweite Republik“, die mit der Durchrüttelung des Parteiensystem ab 1994 begann, über ehemalige Christdemokraten und unabhängige Kandidaten durch das Politikgeschehen. Der von 2006 bis 2015 amtierende Giorgio Napolitano war bis 1991 sogar Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Seine Wiederwahl im April 2013 ergab sich vor allem dadurch, dass die verschiedenen politischen Parteien keinen gemeinsamen Kandidaten fanden – Napolitano wurde gewissermaßen genötigt, neuerlich anzutreten, obwohl der damals 88-jährige Staatschef kein zweites Mandat wollte. Eine Situation, die vielleicht noch eine Neuauflage erfahren könnte.
Berlusconis zerplatzter Traum vom Präsidentenamt
Zwei Faktoren machen die Präsidentenwahl besonders schwierig. Da ist zuerst einmal der Faktor Berlusconi. Die Parteien des rechten Lagers hatten eigentlich den mehrfachen Premierminister nominieren wollen. Das war ein alter Deal zwischen der Forza Italia und ihren Verbündeten von der Lega und den Fratelli d’Italia. Nachvollziehbarerweise zweifelten aber immer mehr Mitglieder der Bündnispartner daran, ob Berlusconi in der Lage wäre, genügend gegnerische Stimmen an Land zu ziehen, um seine Kandidatur zu einem seriösen Projekt zu machen – denn weder das rechte noch das linke Lager haben eine eindeutige Mehrheit im italienischen Zwei-Kammer-System. Berlusconi sah zuletzt ein, dass sich sein Traum nicht erfüllen würde, und zog den Plan vor dem ersten Wahlgang wieder zurück.
Draghi als letzter Strohhalm der Linken
Beim linken Lager sieht es noch schlechter aus. Dort hatte man von Anfang an keinen zugkräftigen Kandidaten. Selbst die Absprachen zwischen dem sozialistischen Partito Democratico und dem linksalternativen Movimento 5 Stelle verliefen eher im Sande. In den Medien kursiert immer wieder der Name der Geheimdienstchefin Elisabetta Belloni, die auch Sympathien im rechten Lager wecken könnte. Doch viel häufiger fällt ein ganz anderer Name: Mario Draghi.
Tatsächlich kursierte letzte Woche in den Medien die Idee, der gegenwärtige Premierminister Italiens könnte in den Quirinalspalast wechseln. Bereits die Berufung Draghis vor einem Jahr durch Staatspräsident Mattarella hatte Draghi an Auflagen gebunden, denn Draghi hatte sichtlich kein Interesse daran, sich zu viel mit dem Hickhack und den Ränken der traditionell machiavellistischen Hinterzimmerpolitik der italienischen Parteien beschäftigen zu müssen. Draghi wird im kommenden September 75 Jahre alt und dürfte sich auch aus persönlichen Gründen danach sehnen, seine Regierungsarbeit bald zum Abschluss zu bringen. Der Wechsel ins Präsidentenamt eröffnet ihm die Möglichkeit, weiterhin die bedeutenden Strippen zu ziehen, ohne sich im täglichen Gefecht abmühen zu müssen.
Spekulationen auf eine Regierungskrise
Das rechte Lager verfolgt daher mehrere Strategien. Zum einen ist da die berechtigte Spekulation, dass nach einem Austritt von Forza Italia und Lega die Regierung in Rom wackeln könnte, sollten auch die Linksliberalen von Matteo Renzis Italia Viva keine Lust darauf haben, dass die Sozialisten und der Movimento 5 Stelle das Ruder übernehmen. Damit stünden Neuwahlen an, von der insbesondere die rechtskonservativen Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni profitieren würden. Draghis Abgang wäre demnach eine veritable Regierungskrise, deren Ausgang noch gar nicht absehbar ist – außer vielleicht, Draghi hätte als Staatspräsident die Hand darauf, wer ihn beerbt. Das letzte Wort über die Einsetzung des Regierungschefs hätte dann er.
Zum anderen gibt es handfeste Verhandlungen, namentlich zwischen Salvini und Draghi. Salvini soll gefordert haben, dass es im Kabinett zu Umstrukturierungen zugunsten der Rechten kommen soll, wenn Draghi die Stimmen der Lega haben will. Darunter fiele insbesondere die Auswechslung der Innenministerin Luciana Lamorgese durch eine migrationskritischere Personalie. Draghi kann und will sich darauf nicht einlassen – bisher? Vielleicht ahnt Draghi, dass am Ende der Profiteur eines Wechsels in das Staatspräsidentenamt Salvini und Co. sein könnten, sollte er dem Lager rechts der Mitte zu viele Konzessionen geben. Der ehemalige EZB-Chef muss sich nicht unnötig in Gefahr begeben. „Was auch immer es kostet“, gilt nicht zwingend für die eigene Biografie.
Denn es gibt noch eine Regel, die die italienische Präsidentenwahl vom Konklave übernommen hat: Wer als Papst in das Konklave hineingeht, kommt als Kardinal wieder heraus. Angesichts der vielen Debatten um Draghis Einzug in den Quirinalspalast dürfte der Jesuitenschüler klug genug sein, um sich an dieses Bonmot zu erinnern.