Tichys Einblick
Heute in Polen, morgen in Thüringen?

Die Diktatur der „Guten“ und Warschaus „Übergangsjustiz“

In Warschau wird der Rechtsstaat gerettet, indem täglich Recht gebrochen wird, denn es geht um die „gute Sache“. Behauptet die neue Regierung. Die Blaupause für die Abwicklung Ungarns – und möglicherweise auch für den Umgang mit künftigen konservativen Regierungen anderswo in Europa?

picture alliance / ZUMAPRESS.com | Volha Shukaila

Nachdem die meisten Kritiker der gegenwärtigen polnischen Regierung mundtot gemacht worden sind und die europäischen Leitmedien pointiert in eine andere Richtung blicken, ist es still geworden um die Vorgänge in Warschau. Und doch hat sich die Lage dort keineswegs beruhigt, ganz im Gegenteil. Nach den ersten, spektakulären Schlägen gegen die noch von den Konservativen dominierten Institutionen in Medien, Justiz oder Zentralbank ist der Kampf in eine zweite, entscheidende Etappe gegangen. Es geht nun um nichts weniger als die systematische, erbarmungslose Kontrolle über das gesamte Justizwesen mit dem offensichtlichen Ziel, die juristischen Ausgangsvoraussetzungen zu schaffen für eine dauerhafte und permanente Kontrolle des polnischen Staats durch die Linksliberalen.

Genau das also, was der ausgehenden Regierung jahrelang (zum allergrößten Teil ungerechtfertigt) vorgeworfen wurde, nämlich die illegale Gleichschaltung des Justizapparats, findet also nun vor den geschlossenen Augen der Weltöffentlichkeit realiter statt. Und während die alten Reformen der Konservativen sich über viele Jahre organisch hingezogen hatten und durch eine Supermehrheit in Parlament und Präsidentenpalast gedeckt waren, findet die gegenwärtige Gleichschaltung sowohl abrupt als auch auf legal höchst fragwürdige Weise statt – denn weder verfügt die gegenwärtige Regierung über die notwendigen Mehrheiten noch genießt sie die formal nötige Unterstützung durch Präsident Duda oder respektiert die Einsprüche der Justiz selbst.

Die Liste allein der jüngeren Vorkommnisse ist so lang und komplex, dass sie eines Tages ganze Dissertationen benötigen wird, um entsprechend aufgearbeitet zu werden. Ein paar Beispiele:

Was aber ist die ideologische Basis für diese Ereignisse – und wieso sollte dies nicht nur die anderen Europäer, sondern auch und vor allem die Deutschen dringend interessieren? Letzten Endes läuft die Selbstlegitimierung Tusks und seiner Gehilfen auf das Konzept der „transitionellen Justiz“, also des „Übergangsrechts“ hinaus, wie es prominenterweise in Südafrika praktiziert wurde, als es galt, das Apartheidsregime abzuschaffen, und ebenfalls bei der Abwicklung der kommunistischen Diktaturen angewandt wurde.

Im Kern geht es dabei einerseits um die Anerkennung der Tatsache, dass die abzuschaffenden Strukturen ihrer eigenen Logik nach durchaus „rechtsstaatlich“ organisiert waren, also nicht nach dem Kriterium formaler Rechtsbrüche verurteilt oder organisch abgebaut werden können; andererseits aber um die vor allem menschenrechtlich argumentierte Selbstermächtigung, an die Stelle des „verbrecherischen“ Vorgängersystems eine neue, moralisch überlegene Struktur errichten zu wollen, sodass der Übergang im Namen des Fortschritts bewusste Brüche der vorangehenden „Rechtsstaatlichkeit“ zugunsten der neuen erzwingt. Anders ausgedrückt: Der „gute“ Zweck heiligt eben die Mittel, und es lässt sich kein Omelett kochen, ohne Eierschalen zu zerbrechen. Oder, in den Worten Donald Tusks:

„Glauben Sie mir, es ist nicht so kompliziert, die Legalität in verschiedenen Lebensbereichen wiederherzustellen, und zwar dort, wo die PiS – nicht nur meiner Meinung nach – Änderungen eingeführt hat, die gegen das Gesetz verstoßen – sei es die Verfassung oder EU-Gesetze. (…) Ich weiß, daß es viele Kritiker geben wird, aber wenn es von mir abhängt, werde ich sicher keinen Rückzieher machen. Ich werde Entscheidungen, die gegen polnisches Recht, die polnische Verfassung und EU-Recht verstoßen haben, per Definition als ungültig betrachten.“

