Der Vorsitzende der Grenzschützer am Evros, Chrysovalantis Jalamas, stellt fest: »Der Evros wird nicht fallen, wir halten Stand.« Die Moral in der Truppe sei auf ihrem Höhepunkt. »Wir kämpfen zusammen mit Soldaten und Bürgern, um unsere Grenzen am Leben zu erhalten«, sagt Jalamas. »Es gibt eine große Einmütigkeit und viele Beistandsbekundungen, eine rührende Solidarität.« Tatsächlich sammeln die Grenzanwohner fleißig Lebensmittel für die Polizisten und Soldaten am Evros. Man muss die Bürger sogar von weiteren Geschenken abhalten; inzwischen sind die Kammern der Sonderkräfte wohlgefüllt. Zudem stehen Freiwillige, Unternehmer und Kulturvereine den Grenzwächtern tatkräftig zur Seite. Von Versammlungen und Solidaritätsmärschen sollten die Anwohner allerdings absehen, das würde nur zusätzliche Polizeikräfte binden, informieren die Verantwortlichen.
Am griechisch-türkischen Grenzfluss findet man laut dem obersten Grenzwächter so gut wie keine Syrer, sondern mehrheitlich Afghanen, Pakistanis und Somalier. Es gebe nur sehr wenige, die vielleicht Aussicht auf einen legalen Status als Flüchtling haben. Insgesamt habe man 24.000 Einreisen verhindert, und seit dem Wochenende seien 200 Grenzübertreter festgenommen worden, führt Jalamas weiter aus. Die gewaltsamen Eindringlinge werden, soweit möglich, angeklagt und zu Gefängnisstrafen von bis zu vier Jahren Haft (ohne Bewährung) und zu hohen Bußgeldern (bis zu 10.000 Euro) verurteilt. Die griechische Polizei berichtet zudem von 300 Abweisungen illegaler Immigranten am Montag, ob das nun auf den Inseln oder auf dem Festland geschah.
Schon am Samstag waren die ersten 17 illegalen Grenzübertreter, sämtlich aus Afghanistan, zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Ein schlagartiger Paradigmenwechsel war das: Bislang waren Haftstrafen für die Grenzverletzung unüblich, im Grunde wegen eines Vorurteils, das den Eindringling als Schutzsuchenden idealisierte. Doch diese Realität, die einst – vielleicht auch nur wegen der geringeren Zahlen – allgemein anerkannt war, ist heute weitgehend verschwunden.
Man weiß: Der um Schutz Flehende ist auch nur ein Teilnehmer am internationalen ›Markt‹ der Köpfe, Arbeitsplätze und Sozialbezüge. Er kauft ein Los auf ein besseres Leben, flieht nicht notwendig vor Verfolgung und Unfreiheit, die ihn vielleicht weder betroffen noch gestört haben. Doch eben darum muss heute ein ganzes System umdenken. Die Exklusivität der Mobilität ist lange vorbei. Heute zieht nicht mehr bloß ein Stefan Zweig nach Brasilien und ein Thomas Mann nach Pacific Palisades, vielmehr sucht eine Millionenmenge an gering oder gar nicht Qualifizierten in einer goldlosen Goldgräberstimmung ihr ›Glück‹ an anderen Orten. Der Ausdruck des »Glücksritters« trifft es genau, indem er vor allem das ungeklärte Ziel der Reise anzeigt; kaum ein Subsahara-Afrikaner weiß wohl ganz genau, was ihn in Lyon, Mailand oder Hamburg erwartet.
Immer neue Beweise für das türkische Schleppertum
Derzeit wehen wieder stärkere Winde in der Nord-Ägäis, so dass die Schleppertätigkeit dort zum Erliegen gekommen ist. Doch allein am Sonntag und dem griechischen Rosenmontag waren 1.119 Ankünfte auf den Inseln Lesbos, Chios und Samos zu verzeichnen.
Die Beweise für türkisches Schleppertum reißen indes nicht ab: Der türkische Staat transportiert Migranten, freigelassene Kriminelle, zum Teil sogar eigene Landsleute (die vielleicht den Straßenkampf lieben) an die Grenzen. Türkische Beamte setzen Migranten in Boote. Die Küstenwache eskortiert dann die Migrantenboote bis zu den Inseln. Auch die schon Hereingelassenen verändern die Lage der Griechen. Auf den Inseln wurden erneut Kirchen zerstört. Aus dem Lager Moria zogen rund 1.000 Personen demonstrierend in die Inselhauptstadt, um ihre Verlegung aufs Festland zu fordern.
