Tichys Einblick
Cancel Culture:

Wie die Cancel Culture die New York Times zerstört

Donald J. Trump ist nicht mehr im Amt. Also eigentlich alles Friede, Freude, Cheesecake, könnte man denken. Doch die von der amerikanischen Linken angetriebene Revolution des öffentlichen Lebens kommt gerade erst auf Touren – auch innerhalb der "New York Times".

»Mehr Diktatur wagen« – das könnte auch der neue Wahlspruch der New York Times sein. Den Schlüssel für ein neues Verständnis von Journalismus, dem junge Journalisten bei der Times und anderswo offenbar folgen, liefert die Überschrift eines Feature-Artikels samt Illustration. Man sieht viele Sprechblasenbäume, mit liebevoll gezeichneten Jahresringen, die tatsächlich wie zwiebelartig geschichtete Blutgefäße aussehen. Und dann ist da eine Axt, mit der einige der Sprechblasen und Seitenarme, die nicht zu passen schienen, abgeschlagen wurden. Wohinein passten sie nicht? Vermutlich in das Narrativ, in das neue Richtigsprech, die Ideologie unserer Tage. Oder nein: Sie passten sehr gut ins Narrativ, aber eben nur wenn man sie abhaut. Denn in den Sprechblasen stehen ja ohnehin nur Invektiven und ziemlich nachdrückliche Fragen. So etwas kann sicher kein Times-Journalist gutheißen…

Der Artikel darunter begeistert sich für die neuen Möglichkeiten der Zensur, die eine weitgehend digital gewordene Welt bietet. In Amerika gibt es keine gesetzlichen Beschränkungen der freien Rede wie in einigen europäischen Ländern. Aber gut, man kann sie auch privat organisieren. Ein Beispiel ist die Abschaltung des Netzwerks Parler, das die Online-Verbannung von Donald Trump und seinen Anhängern nicht mitmachen wollte. Google, Apple und Amazon verbannten daraufhin die Software selbst von ihren Plattformen und Geräten. Heute spenden Sean Hannity und Rand Paul Trost auf der toten Website und verweisen auf die Vorteile von wirklich freier Rede und dem Wettbewerb der Meinungen.

Die Times stellt unbeeindruckt fest: »Eine Plattform, die errichtet wurde, um das Oligopol ihrer Riesen-Konkurrenten herauszufordern, wurde von anderen Giganten ausgeschlossen, die so zeigten, wie leicht auch sie die [freie] Rede blockieren konnten.« Oh ja, sie können es! Dabei war der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar weit mehr über Facebook und Twitter organisiert worden als über den vergleichsweise kleinen Parler. Wir sprechen hier von Unterschieden auf einer logarithmischen Skala: Parler hatte insgesamt 20 Millionen Nutzer, Twitter hat monatlich 330 Millionen, Facebook gar 2,5 Milliarden.

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Am Ende ist es gleich, ob eine Plattform selbst bei sich ausfegt oder von mächtigeren Spielern hinweggefegt wird (weil es Radikale wie Alexandria Ocasio-Cortez forderten). Emily Bazelon, Autorin des NY-Times-Artikels, kann sich an jeder dieser Maßnahmen ergötzen: »Deplatforming works, at least in the short term.« Cancel Culture wirkt, zumindest kurzfristig… Deshalb kommt Bazelon auch gerne auf Angela Merkels Anregung zurück, laut der man das neue intolerante Meinungsklima auch in Gesetzesform gießen könne. Oder, wie es Steffen Seibert ausdrückte: Eingriffe in die Meinungsfreiheit könne es nur »entlang der Gesetze geben« (berichtet vom Spiegel).
Die Intoleranz im eigenen Haus: Der Fall Donald McNeil

Aber auch innerhalb der Redaktion der NYT hat die Intoleranz-Kultur jüngst wieder frische Opfer gefordert. Der Wissenschaftsjournalist Donald G. McNeil Jr. hatte im Jahr 2019 versucht, sich zivilisiert über den Gebrauch von Worten zu unterhalten. Auf einer Peru-Reise mit meist weißen High-School-Schülern – die allerdings »progressive Sensibilitäten« aufwiesen – wurde McNeil nach seiner Meinung zu einem Vorfall aus der Vergangenheit befragt: Eine Mitschülerin hatte als Zwölfjährige ein Video gemacht, in dem sie das »N-Wort« benutzte. Sollte sie deshalb suspendiert werden? Um den Inhalt des Videos zu verstehen, stellte McNeil Fragen: Hatte sie jemanden mit dem »N-Wort« angesprochen, hatte sie es gerappt oder einen Buchtitel zitiert, der es enthielt? Doch dabei machte der Wissenschaftsjournalist einen Fehler: »Indem ich diese Fragen stellte, benutzte ich selbst das Schimpfwort.«

