Eine Million Lateinamerikaner bringen sich als Kämpfer für den Kommunismus oder als Verteidiger der Ordnung zwischen 1950 und 2016 gegenseitig um. Mitte der 1970er Jahre stehen fast alle Staaten in blutigen Konflikten. Allein Costa-Rica kommt nach dem Bürgerkrieg von 1948 früher zur Ruhe, liegt bei der Mordrate aber immer noch im obersten Sechstel der Welt. Tötungsdelikte ohne ideologische Überhöhung sorgen allein zwischen 2000 und 2016 für weitere 2,5 Millionen Opfer. Insgesamt fünf Millionen Gewalttote seit 1950 ergeben eine realistische Schätzung.
Lateinamerika von 1950 bis 2000 von 167 auf 523 Millionen
Die Gründe sind immer noch unverstanden, werden aber nachvollziehbar bei Blick auf den Kriegsindex, der 1970 zwischen 3 und 6 liegt: Auf 1.000 Männer von 55 bis 59 Jahren folgen 3.000 bis 6.000 Jünglinge von 15 bis 19 Jahren, die den Lebenskampf aufnehmen müssen und dabei merken, dass ein Gleichgewicht zwischen Ehrgeizigen und dazu passenden Karrieren sich nicht harmonisch ergibt, sondern erkämpft werden muss. Die Dynamik dahinter liefern fünf bis sechs Kinder pro Frauenleben. Sie blähen zwischen Feuerland und der Karibik die Bevölkerung im halben Jahrhundert 1950-2000 von 167 auf 523 Millionen. Ángel María Bautista Castro Argiz (1875–1956), Vater von Fidel Castro (1926–2016), zieht fünf Söhne und vier Töchter auf, hat aber nur eine Zuckerrohrfarm zu vererben. Was Studentenbewegungen weltweit umschwärmen und amerikanische Regierungen fürchten, erweist sich als demografische Wucherung.
Für eine vergleichbare Entwicklung auf der anderen Seite des Atlantiks sorgen zwei bis drei Millionen Menschen aus der Türkei – sie springt zwischen 1955 und 2010 von 24 auf 74 Millionen Einwohner–, die überwiegend nach Europa gelangen. Sie tragen dazu bei, die Opfer der seit 1968 anhaltenden anatolischen Gefechte auf 50.000 bis 60.000 zu begrenzen. Auch die aus der Türkei Entkommenen schaffen mit der Vermehrung auf sieben Millionen eine vitale Verdreifachung ihrer Gruppe.
Afrikaner ziehen Europa herab, Latinos die USA
Kann die wuchtig wachsende Minderheit der Hispanics die gegenüber Ostasien schächelnde Konkurrenzfähigkeit der USA stabilisieren? Wahrscheinlich ist das nicht, weil die Neubürger aus Regionen mit einer durchschnittlichen Cognitive Ability (CA) von 85 kommen, während die industriellen Herausforderer mit CA 102-103 dagegen halten. Immerhin kommen bei den TIMSS-Mathematikvergleichen von 2015 unter 1.000 US-Zehnjährigen noch sehr passable 142 in die beste Gruppe („advanced“). Ostasiaten schaffen mit mindestens 320 (Japan) allerdings mehr als das Doppelte. Und bei den Einwohnerzahlen liegen Chinesen (einschließlich Diaspora), Japaner, Koreaner und Vietnamesen sogar um den Faktor 5 höher als die USA (rund 1800 zu rund 350 Millionen [mit Illegalen]).
Ein talentierter Nordamerikaner soll sein Land aber nicht nur gegen zwölf Hochbegabte im globalen Rennen halten, sondern nebenher gleichaltrige Landsleute versorgen, die auf Arbeitsmärkten nicht zu vermitteln sind. Im Corona-Jahr 2020 benötigen bereits 37 Prozent der Hispanic-Haushalte food stamps. Während sie zu Verteidigung der amerikanischen Wettbewerbsfähigkeit nicht beitragen können, belasten sie die Aktiven, die diese Front zu halten suchen. Dennoch gibt es für die Spender der Hilfsgeldmilliarden keine Schutzgarantie gegen Brandschatzungen, Plünderungen oder Rassismusvorwürfe.
Asiaten können den Trend nicht ändern
Ostasiens 12:1-Talentevorsprung von 2015 – prinzipiell bekannt seit 1980 – könnte mittlerweile noch größer geworden sein: Bei PISA-Mathematik 2018 erreichen die USA nämlich nur noch den 37. Platz. Im Jahr 2000 war es immerhin noch der achtzehnte. Was bewirkt diesen eklatanten Rückgang? Die genaueste Einschätzung erlauben die jährlich von der Regierung ermittelten Ergebnissen der SAT-Eingangs-Prüfungen für das Studium.
Zwischen 2017 und 2019 rutschen Hispanics von 487 auf 483 SAT-Punkte ab. Da Whites bei 553 Punkten stagnieren, können sie den Niedergang nicht aufhalten. Es sind allein die Kinder armer Zuwanderer aus Asien, die mit einem Zuwachs von 612 auf 637 Punkte ein noch stärkeren Niedergang verhindern. Doch sie können den Trend nicht umkehren, weil sie 2018 lediglich 64 von 1.000 Neugeborenen stellen, während Hispanics mit 234 von 1.000 davonziehen. Blacks, die mit 146 von 1.000 Neugeborenen hinter Whites und Hispancis die drittstärkste Gruppe bilden, könnten den Gesamttrend von der schieren Menge her am ehesten umkehren. Sie müssten dafür aber wenigstens die Hispanics überholen. Momentan jedoch fallen sie – mit einem SAT-Rückgang von 463 auf 457 Punkte zwischen 2017 und 2019 – weiter hinter sie zurück. Nichts ist da ewig festgelegt. Allerdings sind – trotz Verdreifachung der Ausgaben pro US-Kind zwischen 1971 und 2012 – die Leistungen nicht besser geworden. Immer noch kann man nicht lernen oder vortäuschen, ein Ass in Mathematik zu sein.