Anders ausgedrückt: Das Recht muss gebrochen werden, um dem Recht Geltung zu verschaffen; und welches Recht nun gerade gültig ist und welches nicht, darüber entscheidet de facto der Machthaber. Schon unmittelbar bei Tusks Amtseinsetzung hatte ich hier bei Tichys Einblick bereits darauf verwiesen, dass selbst deutsche Medien wie die „Berliner Zeitung“ ganz explizit die neue Regierung dazu aufriefen, notfalls die von der konservativen, also „bösen“ Vorgängerregierung geschaffenen „Rechtssätze“ zu brechen, um der linksliberalen, also „guten“ neuen Regierung die nötige Ellenbogenfreiheit zu verschaffen, und genau das geschieht gegenwärtig, und zwar unter dem wohlwollenden Blick der Nachbarregierungen in Deutschland und Frankreich und natürlich der herrschenden EU-Eliten.

Unvergessen der Blankoscheck Ursula von der Leyens im Juni 2022: „Dear Donald, you embody our values. Now you return to your home country to stand up for them.“ Unvergessen auch die Freigabe der zurückgehaltenen EU-Milliarden nur wenige Tage nach der Einschwörung der neuen Regierung und die Aufhebung der Rechtsstaatsprozedur im Mai 2024 auf bloßer Basis des „guten Willens“ der neuen Regierung, wie Věra Jourová erklärte: „We see clear determination to correct things and to repair things in the judiciary and prosecution.“

Spätestens jetzt sollte man aber auch begriffen haben, wieso dies ein Problem nicht nur für Polen darstellt, sondern für den ganzen Kontinent, ja die ganze westliche Welt, und endlich ein diesbezüglicher Schulterschluss der Konservativen in ganz Europa stattfinden sollte – egal, was man nun im Prinzip von der ausgehenden PiS-Regierung und ihren Fehlern und Fehlentscheidungen halten mag. Denn Polen ist gegenwärtig zum Trainingsfeld für eine legale Selbstermächtigung geworden, die uns alle betreffen kann – ja mit ziemlicher Sicherheit betreffen wird. Das demokratische Spiel will, ja erzwingt es, dass parlamentarische Mehrheiten und Regierungen ihre Zeit an der Macht nützen können, ja nützen müssen, um fällige Personal- und Rechtsfragen in ihrem Sinne zu lösen, um somit eben die entsprechende ideologische und parteipolitische Durchmischung des Staates zu gewährleisten und dessen Institutionen in graduellen Einklang mit den jeweiligen Mehrheitssituationen zu bringen.

Das ist sicherlich alles andere als „perfekt“ und impliziert zwangsläufig die eine oder andere zeitliche und parteipolitische Inkongruenz zwischen verschiedenen Institutionen, aber gerade darum geht es ja, Vielfalt und Mehrheiten halbwegs miteinander zu koordinieren. Im Falle Polen ist aber an die Stelle der Kontinuität die Ideologie von der „Stunde Null“ gesetzt worden, gegründet auf die jahrelang betriebene Dämonisierung, ja Kriminalisierung aller Konservativen, die nunmehr brutal aus allen Institutionen getrieben werden, und zwar weder je nach Fälligkeit peu à peu, sondern radikal und unmittelbar, noch nach den demokratischen Spielregeln, sondern notfalls unter Bruch von Verfassung und Gesetz: Denn es geht ja um eine „höhere Sache“.

„Übergangsjustiz“ – das ist zumindest im polnischen Fall nichts anderes als die ideologische Selbstlegitimation zum Rechtsbruch und die offensichtliche Blaupause für das, was in den nächsten Jahren im Großen eben auch in Ungarn oder vielleicht sogar Italien geschehen könnte, und was im Kleinen überall eintreffen kann, wo das demokratische Spiel es einem konservativen Politiker erlaubt, selbst reduzierte Machtfunktion auszuüben – auch und gerade in Thüringen oder Sachsen. Doch wie immer sind rhetorische Eskalation und legaler Relativismus zweischneidig: Wer heute Tusks Gleichschaltung Polens bejaht, dürfte eigentlich in ein paar Monaten nicht von einer angeblichen Trump-Diktatur schwadronieren. Eigentlich.

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