McNeil hatte da offenbar noch nicht erkannt, dass dieses Wort auch nicht als Zitat in Anführungszeichen verwendet werden darf. Das Nachspiel der Episode begann dabei schon 2019. Dazu muss man wissen, dass sich aufgrund der »progressiven Sensibilitäten« der reisenden Schüler eine gewisse Spannung mit McNeil ergeben hatte, der es wagte, in manchen Dingen anderer Meinung zu sein. Zwar schätzte man seine Expertise in Sachen Medizin und Wissenschaft, aber in den privaten Gesprächen empfand man ihn als »brüsk und schwierig«. Speziell nahmen einige Schüler daran Anstoß, dass er das N-Wort überhaupt benutzte, obwohl es – so die Kritik – für seine Fragen nicht nötig war.

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Doch McNeils Dissidenz ging noch weiter: Auch das Konzept der »kulturellen Aneignung«, mit dem normalerweise die Übernahme exotischer Gewohnheiten in westlichen Kulturen als eine Art geistiger Diebstahl kritisiert wird, wollte er nicht so stehen lassen. Das Aufhängen einer traditionellen afrikanischen Maske kann in diesem Gedankengebäude vielleicht als schlimmer gelten als ein mit Schuhcreme angemaltes Gesicht. Aber wie steht es eigentlich mit dem Export der italienischen Küche und Kulinaria in alle Welt, so fragte McNeil: War das keine Aneignung der italienischen Kultur durch US-Amerikaner und andere? Auch die Existenz der »white supremacy« wollte er angeblich nicht gelten lassen. Und schließlich glaubte er, dass kriminelle Schwarze vor Gericht und eventuell in eine Vollzugsanstalt gehören – auch wenn die öffentliche Meinung schon damals etwas anderes propagierte (ganz im Sinne von »Defund the police, defund prisons«).

Insgesamt waren das für verschiedene Schüler »triggernde« Äußerungen. Gemeint ist der sogenannte »trauma trigger«: Ein Wort oder geäußerter Gedanke löst eine »retraumatisierende Situation« aus, daher auch das schöne deutsche Wort »Triggerwarnung«. Diese Theorie, die bei wirklichen Trauma-Opfern ihren Sinn haben mag, wird hier auf alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen übertragen. Es handelt sich um eine kollektivistische Traumatheorie, bei der jeder Mensch durch seine biologischen, ethnischen, kulturellen oder sonstwie körperlichen und geistigen Eigenschaften Anrecht auf ein wenig ›erinnertes‹ Trauma hat, das durch passende Trigger erneut ›ausgelöst‹ werden kann.

Entrüstung und affektierter Schmerz

2019 gab sich NYT-Chefredakteur Dean Baquet – der erste Schwarze in dieser Position – mit McNeils Schilderung zufrieden. Doch nun, in der Post-Trump-Ära, grub die Website The Daily Beast den Vorfall wieder aus und schickte ihn durch den Hochofen der aktuellen Großklimalage. In diesem Ofen werden Meinungssplitter und andere Aussagen zu steinhartem, spaltbarem Ton gebrannt, mit dem der Ostrazismus am Ende gelingen kann. Es kam, wie es offenbar kommen musste: Donald McNeil entschuldigte sich mit tiefer Verbeugung und verlor seinen Zeitungsposten nach »vier Jahrzehnten guter Arbeit«, wie der widerstrebende Baquet einräumte. Was hatte ihn zu der Entlassung McNeils getrieben? Eine Jagdmeute beutehungriger Mitarbeiter, die, wie so oft, das Werk der journalistischen Wahrheitskommission vervollständigte.

In einem Brief an das Management der Zeitung bekannten 150 Mitarbeiter: »Unsere Gemeinschaft ist entrüstet und voller Schmerz.« Man zweifelte am Bekenntnis der Times zu »diversity and inclusion« und beklagte das Rede- und Schreibrecht, das einem Menschen gegeben wurde, der eine beleidigende und inakzeptable Sprache benutzt hatte. Es ist wahr, McNeil gehörte zu den wichtigsten, preisgekrönten Autoren der Zeitung während der Pandemie, über die er viel geschrieben hat. Weiter behauptet der Mitarbeiterbrief, dass McNeil auch im Beruf Vorurteile gegenüber „people of color“ gezeigt habe, dies allerdings ohne Belege zu nennen.

