Tichys Einblick
UNTERSTÜTZUNG FÜR ISLAMISCHEN STAAT

Die Türkei befreit gezielt IS-Dschihadisten

Mehrere hundert Kämpfer des IS konnten aus einem Gefangenenlager in Nordsyrien dank türkischen Beschusses entkommen.

imago images / INA Photo Agency

Allein 786 IS-Dschihadisten konnten durch türkischen Beschuss 2019 aus dem Lager Ain Issa in Nordsyrien entkommen. Die Lager in Nordsyrien mit IS-Gefangenen sind seit längerer Zeit instabil. Es gab zuvor schon wenige Wachposten, seit der Militäroffensive der Türkei in Nordost-Syrien noch weniger. Die Türkei destabilisierte dadurch die Gefangenenhaltung – mit dem Wissen, ein Wiedererstarken der Terrororganisation zu riskieren. Seitdem die USA sich aus Syrien zurückgezogen hat, sind die syrischen Kurden bei der Inhaftierung der gefangenen IS-Terroristen auf sich allein gestellt. Lager wie jenes in al-Hol, in dem 70.000 Menschen unter widrigen Bedingungen untergebracht sind, sind tickende Zeitbomben. Erst im April 2020 kam es im Gefängnis Hasakah zur Meuterei, in welchem jedoch die Kontrolle wieder hergestellt werden konnte.

Gemeinsam mit dem IS befreit die Türkei IS-Dschihadisten

Eine Aktion im Rahmen der türkischen Offensive von 2019 macht besonders misstrauisch: In der Stadt Kamischli an der türkisch-syrischen Grenze gingen am 11. Oktober vergangenen Jahres Granaten in der unmittelbaren Umgebung eines Gefängnisses nieder, sodass fünf IS-Kämpfer fliehen konnten, wie t-online berichtete. Der Ausbruch wurde auch von einem Autobombenanschlag des IS begleitet, bei dem drei Zivilisten getötet wurden. Noch in derselben Nacht geschah ein zweiter Autobombenanschlag des IS in der Stadt Hasaka. Laut Syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte hat diese zweite Explosion gezielt der zentralen Haftanstalt gegolten, in der IS-Terroristen gefangen gehalten wurden. War es Zufall, dass all das an einem einzigen Tag stattfand? Waren die militärische Aktion der Türkei und die terroristischen Anschläge des IS miteinander abgesprochen? War dies ein gemeinsamer Versuch, IS-Terroristen zu befreien? Wie sehr arbeiten der IS und die Türkei zusammen?

Organisierte Ausbrüche und Ausbruchsversuche

Die Wahrscheinlichkeit für diese These ist hoch. Ein Bericht der kurdischen Nachrichtenagentur ANF-News zeigt die gezielte Unterstützung der Türkei bei den Ausbrüchen von IS-Terroristen. Gegenüber ANF-News sagt eine aus einem nordsyrischen Lager geflohene IS-Dschihadistin über das Netzwerk des türkischen Gemeindienstes aus. Dabei handelt es sich um die türkische Staatsbürgerin Elif Sancar, die aufgegriffen wurde, als sie sich in einem Wassertanker versteckte. Sancar habe im Gespräch mit ANF über die Strukturen der „Befreiungsversuche“ aufgeklärt. Die „Befreiung“ von Dschihadistinnen werde vom türkischen Geheimdienst MIT durch die berüchtigte „Stiftung für humanitäre Hilfe“ (IHH) organisiert und finanziert.

Die IHH, die als eine Organisation der islamistischen Muslimbruderschaft (MB) gilt und der Verbindungen zu Al-Qaida und Hamas nachgesagt werden, fungiert für die Türkei als Transitinstrument und Partner bei der gemeinsamen Befreiung von Terroristen. Sancar habe berichtet, so ANF-News, dass viele Frauen über die IHH die Türkei erreicht hätten und dass ein sicherer Transfer gegen eine Zahlung von 15.000 Dollar durch die Familien mithilfe des MIT, des islamischen Staates (IS) und der Syrischen Nationalarmee (SNA) möglich sei. Sancar berichtet, ihr Bruder hätte am Telefon gesagt, dass die Türkei sie aus al-Hol herausholen würde, „Weg und Geld werden von der Türkei über die IHH bezahlt“. Weitere IS-Dschihadistinnen, die in die Türkei fliehen konnten, hätten ebenfalls bekundet, das Geld für die Flucht aus Lagern von der Türkei erhalten zu haben. Die Mehrheit der IS-Frauen seien auf diesem Weg geflohen. 