Noch am Sonntag schickte Griechenland 1.000 zusätzliche Soldaten an den Evros, außerdem 1.000 Polizisten. Parallel finden militärische Übungen mit scharfer Munition sowohl im Evros-Gebiet als auch auf den Ägäis-Inseln statt. Die Anwohner werden zur Vorsicht aufgerufen. Seit gestern warnen griechische Presseberichte zudem, dass sich viele militante Migranten flussabwärts vom offiziellen Grenzübergang in Kastanies wegbewegen. Das flache Wasser des Evros-Deltas könnte der nächste Druckpunkt der illegalen Immigration werden. Inzwischen haben sich aber die ersten Bauern mit ihren Traktoren an der Grenze eingefunden und bei Nacht, mit Scheinwerferlicht und lautem Hupen, bei der Abschreckung einiger Grenzübertreter mitgewirkt.
Wann wacht die EU aus ihrer Lethargie auf?
Zum Äußersten entschlossen, aber auch zufrieden mit dem bereits Erreichten zeigte sich der Premierminister, als er am heutigen Dienstag in der Grenzregion eintraf: »Der Evros und Thrakien werden immer ungebeugt sein.«
Auch Mitsotakis stellte im halböffentlichen – von einer Fernsehkamera aufgezeichneten – Gespräch fest, dass die Moral bei allen Beteiligten ausgezeichnet sei. Nun müsse man der eigenen Aufgabe gerecht werden und als geeinte Gesellschaft in einer nationalen Kraftanstrengung das Notwendige tun. Die Dinge seien sehr einfach: Wir bewachen unsere Grenzen, die niemand illegal überschreiten wird. »Griechenland darf nicht erpresst werden, und das wird auch nicht geschehen.«
Die Bürger von Alexandroupoli empfingen Mitsotakis mit Applaus und gratulierten ihm zu seiner entschiedenen Haltung und Politik. Der Premier konnte sich der Handschläge kaum erwehren. Derweil fahndet die griechische Presse nach den innenpolitischen Konkurrenten des Premiers: Ob der innerparteiliche Widersacher Karamanlis (der auch noch Trauzeuge von Erdoğans Tochter war) oder der Ultrasozialist Tsipras – viele sonst hörbare Stimmen sind verstummt. Die Vertreter der größten Oppositionspartei Syriza fallen durch Wiedergabe türkischer Fake-News- und Propaganda-Tweets hervor. Was auf Twitter, auch international, überwiegt, sind aber Hashtags wie #IStandWithGreece oder #Greece_under_attack.
Am Mittag trafen dann die vier EU-Präsidenten in Thrakien ein: Ursula von der Leyen (Kommission), David Sassoli (Parlament), Charles Michel (Europäischer Rat) sowie der kroatische Ministerpräsident als Inhaber der EU-Ratspräsidentschaft. Von dem Besuch der EU-Vertreter erhoffte sich Mitsotakis eine reale Unterstützung durch die europäischen Partner.
Dem belgischen Liberalen Michel sei offenbar nicht klar, dass Griechenland längst nicht mehr bloß ein Problem mit illegaler Einwanderung habe, sondern eine massive Gefährdung seiner nationalen Sicherheit erlebe. Hinter den abwiegelnden Formulierungen macht das Blatt die Bundesregierung aus. Als es in Brüssel zum Schwur kam, forderten nur Griechenland, Österreich und Zypern eine eindeutige Verurteilung des vertragsbrüchigen Vorgehens der Türkei. In Griechenland wartet man darauf, dass die EU aus ihrer »Lethargie« erwacht.
Griechenlands Grenzschutz – der »Schild« Europas
Am Dienstagmittag angekommen, erhielten die EU-Vertreter zunächst eine Art »Borderseeing«-Tour und durften aus dem Helikopter, bei sachkundiger Führung, den Grenzfluss Evros und die Sammelpunkte der Migranten begutachten. Dann landete man in Orestiada, der nördlichsten, quasi hyperboreischen Gemeinde des Landes, und fuhr von dort aus zum Grenzposten 1 am Übergang von Kastanies. Dort gab es eine gemeinsame Pressekonferenz, auf der Kyriakos Mitsotakis dann ganz ähnliche Punkte anbrachte, wie man sie zuvor in der Presse hatte lesen können.
