Tichys Einblick
Polnische "Ampel" im Sinkflug

Donald Tusks verstörende „PiS-Aufarbeitung“

Polens Premier Donald Tusk hatte vor den letzten Parlamentswahlen seinen Anhängern versprochen, das Abtreibungsgesetz zu lockern. Nun ist sein Projekt krachend gescheitert. Der Fehlversuch zeigt erneut, dass seine heterogene Koalition regierungsunfähig ist und er sich zum Sklaven von Linksradikalen degradiert hat.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Justin Tallis

Die ungeduldigen Schnellschüsse beim Umgang mit der konservativen Opposition haben dem polnischen Regierungschef eine Serie von bitteren Niederlagen eingebracht. Noch während seines Urlaubs an der Côte d’Azur geriet Donald Tusk in Erklärungsnot und gab offenherzig zu, dass die Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes angeblich wegen der „unfairen Arbeitsverteilung“ innerhalb der Regierungskoalition gescheitert sei. In den Medien kursiert ein neuer Witz: „Welches ist das Buch mit den wenigsten Seiten? Der Erstlingsroman über die Erfolge von Tusk“.

Die Liste seiner spektakulären Rechtsbrüche und missglückten Gesetzesprojekte ist lang. Erst unlängst musste der Ministerpräsident zwei weitere Pleiten verdauen. Unverbesserliche konservative „Quertreiber“ aus der Koalitionspartei PSL stimmten gegen eine Aufhebung von Bestrafungen für Abtreibungsärzte. Überdies urteilte ein Gericht, dass der ehemalige stellvertretende Justizminister Marcin Romanowski unverzüglich aus der Haft zu entlassen sei. Doch immer der Reihe nach.

Anders als vom Ehegatten kann man sich von einem ungeliebten Koalitionspartner nicht sofort scheiden lassen. Die Parteilenker können indes die Schiedsrichter mimen, die einige Spieler vom Feld weisen. Dass die Bauernpartei PSL und die linksextremen Umstürzler aus der Nowa Lewica sowie der Inicjatywa Polska völlig verschiedene Weltanschauungen vertreten, war von vornherein ersichtlich. Der ehemalige Landwirtschaftsminister Marek Sawicki (PSL) befürwortet das aktuelle Gesetz und die bisherige Praxis zum Schwangerschaftsabbruch. Außerdem verwirft der Seniormarschall des Sejm die von Tusk in Umlauf gebrachte Formulierung „Entkriminalisierung von Abtreibungen“. Der Premier reagierte sichtlich verärgert, zumal ebenso mehrere Rebellen aus den eigenen Parteireihen (PO) gegen die Gesetzesvorlage votierten.

Einige von ihnen wurden daraufhin suspendiert. Sogar der stellvertretende Entwicklungsminister Waldemar Sługocki wurde seines Amtes enthoben, wenngleich er zweifelsfrei nachweisen konnte, dass er aufgrund einer Auslandsreise der Abstimmung fernbleiben musste. Selbst regierungsnahe Zeitungen geben zu, dass sich Parteichef Tusk in einem seiner wiederholten „Trägheitsmomente“ gewaltig verkalkuliert hat. „Etwas anzustreben, obgleich kein Erfolg in Aussicht steht, ist eine freiwillig begangene politische Dummheit“ – schreibt die linkslastige Wochenzeitung „Polityka“.

Verwegene Kabarettisten könnten annehmen, dass unter der Oberfläche vielerlei gärt, wenn sogar der in Polen allseits bekannte Anwalt Roman Giertych, der nur dank der Gnade Tusks weiterhin am politischen Tagesgeschäft partizipieren darf, sich den Anweisungen seines Diktators widersetzt. Viele Beobachter sind vermutlich zu jung, um sich daran zu erinnern, dass Giertych einst die Funktion des Vorsitzenden der Allpolnischen Jugend sowie der Liga Polnischer Familien innehatte und von eben jenem Tusk als „ultrakonservativ“ verspottet wurde.

Beide Politiker eint jedoch heute der Hass gegenüber Jarosław Kaczyński. Daher ließ sich Giertych aus Loyalitätsgründen keinen Kommentar zu seiner Stimmenthaltung am 12. Juli abzwingen. Als erfahrener Jurist würde er aber wahrscheinlich dem Konfederacja-Chef Krzysztof Bosak zustimmen: „Die Bürgerplattform ist zu einer Sklavin der Linken geworden. Es stellt sich die Frage, ob Tusk seine eigene Gesetzesvorlage zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts überhaupt gelesen hat. Wenn nämlich diese wirklich eine Mehrheit fände, könnte gegenwärtig jeder beliebige Kurpfuscher eine Abtreibung durchführen“, glaubt Bosak.

Ihre Unfähigkeit beweist die Regierung gleichfalls auf anderen Feldern, so zum Beispiel im Bereich der „PiS-Aufarbeitung“. Vielleicht ist dies jedoch der Tatsache geschuldet, dass es dort nicht viel aufzuarbeiten gibt. Nach den Parlamentswahlen sorgte eine regelrechte Verhaftungswelle gegen Mitglieder der ehemaligen Regierung für Aufsehen. Sie sollte signalisieren: „Die Verbrecher aus dem Lager Kaczyńskis werden zur Verantwortung gezogen“.

