Tichys Einblick
„Die Vielfalt ist außer Kontrolle geraten“

Die Olympischen Spiele in Paris – aus Asien gesehen

Wie bewertete man in China und Japan den LGBTQ-Triumphalismus und die logistischen Defizite der Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympischen Spiele? Ein höchst differenziertes Bild, mit dem sich der Westen dringend auseinandersetzen sollte.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Hannah Peters

Angeblich leben wir ja in einer multipolaren und globalisierten Welt. Trotzdem interessiert sich in der westlichen Hemisphäre kaum jemand wirklich dafür, wie die eigenen politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Entwicklungen von außen gesehen werden, allen voran in China und Japan. Nun wäre es vermessen, hier in ein paar Zeilen für anderthalb Milliarden Menschen sprechen zu wollen; trotzdem lässt sich festhalten, dass die Reaktionen auf die Eröffnungsfeierlichkeiten der Pariser Olympischen Spiele 2024 vom anderen Ende Eurasiens aus gesehen recht kritisch ausfielen.

Japan: „Provokation gegen die Mehrheit“

Am klarsten waren die Reaktionen aus Japan: Obwohl (oder vielleicht weil) das Land traditionellerweise ein überaus liberales Verhältnis zu Erotik und Homosexualität aufweist, hat man doch mit einiger Verstörung auf die Omnipräsenz von LGBTQ-Motiven in Paris reagiert. Den Japanern ist nicht entgangen, dass es in Europa zu einer intensiven Diskussion zwischen rechts und links gekommen ist und die Organisatoren der Eröffnung schließlich zu einer Entschuldigung gezwungen worden sind; interessanterweise wurden in einigen Journalen daher ganz bewusst Vertreter der japanischen LGBTQ-Minderheit um ihre Stellungnahmen gebeten, die allerdings völlig unterschiedlich zu dem ausfielen, was bei den europäischen LGBTQ-Milieus Usus geworden zu sein scheint.

So erklärte Koji Shigunai, stellvertretender Direktor der „LGBT Understanding Promotion Association“, bei den Spielen sei die „Vielfalt außer Kontrolle“ geraten, und mit der massiven Inklusion von Drag-Motiven habe es eine Verzerrung der eigentlichen Identität schwuler Menschen gegeben, die in ihrer überwiegenden Mehrheit an gleichgeschlechtlicher Liebe, nicht aber an Drag- und Trans-Aspekten interessiert seien, welche eigentlich nur in Nachtclubs gehören: „Ich frage mich, wie viel die Leute verstehen werden, wenn wir Diversität mit Drag Queens gleichsetzen und sie bei der Eröffnungszeremonie des Hauptevents der Olympischen Spiele in Szene setzen. Das war ein schlechter Schachzug, wie auch die französische christliche Kirche beklagte. Der Inhalt war nicht angemessen.“ Shigunai betrachtete die Inszenierungen auch als „ein soziales Experiment, bei dem die Organisatoren absichtlich eine kontroverse Wirkung erzwungen haben“. Schließlich erklärte er: „Es müssen Grenzen gezogen werden, sonst gerät die Vielfalt außer Kontrolle. Ich denke, die Eröffnungszeremonie sollte etwas sein, das die Athleten zum Nachdenken bringt.“

Ganz ähnlich drückte sich Daigo Matsuura aus, ehemaliger Abgeordneter im japanischen Parlament und bekennender Homosexueller: „Es fühlte sich wie eine Provokation der LGBTQ-Minderheiten gegen die Mehrheit an, als ob sie sagen wollten: ‚Wir sind die Gerechtigkeit‘ und ‚Wir haben gewonnen‘. Ich habe das Gefühl, dass es eine Provokation gegen die Mehrheit war.“ Dies sei grundfalsch, denn LGBT-Aktivitäten, die wirklich darauf abzielen, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, sollten nicht triumphalistisch, sondern „mit Demut gelebt werden“.