Michael Goodwin von der New York Post spricht von der »Karriereguillotine« der Times. Der amerikanische PEN sprach von einem »besorgniserregenden Signal« und einer »frostigen Nachricht« für alle, denen die Pressefreiheit am Herzen liegt.

Eine Zeitung entledigt sich ihrer Kompetenz und wirft gleich noch das journalistische Handwerkszeug über Bord, wenn sie behauptet, eine Aussage könne auch ohne die Betrachtung der Absicht oder des Kontextes richtig beurteilt werden: »Wir tolerieren keine rassistische Sprache, gleich in welcher Absicht [sie benutzt wird].« Das ist ein totalitärer Gedanke, denn Absichten und Kontext spielen durchaus eine Rolle, wo es um die Deutung sprachlicher oder sonstwie menschlicher Äußerungsformen geht.

Durch Männlichkeit geschützt?

Zugleich musste ein weiterer Kollege, Andy Mills, wegen einer älteren Schuld gehen. Eine Pointe: Times-Mitarbeiter Mills war zunächst geschont worden, als im Dezember 2020 sein heftiges Relotieren in einer Podcast-Serie über das IS-Kalifat aufflog. Doch in der neuen Ära, die diesen Januar begann, kam sein Fall wieder vor die Twitter-Jury. Den dort versammelten Sachverständigen war bald klar: Mills hatte seine Schonung nur seinem »männlichen Privileg« und »entitlement« zu verdanken, denn seine Koautorin musste schon im Dezember gehen. Übrigens hatte das »Caliphate«-Podcast 2018 einen angesehenen Journalismus-Preis gewonnen.

Glenn Greenwald geht
Zweifelsverdrängung als Tugend: wie der Kulturkrieg die Medien zerreißt
An den resultierenden Hexenjagden ist oft auch CNN beteiligt, in dessen ausgiebigen Texten die »Schuldigen« mit selbstgewisser Miene vor den inexistenten Richterstuhl der öffentlichen Meinung geschleppt werden. Die Artikel sind die Akten dieser informellen Prozesse, in denen sich die brennenden Fragen der Zensoren wiederfinden: Warum hatte man nicht früher reagiert, da das »Verhalten« der beiden Journalisten doch lange bekannt war. Der gewählte Ausdruck deutet an, wie weit die Umerziehung gehen soll. Es geht um Verhalten (behavior), also einen grundständigen Bereich menschlichen Handelns, der im Zweifel sogar instinktiv sein mag, aber trotzdem bekämpft werden muss, nicht mehr geht es um den freien Ausdruck der Persönlichkeit. Ein bisschen nach Tierreich klingt das schon, weniger nach dem Land der Freien.

Der Verfassungsjurist und Journalist Glenn Greenwald beschreibt die Methoden der neuen Zensoren als eine Mischung aus »Fluraufsicht-Klatsch und Stasi-artiger Bürgerüberwachung«. Ein bisschen halbstark sei das und etwas böswillig. Das hört sich schon fast zu harmlos an. Zu den Protagonisten gehören neben den »media reporters« von CNN und einer »disinformation space unit« bei NBC vor allem einige Autoren der New York Times. Dass Facebook und Twitter am Ende den Rufen nach Zensur gegen das Trump-Lager nachkamen, sollen wir den Spürnasen dieser drei Medienkanäle zu verdanken haben. Inzwischen werfen sie ein Auge auf die Instant-Messaging-Apps Signal und Telegram. In der NYT fragen zwei Autoren bang nach der neuen Bedeutung von privaten Messenger-Apps. Bis zu 200.000 Teilnehmer könne ein Telegram-Chatroom aufnehmen. »Das scheint problematisch«, meint Brian zu Kevin.

Die Nachrichtenseite The Intercept, die Greenwald 2013 selbst mitgründete, hat er inzwischen verlassen – Zensur und ideologische Homogenität hätten auch dort zu einem Klima der Unfreiheit geführt, in dem Greenwald seine eigenen Artikel nicht mehr unzensiert veröffentlichen konnte. Dabei ging es zunächst um einen Artikel zur Rolle der Medien im Skandal um Joe und Hunter Biden, den Greenwald schließlich nur auf der eigenen Website herausbringen konnte.

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