An verschiedenen Stellen haben türkische Einsatzkommandos seit dem Montagabend auf griechische Grenzschützer am Evros geschossen. In der Ägäis machen die Türken mobil gegen den griechischen Küstenschutz und greifen dabei gezielt in die griechische Einflusszone aus.
Wenn es wahr ist, dann wäre es ein Ereignis, das den bisherigen Rahmen im griechisch-türkischen Grenzkonflikt sprengt. Am Montagabend, nach einem Tag weitestgehender Ruhe an der griechisch-türkischen Grenze, sollen türkische Paramilitärs am Evros auf griechische Grenzschützer gezielt und geschossen haben. Doch obwohl die griechische Polizei das Geschehen angeblich bestätigt hat, zögern die großen Netzwerke, die Meldung zu übernehmen. Nur auf kleineren Nachrichtenportalen findet sich die immer gleiche Beschreibung der Ereignisse. Wenn aber diese Beschreibung zutrifft, dann hätten türkische Spezialkräfte »den Tod eines griechischen Beamten beabsichtigt«, wie auch Experten feststellen.
Und auch wenn wirklich noch niemand in Griechenland davon sprechen will, ist daneben klar: Dies wäre zudem ein offen kriegerischer Akt der benachbarten Türkei, begangen von irregulären Truppen. Und obwohl Griechenland an derlei schon lange gewöhnt ist, obwohl es derzeit ohnehin ziemlich beschäftigt ist mit dem Coronavirus und der vorsorglichen Schließung aller Bildungseinrichtungen, wäre in den griechischen Medien wohl die Hölle los, wenn sich die großen Fernsehkanäle und Zeitungen von dieser Meldung anstecken ließen. Doch alles spricht dafür, dass der Vorfall so geschehen ist und der neuen türkischen Linie entspricht.
Als einziger brachte der nationale Fernsehsender Star die Meldung in den Abendnachrichten vom Dienstag: Die türkischen Einsatzkommandos hätten demnach versucht, einen »heißen Vorfall« zu erzeugen, einen Zwischenfall zumindest. Sie schossen nicht etwa in die Luft, sondern direkt auf die griechische Patrouille am Evros. Die Zeitung »To Ethnos« hatte zuerst von dem Vorfall berichtet, den sie auf die frühen Stunden des Dienstags datiert. Ein Militärfahrzeug mit Soldaten und Grenzpolizisten sei demnach bei dem Dorf Sophikó unter massiven Beschuss gekommen. Allerdings habe keine Kugel auch nur das Gefährt getroffen; in Panik gerieten die Grenzschützer laut Augenzeugenberichten dennoch. Es muss mehr als eine Salve gewesen sein. Allein, die Griechen reagierten mit kühlem Kopf, um unabsehbare Folgen zu vermeiden.
In unmittelbarer zeitlicher Nähe haben türkische Kräfte zudem in der Nähe des Dorfs Pythio in die Luft geschossen – auch das aus rechtlicher Sicht ohne Sinn und Verstand. Welchen Eindringling wollten sie denn abwehren? Das Verhalten der Türken wird allgemein als Verzweiflungstat gesehen, da sie ihrem eigentlichen Ziel – der Überwindung des griechischen Grenzzauns und der Ermöglichung einer illegalen Einwanderung von einigen tausend Migranten in die Schengen-Zone – in den letzten Tagen nicht nähergekommen sind.
Grenzkampf statt Diplomatie
Am Evros stehen sich inzwischen erhebliche Truppenmassierungen gegenüber. Griechenland hat diese Woche nochmals 1.000 Soldaten an den Grenzfluss versetzt, zudem zwei Kompanien mit Spezialeinheiten sowie 1.000 ausgesuchte Polizisten. Hinzu kommen Spezialkräfte der österreichischen, polnischen und zypriotischen Polizei sowie 600 Grenzschützer der EU-Agentur Frontex. Am Dienstag konnte Mitsotakis dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz für diese Unterstützung auch persönlich in Wien danken. Ebenso hat Kurz den Griechen ausdrücklichst für den geleisteten Grenzschutz gedankt und zudem finanzielle Unterstützung für die griechischen Inseln in Höhe von einer Million Euro zugesagt. Die österreichischen Spezialkräfte gehören dem Einsatzkommando Cobra an und bringen unter anderem ein gepanzertes Fahrzeuge und Drohnen mit an die griechisch-türkische Grenze.