China: LGBTQ+-Elemente als Spitze des Versagens

Was China betrifft, so gibt es für den westlichen „Gutmenschen“ spätestens seit der Migrationskrise 2015 einen eigenen Namen: „baizuo“ („weiße Linke“), welcher der Frage- und Antwort-Webseite „Zhihu“ zufolge Personen bezeichnet, die zwar von den echten Weltproblemen keine Ahnung besitzen, sich aus moralistischer Anmaßung aber nur für Themen wie Einwanderung, Minderheiten, LGBTQ und Umwelt interessieren. Der Anlass für die Entstehung dieses Stereotyps: Unzählige chinesische Studenten und Arbeiter in ganz Europa waren schockiert davon, selber in Job und Studium härteste Anstrengungen leisten zu müssen, während der Kontinent gleichzeitig mit Millionen von echten oder angeblichen, zudem höchst ungenügend ausgebildeten Flüchtlingen geflutet wurde, die in großzügigster Weise untergebracht, ernährt und, soweit wie möglich, in Arbeit gebracht wurden. Das Problem der „woken“ Kultur ist den Chinesen also durchaus vertraut, aus politischen Gründen aber ebenso wie die LGBTQ-Thematik politisch sehr heikel.

Denn in China sind gleichgeschlechtliche Beziehungen zwar nicht kriminalisiert, werden aber in jeder Hinsicht gerade unter Xi Jinping marginalisiert und sind in den Medien und der „Zivilgesellschaft“ so gut wie abwesend, ohne dass man allerdings von einer offenen Kampagne sprechen könnte. Die französischen Eröffnungsfeierlichkeiten zwangen die chinesischen Medien daher, zumindest teilweise die in Paris omnipräsenten Motive zu teilen; man sah aber weitgehend von einer wie auch immer gearteten Kommentierung ab und reduzierte die Bilder zudem auf das strikt Notwendige. Zudem hat die chinesische Führung noch keine einheitliche Haltung gegenüber der „woken“ Kultur entwickelt.

Freilich wird keine Gelegenheit ausgelassen, Seitenhiebe gegen den „Westen“ auszuteilen; trotzdem sind Grundelemente der woken Kultur viel zu interessant für die chinesische Propaganda, um rundweg abgelehnt zu werden. Denn zumindest die „intersektionale“ Kritik an Sklaverei, Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus lässt sich seit Mao recht gut zur Legitimierung der eigenen chinesischen Positionen verwenden: Da man gerne auf die entsprechenden westlichen Bewegungen verweist, um die eigenen politischen Forderungen zu unterstreichen, muss man notgedrungen auch den Aspekt des Kampfes gegen „toxische Maskulinität“ bzw. die „Unterdrückung“ von LGBTQ-Minderheiten in Kauf nehmen bzw. wenigstens totschweigen, um nicht das gesamte Gedankengefüge zu diskreditieren, solange man es benutzen will.

Entsprechend wurde die innereuropäische Polemik um die Spiele auf wichtigen Journalen wie etwa der Parteizeitung einfach gar nicht erwähnt. Umso intensiver fiel die Diskussion aber in den chinesischen sozialen Medien aus, allen voran Weibo. Auf der einen Seite fand man die üblichen Befürworter der LGBTQ-Forderungen, wenn etwa ein sehr einflussreicher User mit 380.000 Followern anlässlich der Abbildung einer „ménage à trois“ schrieb: „In einer wirklich vielfältigen und integrativen Gesellschaft hat jeder das Recht, Sex frei zu erkunden und zu genießen, ohne durch gesellschaftliche Tabus und Vorurteile eingeschränkt zu werden. Das ist die wahre Bedeutung dieser Szene.” Andere hingegen kritisierten die Inflation von LGBTQ-Motiven wie etwa ein weiterer User, der 986.000 Follower zählt: „Die LGBTQ+ Elemente sind die Spitze absoluten Versagens. Die Olympischen Spiele sind ein Ort des Wettkampfsports und der sportlichen Betätigung. Und doch wurden diese Dämonen und Geister gezeigt … und auch noch ermutigt durch alle Arten von Schmeicheleien.“

Kritik gab es aber auch an den logistischen Vorbereitungen der Franzosen. Es wurde bemängelt, dass noch einen Monat vor der Eröffnung ein Teil der Veranstaltungsorte noch gar nicht fertiggestellt war, auf den Straßen lautstarke Proteststreiks stattfanden und sogar der Sicherheitsplan für die Olympischen Spiele gestohlen worden war. Ein Blogger vermerkte bissig, dass Paris „die traditionellen Kunstfertigkeiten des alten Europa geerbt hat: mangelnde Hygiene“. Ein Video, das fast 800.000 Mal gesehen wurde, beklagte die massiven Drogenprobleme in Frankreich, während auf Weibo das Thema „Diebe aus ganz Europa stürmen nach Paris“ 20 Millionen Aufrufe erhielt.