An den östlichen Grenzen des Landes habe man es nicht mehr mit einem Flüchtlings- oder Migrationsproblem zu tun, sondern mit einer asymmetrischen Bedrohung Griechenlands durch nichtstaatliche Invasoren. Die illegale Invasion tausender Migranten komme einer »Besetzung« des nationalen Territoriums gleich. Das sei sozusagen eine »Vorhut«, die aus Personen häufig unbekannter Herkunft, mit letztlich unbekannten Zielen bestehe, die auch nicht zögerten, Gewalt einzusetzen. Die Türkei sei unterdessen zur »offiziellen Schlepperin« geworden – wie die öffentlichen Äußerungen des türkischen Präsidenten, aber auch Videos und Aussagen der Migranten selbst beweisen. Griechenland aber werde seine territoriale Unversehrtheit mit den Mitteln des Rechtsstaats wie auch mit Entschlossenheit verteidigen.
Da konnte einem die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beinahe gefallen, die den Ernst der Lage zumindest ansatzweise zu erfassen schien. Richtigerweise setzte sie ihren ersten Akzent auf die Einhaltung der Ordnung und die Unterstützung der griechischen Grenzschützer durch Frontex. Dann aber kam noch eine Finanzspritze von 700 Millionen Euro dazu, die – so von der Leyen – für das griechische »Migrationsmanagement insgesamt« da sei. Man darf hoffen, dass das nicht die implizite Aufforderung zu einem neuerlichen Umsteuern der griechischen Regierung war. Eine Versuchung sollte es sicher sein. Zuckerbrot für Kyriakos.
Nachhaltigen Dank für sein Umsteuern in der Asyl- und Migrationspolitik und das Betreiben eines entschiedenen Grenzschutzes erhielt Mitsotakis vom kroatischen Premierminister Andrej Plenković, der als Vertreter der Mitgliedsstaaten am Evros war. Griechenland sei in der Tat der »Schild« Europas und der Garant der Stabilität für den gesamten Kontinent. Auch von der Leyen hatte zuvor das griechische Wort »Aspida« (Schild) benutzt. Wenn das nichts heißen will.
Aus Italien hat Lega-Chef Matteo Salvini das Verhalten Erdoğans heute als unannehmbar kritisiert und eine Art europäischer Mobilmachung gefordert: Europäische Truppen müssten sofort die EU-Grenzen schützen.
»Im übrigen, fällt die Türkei in beiden Fächern seit Jahren durch jede Prüfung«
Begonnen hat nun auch ein diplomatischer Kleinkrieg zwischen Ankara und Athen. Doch auch Brüssel kriegt sein Fett weg. Am Montag hat sich Erdoğan mit dem bulgarischen Präsidenten getroffen und den Europäern in der anschließenden Pressekonferenz erneut Tadel und Ratschläge erteilt. Angeblich braucht die Türkei keine »Milliarde Euro« von der EU, man verfüge über genügend Dollar-Devisen. – Als handelte es sich um seine eigenen Soldaten, sprach der Erste der Türken dann vom angeblichen Tod zweier Migranten sowie einem Schwerverletzten. Auf Twitter kursieren entsprechende Bilder und Videos, die sich allerdings – im anhaltenden Kriegsnebel – kaum verifizieren lassen. Der Sprecher der griechischen Regierung hat die Behauptungen umgehend dementiert.
Laut dem bulgarischen Präsidenten Bojko Borissow hat Erdoğan ein Dreiertreffen zusammen mit dem griechischen Premier abgelehnt. Dass Bulgarien weitgehend unbelastet vom Ansturm der Migranten zu bleiben scheint, wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: Erstens seien die Präsidenten der beiden Länder seit langem miteinander befreundet und kooperierten auf so manchem Feld, zum anderen hätten die Bulgaren einen sehr schlechten Ruf, was die Behandlung von Migranten angeht. Das behauptet zumindest das Web-Portal des griechischen Fernsehsenders Skai.
Wo die Migranten untergekommen sind
Bauklötze staunen auch eher linksgerichtete griechische Medien wie die Tageszeitung Ta Nea angesichts des UN-Vorschlags an Griechenland, die militanten Migranten doch einfach aufzunehmen. Von dieser Stelle greift man Griechenland auch mit juristischen Argumenten an, die sicher zu klären sein werden, auch auf dem Hintergrund eines jüngst ergangenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Asylpraxis in den spanisch-nordafrikanischen Enklaven.
Angeblich beginnt sich der Zustrom aus dem Land allmählich abzuschwächen. Einige Migranten, die sich durch die türkische Regierung getäuscht fanden, sollen sogar bereits die Rückreise nach Konstantinopel angetreten haben. Andere Signale gibt freilich noch immer die türkische Propaganda, die von Zehntausenden Grenzübertretern phantasiert. Ein Afghane beteuert live in der morgendlichen Nachrichtensendung, er sehe keinen anderen Weg: Auf Leben oder Tod müsse er die Grenze überschreiten.