Dagegen haben auf türkischer Seite im ganzen 1.000 Mann der bekannten Sonderkräfte Aufstellung genommen. Ein Video hat man auch gleich produziert, in dem die türkischen Paramilitärs wie angewurzelt am Evros stehen, das andere Ufer stier im Blick. Dennoch ist weder anzunehmen, dass die türkischen Einsatzkommandos unbewegt bleiben, noch dass ihre Provokationen gegen die griechischen Grenzschützer in nächster Zeit abnehmen werden. Die Regungslosigkeit des Films ist schon Propaganda, denn die Türken sind hier ganz sicher nicht Verteidiger, sondern Angreifer. Und da sie die Nadelstiche setzen, auf die die Griechen dann an allen möglichen Stellen reagieren müssen, sind sie nicht unbedingt im Nachteil. Zudem können sie, wie schon gesehen, jederzeit die migrationswilligen Grenzbelagerer für ihre Zwecke rekrutieren. Alarmierend ist insofern, dass die Türken inzwischen eine Straße entlang der Grenze bauen sollen, die offenbar den schnellen Transport von einem Punkt der Grenze zum andern ermöglichen soll.
Kundige Beobachter erwarten daher weitere Provokationen von türkischer Seite in den nächsten Tagen. Dabei wird es natürlich vor allem erneut darum gehen, einige der Grenzbelagerer auf die andere Seite zu bringen. Nachdem seine ›diplomatischen‹ Bemühungen im wesentlichen gescheitert sind, versucht sich der türkische Präsident offenbar erneut im Grenzkampf, versucht quasi territoriale Gewinne zu machen. Der türkische Fernsehsender TRT zeigte dazu Bilder von harmlos aussehenden Patrouillen der türkischen Sonderkommandos auf dem Evros.
Aus Ankara heißt es, mit Hilfe der eigenen Einsatzkommandos werde man die griechische Seite unter Druck setzen, so dass die »Asylsuchenden« nicht zurück ins Land strömen könnten. Eindeutig ist, dass die türkischen Kommandos den vielleicht noch 6000 Migranten an der Grenze die Remigration ins Innere der Türkei auch mit Zwang verweigern, sie also wie in einem Hochdruckkessel auf die europäische Grenze am Evros anstürmen lassen.
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu versprach jüngst: »Was bis jetzt geschehen ist, ist gar nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen wird.« Man habe eine 200 km lange Landgrenze mit Griechenland, die die Türken offenbar an vielen Orten attackieren wollen. In einem Punkt wurde Soylu allerdings bereits von der Realität überholt: Die Trockenheit am Evros ist vorbei. Der Grenzfluss ist inzwischen wieder breiter und tiefer geworden – auch dank dem bulgarischen Präsidenten Bojko Borissow, der nach starken Regenfällen einen Staudamm an dem in Bulgarien Mariza genannten Strom öffnen ließ. Zu Fuß lässt sich der Evros damit weniger gut überqueren, auch Bootsüberfahrten werden naturgemäß schwieriger.
Provokationen in der Ägäis
Daneben kam es gestern, wie heute sämtliche Medien berichten, zu einem erneuten, ebenso flagranten wie bedeutsamen Übergriff in der Ägäis. Die Korrespondentin der BILD für Griechenland Liana Spyropoulou veröffentlichte ein Video, auf dem die türkische Küstenwache eben ein Boot des griechischen Küstenschutzes gerammt hat, wobei die Reling der Griechen beschädigt wurde. Auf dem Video sieht man die aggressiv navigierenden Türken noch im Hintergrund.
Derartige Manöver waren schon in den letzten Tagen zu sehen. Den Türken scheint es darum zu gehen, in griechische Gewässer vorzudringen und sich hier schadlos zu halten. Der neueste Vorfall am Mittwochmorgen hat sich in der Nähe der Insel Kos ereignet. Vor fünf Tagen war ein ähnliches Kreuzmanöver, noch ohne Materialschaden, bei Lesbos gefilmt worden. Vorerst weichen die Griechen noch aus und versuchen so, eine Eskalation zu vermeiden.
Staatspräsident Erdoğan verkündete unterdessen vollkommen ungehemmt, man werde die griechischen Boote in der Ägäis nun jagen. »Die Griechen fliehen, wir jagen sie. Von jetzt an wird das so sein.« Doch das Selbstbewusstsein und die Entschlossenheit der Griechen in diesen Dingen ist gestiegen. Sie werden sich ein solches Verhalten kaum auf Dauer gefallen lassen. Ganz sicher wird auch der Meisterjurist der Regierung, Jorgos Jerapetritis, dazu einige Ideen haben. Das griechische Außenministerium bestellte den türkischen Botschafter zum Rapport ein.
Inzwischen gibt es auch einen Covid-19-Fall auf Lesbos. Die Inselbehörden haben damit begonnen, den Supermarkt, in dem die Frau arbeitete, sowie die Schulen des Hauptortes zu desinfizieren. Für die Grenzschützer am Evros haben engagierte Bürger einer Gemeinde im fernen Westmakedonien Schutzkleidung und anderen medizinischer Bedarf gesammelt. Die Griechen stehen hinter ihrer Truppe. Das sollte auch dem Premierminister freie Hand geben.
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