Hochmut kommt vor dem Fall, sagt man; und in Bezug auf die gegenwärtige Lage in Polen und die anstehenden EU-Wahlen könnte dieses Diktum sich einmal mehr als wahr erweisen. Der Leser erinnert sich, dass die deutschen und europäischen Medien seit Machtantritt des christlich-sozialen Regierungsbündnisses Kaczyńskis im Jahr 2015 täglich mit verschiedensten Horror-Geschichten über angebliche Brüche des europäischen „Rechtsstaatsprinzips“ aufwarteten. Diese mündeten schließlich in mehrere EU-Verfahren, an deren Ende schließlich ein „Artikel 7“-Procedere, der Entzug wichtiger EU-Subsidien und gar die Drohung einer Aussetzung des Stimmrechts stand – ein Erpressungsverfahren, das letztlich wohl dafür ausschlaggebend war, dass der Regierungspartei PiS letztes Jahr bei den Parlamentswahlen eine absolute Mehrheit verwehrt blieb, und auch kaum eine andere Partei wagte, sich durch Koalitionsbereitschaft mit verpönten „Rechtskonservativen“ Brüssel (und Berlin) zum Feind zu machen.
Nun also ist alles vergeben und vergessen: Obwohl bis auf einige markige Reformversprechen (und die doch zumindest bedenkliche Ansage, fortan die wichtigsten Gerichtshöfe des Landes ignorieren zu wollen, da sie von konservativen Mehrheiten dominiert werden) keinerlei unmittelbare Veränderung des legalen Status quo eingetreten ist, ja ganz im Gegenteil die Regierung Tusk selber einen Bruch des Rechtsstaats auf den anderen türmt, um auch noch die letzten Bastionen konservativen Einflusses zu schleifen, betrachtet die Europäische Kommission nunmehr alle bisherigen Vorwürfe als überholt und will die entsprechenden Verfahren einstellen:
Die eigentliche Ironie dieses Possenspiels ist freilich, dass die meisten, wenn nicht alle Gründe zur Aufhebung des Verfahrens bereits von der diabolisierten Vorgängerregierung geschaffen worden waren, was die EU allerdings geflissentlich so lange zu übersehen wusste, bis besagte Regierung endlich abgewählt worden war: Erst dann gratulierte Ursula von der Leyen dem scheidenden Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki während der letzten Tage seines auslaufenden Mandats für seine Anstrengungen und gewährte die erste Zahlung des bislang zurückgehaltenen Covid-Hilfspakets; zweifellos, damit der wenige Tage später einzuschwörende Donald Tusk auf gut gefüllte Kassen für seinen demokratischen Staatsstreich zurückgreifen konnte …
Entsprechend wichtig ist der Begriff des „Rechtsstaats“: Die toxische Allianz aus EU-Institutionen, westlichen Medien und einheimischer Opposition hatte dafür gesorgt, dass viele polnische Bürger sich in der Tat in die Überzeugung hineingesteigert hatten, nur eine Abwahl der PiS könne noch die angeblich bedrohte Freiheit wiederherstellen und Polen in den erträumten „Wertewesten“ zurückbringen. Die ungeahnte Brutalität, mit der Tusk in der Folge allerdings alle konservativen Positionen beiseiteräumte und sogar von der deutschen Presse dafür gelobt worden war, den (teils immer noch konservativ dominierten) Rechtsstaat zugunsten der „höheren“ Ideale linksliberaler Demokratie und Diversität zu beugen, hat viele Polen zweifeln lassen, ob die neue Regierung tatsächlich „freiere“ Verhältnisse als die alte geschaffen hat.
Hier gilt es also für die EU dringend, den polnischen Bürger zu beruhigen und der Regierung Tusk nun auch hochoffiziell ihre Rechtsstaatlichkeit zu bescheinigen – und somit auch die Freigabe weiterer Subsidien in den Raum zu stellen. Und diese braucht das seit der Covid-Pandemie immer noch krisengebeutelte Land dringend, zumal die neue Regierung Tusk drastische finanzielle Entscheidungen getroffen hat, indem sie etwa die von der Vorgängerregierung ausgesetzte Mehrwertsteuer auf grundlegende Konsumgüter wiedereinführte oder unter dem Druck Berlins Unsummen in sogenannte „grüne Energien“ investierte. Auch der ungarische Wähler dürfte die Entscheidung gegenüber Polen mit Interesse verfolgen: Ungarn ist ebenfalls von einem „Artikel 7-Verfahren“ betroffen und leidet unter den entsprechenden Pressionen, und viele linksliberale Wähler dürften sich wohl wünschen, lieber heute als morgen ebenfalls wieder wie ihre polnischen Nachbarn zum Club der (angeblich) „guten“ Europäer zu gehören.
Doch hat die EU in ihrem Triumphalismus das Spiel nicht möglicherweise überreizt? Nicht nur in Polen, auch im restlichen Europa wundert sich der Bürger, wieso rechtsstaatliche Persil-Scheine nunmehr offensichtlich nicht mehr aufgrund konkreter Reformen, sondern bloßer Ansagen ausgestellt werden, und das unter gleichzeitig flagrantem Wegsehen, wo tatsächliche Verstöße gegen grundlegende demokratische Prinzipien zu beklagen sind. „Vote the right way, or else!“, resümierte der ungarische Think-Tank MCC Brussels kürzlich die Vorgänge:
Dem ist nur wenig hinzuzufügen: Die Entscheidung der EU dürfte wenig dazu beitragen, die steigende politische Polarisierung des Kontinents zu überwinden, sondern sie vielmehr noch vertiefen, indem auch noch die letzten Masken an Objektivität und Neutralität fallen gelassen werden. Ob dies geeignet ist, moderate und unentschiedene Wähler auf die Seite der gegenwärtigen EU-Eliten zu ziehen, sei dahingestellt …