Sancar berichtete, dass für eine „Registrierung“ Passbilder nötig gewesen seien. Man kann davon ausgehen, dass also befreite IS-Dschihadisten einen neuen Namen und eine neue Identität – womöglich direkt von der Türkei – erhalten. Somit könnten sie möglicherweise auch unbemerkt zurück nach Europa reisen. Auf die Frage, warum Sancar vom türkischen Staat aus dem Camp geholt wurde, antwortete sie ANF: „Weil die Türkei uns will“. Eine andere aufgegriffene, geflohene IS-Dschihadistin sagte zu ANF: „Manche der Frauen, die über die IHH geflohen sind, blieben in der Türkei, andere kehrten in ihre Länder zurück“. 

IS-Frauen werden strategisch gebraucht

Höchstwahrscheinlich steckt dahinter sowohl eine Ideologie als auch eine Strategie, besonders die IS-Frauen zu retten. Es ist jedoch zu vermuten, dass die Türkei im Bündnis mit dem Islamischen Staat nicht nur Frauen befreit oder versucht zu befreien. Dschihadistinnen spielen heute eine entscheidende Rolle bei der Rekrutierung von Frauen – sie locken sie oft persönlich bis vor Ort ins Kalifat. Eine IS-Frau fungiert nicht mehr nur als Gebärerin, Erzieherin und Unterstützerin der Ehemänner. IS-Frauen werden aktiv in die Terrorgruppe eingebunden. Es gibt einerseits eigene Frauen-Bataillone. Doch vor allem die für die Terrororganisation äußerst wichtige Propagandaarbeit übernehmen Frauen. 

Türkei: Transit- und Förderland für IS-Terroristen

Schon im Jahr 2014 soll der türkische Geheimdienst MIT bewusst die Zusammenarbeit mit europäischen Geheimdiensten verweigert haben, als es um die sogenannten Reiseweg-Kontrollmaßnahmen ging. Der MIT hätte europäischen Ländern mitteilen müssen, wenn ein Islamist die türkische Grenze in ein Nachbarland überquert. Der Vorwurf lautete, dass dies über Monate hinweg nicht vom MIT ausgehend stattgefunden hätte. Im April vergangenen Jahres veröffentlichte der SPIEGEL einen Bericht, der die Türkei eindeutig als Transitland für IS-Dschihadisten ausfindig machte. 100 Reisepässe von IS-Angehörigen aus 21 Ländern wurden vom SPIEGEL ausgewertet: Alle 100 hatten einen oder mehrere türkische Einreisestempel, ohne Ausreisestempel. Dass türkische Behörden nie auf die rasant steigende Zuströme junger Männer aus arabischen Staaten oder Tunesien aufmerksam geworden sind, ist unmöglich. Die Türkei muss dies bewusst zugelassen haben.

Es passt in das Muster: Von der Türkei wurde bereits 2014 in den von der IS eroberten Gebiete an der türkischen Grenze Erdöl, Benzin, Geländewagen, Satellitenkommunikation, Drohnen, Düngemittel für Sprengstoff der Bomben geliefert. Auch wurde bereits durch Fotos bewiesen, dass der türkische Geheimdienst Waffen an die IS lieferte. Auch konnte der meist gesuchteste Terrorist, Abu Bakr al-Bagdadi, sich ungehindert in der nordsyrischen Region Idlib – die dem Einflussbereich Ankara unterliegt – verstecken. Allgemein wird vermutet, dass das türkische Grenzgebiet ein organisierter Unterschlupf für hochrangige IS-Terroristen ist. 

Die Türkei bringt Europa folglich gezielt in eine sicherheitspolitische Gefahr. Befreite IS-Dschihadisten können sich ungehindert und unbemerkt nach Europa absetzen und terroristische Aktivitäten von dort aus weiter verfolgen. Auch lässt Erdogan dadurch die Flüchtlingswelle in der Region aufrechterhalten und verstärken, wenn der Islamische Staat dort wieder erstarkt – und das tut er bereits: Durch die Konflikte in der Region und Corona konnte der IS stärker werden. Im diesen Frühjahr häuften sich Überfälle, Selbstmordattentäter, detonierte Sprengfallen im Irak – Aktionen, die der IS wieder in mehreren Gruppen und in komplexeren Operationen beging. 

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