177 Millionen Migranten aus Lateinamerika und der Karibik?
In der Tat wäre das erneute Öffnen der Grenze ein Weg, auf dem die Vereinigten Staaten zur Nummer Eins der Latinowelt aufsteigen könnten. Immerhin wollen – für 2020 berechnet – 177 Millionen aus Lateinamerika und der Karibik abwandern. Merkels seit 2015 laufendes Syrien-Fiasko könnte hier um den Faktor 100 übertroffen werden. Bei den 177 Millionen bleibt es aber nur, wenn der für 2017 ermittelte Prozentsatz an Migrationswilligen nicht ansteigt. Dafür allerdings spricht wenig. In keiner anderen Erdregion nämlich schnellen zwischen 2010 und 2017 die Auswanderungswünsche stärker nach oben – um die Hälfte von 18 auf 27 Prozent – als in Lateinamerika. Was passiert auf dem Halbkontinent, der zwischen 1870 und 1930 für rund 13 Millionen Europäer Ort der Hoffnung und Zukunft wird?
Die Region leidet an vorzeitigem Industrieverlust (premature deindustrialization). Ihre Fabriken für elementare und durchaus auch nachgefragte Produkte müssen schließen, weil bessere und ebenso günstige oder gar preiswertere Waren auf den Weltmärkten angeboten werden. Kompetentere Nationen weichen dann auf technologisch anspruchsvollere Produkte aus, zu deren Herstellung die Billiganbieter nicht fähig sind. Wer dafür das hochqualifizierte Personal nicht hat, rutscht hingegen auf einfache Dienstleistungen und – so vorhanden – agrarische und industrielle Rohstoffe ab. Vor allem mit China jedoch steht der übrigen Welt ein Anbieter gegenüber, der relativ simple Waren (Textilien, Küchengeräte etc.) und Hightech-Artikel (Computer, Drohnen, E-Busse, numerische Maschinen etc.) gleichzeitig in überlegener Qualität, Menge und Preisstruktur liefert.
Lateinamerika leidet an vorzeitigem Industrieverlust
Lateinamerikas Friedensdividende aus dem Heruntergehen auf zwei Kinder pro Frauenleben und aus einem gegen 2 tendierenden Kriegsindex konnte also nur kurze Zeit eingefahren werden. Den Herausforderungen der chinesischen Konkurrenz genügt der knapper gewordene Nachwuchs genau so wenig wie zuvor der überbordende. Deshalb streben heute einzige Söhne nach Norden wie zuvor dritte und vierte Brüder. Das Ausmaß der Hoffnungslosigkeit zeigt sich daran, dass selbst Chile – berühmt für Weingüter und Kupferminen – betroffen ist. Es stellt – mit nicht einmal zwanzig Millionen Bürgern – das einzige Land der Region, das immerhin einen mathematisch Hochbegabten unter 100 Kindern aufzieht. Selbst im benachbarten Argentinien schafft das nicht einmal die Hauptstadt Buenos Aires. Insgesamt jedoch gehört die Region zu rund 170 Staaten mit fast fünf Milliarden Einwohnern, die niemals Spitzentechnologie generieren können und deshalb auch noch ihre raren Besten an die knapp 30 Länder – alle mit Geburtendefizit – verlieren, die weiterhin im Rennen sind.
Ausnahmekönner verlassen die USA bald wieder
Nichts davon lässt sich vor Fremden langfristig verheimlichen. In der Frühzeit der chinesischen Gaststudenten kehren nur 10 bis 15 Prozent nach Hause zurück. 2017 wollen 80 Prozent und 2020 schon 86 Prozent Amerika wieder verlassen. Seine Anziehungskraft erweist sich selbst angesichts der Unfreiheit in der Volksrepublik nicht mehr als siegreich. Sogar unter den Zielländern deutscher Elite-Abwanderer rangieren die USA nur noch auf dem dritten Platz.
Die einzig belastbare westliche Sicherheits-Achse erstreckt sich von Kanada und den USA über Großbritannien nach Australien und Neuseeland. Vier aus diesem Quintett – knapp 140 Millionen Menschen auf 18 Millionen Quadratkilometern – lassen nur noch Könner über die Grenze, ziehen also mit den Ostasiaten gleich, die Leistungssenkern niemals Pässe angeboten haben. Wenn die Vereinigten Staaten nicht mehr umkehren können, bricht dieses Rückgrat der Zivilisation. Kompetente US-Bürger stehen deshalb vor denselben Optionen wie Gleichgesinnte in den – mangels aschkenasischer und ostasiatischer Ausnahmeköpfe – noch schneller abrutschenden EU-Staaten:
(1) Populismus, also Schließung der Grenzen in gewissermaßen letzter Minute; (2) Separatismus, also Abschirmung der noch konkurrenzfähigen Territorien vor dem unrettbaren Rest; (3) Auswanderung, also Stärkung der vorhandenen Kompetenzfestungen, die allerdings nur bei zureichende Vermehrung auf Fortdauer rechnen können.
Gunnar Heinsohn (*1943) lehrte von 2011 bis 2020 Kriegsdemographie am NATO Defense College in Rom.
Gunnar Heinsohn, Wettkampf um die Klugen. Kompetenz, Bildung und die Wohlfahrt der Nationen. Orell Füssli, Paperback, 232 Seiten, 12,00 €.