Da die Olympischen Spiele in Paris besonders umweltfreundlich sein sollten, wurden in den Schlafsälen keine Klimaanlagen installiert und die Bettstätten aus einer Art Pappe gefertigt; ein Weibo-Blogger namens „Dafeng Pingian“ berichtete daraufhin: „Frankreich hat sein Bestes gegeben, aber sie benutzen Pappbetten und haben keine Klimaanlage, was zeigt, wie arm das Land ist.“ Da einige chinesische Sportler sich daraufhin scheinbar auf eigene Faust Klimaanlagen und anständige Matratzen besorgten, musste schließlich der Sprecher der chinesischen Delegation formell das Gerücht widerlegen, die gesamte Gruppe hätte diese Schritte erwogen oder wolle die Unterbringung kritisieren. Zwar betonte er, die Unterbringungsbedingungen seien im Vergleich zu früheren Spielen zwar „sehr unterschiedlich“, aber „die grundlegenden Standards sind immer noch dieselben“.

Gerade einmal so gut wie die inländischen Provinzspiele Chinas

Dieses Auseinanderklaffen zwischen sozialen Medien und offiziellen Darstellungen scheint repräsentativ für die gesamte chinesische Berichterstattung zum Westen: Während europäische private wie öffentliche Medien von den Verhältnissen in China meist ein denkbar schlechtes Bild zeigen, halten sich die chinesischen Staatsmedien in ihren Aussagen zu Europa im Allgemeinen und den Spielen im Besonderen sehr zurück und treten dabei sogar systematisch angeblichen „Gerüchten“ entgegen, die in den sozialen Medien Chinas kursieren und zunehmend die unübersehbaren Defizite des Westens betonen. So schrieb „China News Network“ blumig: „Paris ist eine Stadt, in der es nie an Romantik und Kunst mangelt. Von historischen Denkmälern, Kunstgalerien, Gemälden und Skulpturen bis hin zum täglichen Leben der Menschen ist die künstlerische Atmosphäre auch der Puls dieser Stadt.“ Ganz offensichtlich sollte das erheblich düsterere Bild korrigiert werden, das viele chinesische Touristen von ihrem Paris-Urlaub nach Hause bringen. Wieso diese Rücksicht?

Die chinesische Führung denkt im Gegensatz zu den kurzlebigen europäischen Regierungen langfristig und plant nicht nur für eine Wahlperiode im Voraus, sondern ganze Jahrzehnte. Das chinesische Bild Europas, ja des gesamten Westens wandelt sich in den letzten Jahren allerdings recht rasch, und es genügt, sich den Ausdruck auf den Gesichtern chinesischer Touristengruppen in London, Paris, Los Angeles oder Berlin anzuschauen, um einen Eindruck davon zu erlangen, welcher mentale Umsturz gegenwärtig in Gang gebracht wird. Diese Betroffenheit nährt aber gleichzeitig im Umkehrschluss auch eine neue chinesische Selbstsicherheit, die natürlich ebenfalls in den außenpolitischen Bereich ausstrahlt, und fördert somit eine gewisse nationale Arroganz, die der gegenwärtigen Regierung nicht ganz geheuer ist. Denn zum einen sind die Vorbereitungen für einen möglichen größeren Konflikt mit dem Westen bei weitem nicht weit genug gediehen, um jetzt schon ein Risiko in Kauf zu nehmen, zum anderen ist der Verweis auf den eigenen „Rückstand“ gegenüber dem Westen seit jeher ein wichtiges, ja zentrales Argument der Kommunistischen Partei Chinas, um den inneren Burgfrieden zu wahren: Nichts käme der chinesischen Regierung ungelegener, als gewissermaßen von „rechts“ überholt zu werden und in einen politischen Antagonismus hineingedrängt zu werden, der gegenwärtig unerwünscht ist.

Deshalb wird auch Paris in den chinesischen Medien noch einige Jahre lang die Stadt der Liebe, der Lichter und der Kunst und nicht der verarmten Banlieues, des Bandenterrors und der überbordenden Mülleimer bleiben. Freilich wird dies nicht mehr lange gelingen können, denn kaum einer der unzähligen chinesischen Teilnehmer an den Olympischen Spiele in Paris wird sich wohl der folgenden Aussage eines Bloggers verschließen können: „Die Olympischen Spiele in Peking gelten als die besten in der Geschichte, und die Olympischen Spiele in Paris sind nicht einmal so gut wie unsere inländischen Provinzspiele.“

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