Doch auch diese umstrittenen Aktionen wollten nicht so recht gelingen: Die Ex-Minister Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik sind inzwischen auf freiem Fuß. Ähnliches gilt für den früheren Vize-Justizminister Marcin Romanowski (Suwerenna Polska). So soll der Parteifreund von Zbigniew Ziobro öffentliche Gelder für den Wahlkampf entwendet haben. Er selbst bestreitet dies und hofft, dass Tusk irgendwann für seine nicht enden wollende Rachsucht strafrechtlich verfolgt werde. „Hinter einem Schleier aus pseudorechtsstaatlichen Prozeduren versteckt sich politische Willkür“, sagt Romanowski im Interview mit dem Wochenmagazin „Do Rzeczy“. Übrigens erwies sich die spektakuläre Festnahme Romanowskis als ein Paradebeispiel in Sachen „mediale Fettnäpfchen“. Zwar hatte der Sejm ihm die Immunität entzogen, doch das von Adam Bodnar geführte Justizministerium übersah, dass Romanowski als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates nach wie vor Immunität genießt.

Aber jenseits von allem Sarkasmus wiegt viel schwerer die aus Tusks Philosophie abgeleitete Annahme, dass jeder mit dem konservativen Lager sympathisierende Mensch im Grunde genommen unverzüglich in eine Haftanstalt gesteckt werden müsse. Nur: Untersuchungshaft ist kein Spiel. Häufig mussten die Insassen unhaltbare Zustände ertragen, obschon sich im Nachhinein der Verdacht als unbegründet herausstellte. Gelangen willkürlich festgenommene Personen (wie jüngst der Priester Michał Olszewski) in U-Haft, so trifft dies vor allem die Verwandten besonders hart. Die neue Situation erfordert zahlreiche Entscheidungen. Wie die Beispiele aus den letzten Monaten zeigten, rechtfertigt sich nur bei einer äußerst geringen Zahl der Insassen später die Haft. Hunderte verlieren die Freiheit für Tage, Wochen oder Monate, ohne dass ein nachträgliches Urteil den Verlust sanktioniert. Die genauen Zahlen kennen wir nicht. Die linksliberale Regierung behandelt die Verhaftungsziffern als „Intimsphäre der Strafverfolgung“.

Die Dunkelziffer der justiziellen Freiheitsberaubung schadet jedoch offenbar weder Tusk noch seinem Minister Bodnar, der die Anwalts- und Richterbüros notfalls mit Brechstangen öffnen lässt. Die öffentliche Empörung über einen nicht festgesetzten politischen Einbrecher hält sich in Grenzen, unglücklicherweise ähnlich wie die Erregung darüber, dass ein Politiker, dessen Geschäftsunterlagen längst sichergestellt sind und nichts hergeben wollen, wegen vermeintlicher „Verdunkelungsgefahr“ mehrere Monate in einer Gefängniszelle verbringen muss und darüber nicht nur seine Gesundheit, sondern ebenso seine Existenz verliert.

Hinter der Fassade einer lücken-, aber in Wirklichkeit weitgehend erfolglosen „Abrechnung“ mit der Vorgängerregierung betreibt die aktuelle Regierungskoalition Politikverweigerung. Statt zu ergründen, ob die Konservativen womöglich aufgrund realer Schwierigkeiten in Polen gerade viel Zuspruch erringen, und statt sich ans Beheben dieser Probleme zu machen (Migrations-, Sicherheits- und Energiepolitik), wurde allzu viel politische Energie darauf verschwendet, nach angeblichen „Übeltätern“ zu fahnden und die Emotionen von Linksradikalen zu bedienen. Dabei hat die PiS über zwei Wahlperioden hinweg nicht einmal die Verfassung aus den Angeln zu heben vermocht. Einige Gesetzesvorlagen der Regierung Tusk scheitern gelegentlich an den Mauern des Präsidentenpalastes und des Verfassungsgerichts. Die jüngsten Pleiten erlitt Tusk allerdings ob des Unvermögens bzw. der Uneinigkeit seiner eigenen Koalition. Das tut weh. Diesmal kann er dem Staatsoberhaupt nicht einmal vorwerfen, dass er vor jedem Veto „Zeitreisen“ ins Mittelalter unternehme.

Geschenkt, dass so etwas ebenfalls zum politischen Streit gehört. Die aufreibenden Abstimmungsprozesse beweisen, dass die polnische „Ampelregierung“ kaum regierungsfähig ist, was dem Land schadet. Die eigene Unfähigkeit übertüncht sie mit Polemikpathos, sprachlich-historischen Fehlgriffen und irrationalen Empörungskanonaden. Ein Ernstnehmen politischer Gestaltungsaufgaben, zu denen sich die PiS und die derweil sehr ins Gewicht fallende Konfederacja ja verfassungsgemäß positionieren, ist jedenfalls nicht vernehmbar. Dieser Faktennebel war schon immer Teil der Tuskschen Strategie, die aber im Gegensatz zu seiner ersten Amtszeit (2007-2014) nicht mehr die ersehnten Erfolge bringt.

Medial aufgegriffene und nicht sonderlich ausgewogene Anregungen, man möge ein „PiS-Verbotsverfahren“ einleiten, werden einer ungemochten Partei wie PO ohnehin keine zusätzlichen Höhenflüge mehr bescheren. Tusk erstrebt die Abschwächung von Ausbreitungsprozessen konservativen Gedankenguts, erreicht aber eigentlich das Gegenteil. Wenn selbst Abgeordnete in den eigenen Reihen gegen die Positionen verirrter Linker stimmen, dann existiert noch ein politischer Diskurs, in dem man mit Tatsachenbehauptungen und Zusammenhangaussagen vernünftig umgeht. Oder es zumindest versucht.

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