Tichys Einblick
Der Wind dreht

Die Niederlande am Wendepunkt

Hippe linke Themen wie Klima, Stickstoff, mehr EU und ungehinderte Einwanderung sind aus der Mode gekommen. Statt dessen geht es um teure Energie, hohe Lebensmittelpreise und die Unmöglichkeit, ein Haus zu kaufen. Die geduldigen Niederländer sind ungeduldig geworden, und manches spricht für eine Wende.

IMAGO / ANP

An diesem Mittwoch finden in den Niederlanden Wahlen statt. Sie könnten sich als die wichtigsten der Nachkriegszeit erweisen. Nachdem die Bürger bei den Regionalwahlen im März überraschend der neuen „BoerBurgerBeweging“ (BBB) zur Mehrheit verholfen hatten, könnte nun die nächste Überraschung bevorstehen, ein Rechtsruck.

Zu Beginn der Woche gab es noch mehrere Favoriten, darunter eine neue Mittelpartei und einen älteren Anwärter, Geert Wilders` wohlbekannte „Partei für die Freiheit“. Seine Glanzzeit schien nach 2016 vorbei zu sein, doch nun ist er wieder da. Die Chancen für eine Zeitenwende stehen gut.

Bauern und Bürger als Herausforderung
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Im Juli dieses Jahres hatte Mark Rutte, der liberale Rekordpremier – er ist seit 2010 an der Macht – zur allgemeinen Überraschung aufgegeben. Der letzte Grund waren Meinungsunterschiede in der Asylpolitik. Er war mit seinem Wunsch, die Familienzusammenführung für anerkannte Asylbewerber einzuschränken, nicht durchgekommen.
Der ruhmlose Abgang Ruttes

Vier Tage nach dem Sturz seines Kabinetts kündigte Rutte an, dass er sich aus der nationalen Politik zurückziehen wolle. Zunächst wollte er Lehrer werden, inzwischen hat er sich als Nachfolger für Jens Stoltenberg um das Amt des NATO-Generalsekretärs ins Spiel gebracht.

Ruttes Abgang hat die politische Landschaft verändert. Bis zum Aufstieg seiner konservativ-liberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) zur größten Partei des Landes hatten die Liberalen ein Jahrhundert lang keinen Premierminister gestellt. Nachdem Rutte kurzzeitig eine Mitte-Rechts-Koalition angeführt hatte, die von Geert Wilders toleriert wurde, leitete er elf Jahre lang Koalitionskabinette, die eine links-progressive Politik verfolgten. Ab 2012 regierte Rutte zunächst mit den Sozialdemokraten, ab 2017 dann mit einer Vier-Parteien-Koalition, der neben den progressiven Liberalen der D66 auch zwei christliche Parteien (CDA und Christliche Union) angehörten.

Diese Koalition scheint an Rückhalt verloren zu haben. Mark Rutte wurde oft vorgeworfen, ein Opportunist zu sein, dem die Politik egal ist, solange er Premierminister bleibt. Vor allem rechte Wähler fühlten sich von Rutte, der einen D66-Kurs verfolgte, nach und nach betrogen. Überraschend war das nicht, denn Rutte, dem seine eigene Partei oft zu rechts war, verfolgte immer deutlicher den Kurs der progressiven D66. In Sachen Umweltpolitik und bei der Bekämpfung der Stickstoffemissionen, im Klimabereich sowie bei der EU-Ausrichtung sollten die Niederlande Vorreiter sein. Die traditionell konservative Finanzpolitik wurde aufgegeben und durch eine Reihe kostspieliger Maßnahmen ersetzt.

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Obwohl 400.000 Häuser fehlten, gab es keinen Versuch, die Rekordeinwanderung zu drosseln. Die Kommunen wurden gesetzlich dazu verpflichtet, bei der Vergabe von subventionierten Sozialwohnungen Quoten für Asylbewerber vorzusehen..
Unter der Führung der Progressiven wurde die beliebte Figur des „Zwarten Piet“, des schwarzen Begleiters des weißen St. Nikolaus, verboten. Weitere Maßnahmen, Verbote und Vergünstigungen folgten, um die Bevölkerung auf das Programm der woken Volksbelehrer einzustimmen.

So nahmen die Gegensätze, die Enttäuschungen und die Irritationen zu. Obwohl das Land von einem Premierminister regiert wurde, der einer Mitte-Rechts-Partei angehörte, sah es so aus, als würde es von einer linken Minderheit beherrscht. In den Rutte-Jahren dominierten die kosmopolitischen Präferenzen von Bevölkerungsgruppen, die in den Großstädten und an den Universitäten zu Hause waren.

Die Revolution kommt vom Land

Dass ein Mitte-Rechts-Land von einer Mitte-Links-Koalition regiert wird, lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass die dominierende Partei D66 (mit 24 Sitzen im Parlament) in den letzten zehn Jahren fast alle Wahlversprechen der GroenLinks (der niederländischen Grünen) übernommen hat. Für die Sozialdemokratie PvdA gilt ähnliches, auch sie ist zu einer grünen, europhilen und woken Partei geworden. Auf diese Weise wurden die überwiegend rechten Niederlande über Jahre hinaus von einer überwiegend linken Koalition regiert.

In der Zwischenzeit braute sich, außerhalb der Universitätsstädte und fern des Regierungssitzes Den Haag, einiges zusammen. Zahlreiche Gruppen fühlten sich übergangen oder schlecht vertreten. Schon vor den Corona-Jahren kam es zu massiven Demonstrationen von Bauarbeitern, Lehrern, Landwirten und Mitarbeitern des Gesundheitswesens. Das autoritäre Vorgehen des Rutte-Kabinetts – monatelange Ausgangssperren ohne vernünftigen Zweck – hat die Aufsässigkeit noch einmal verstärkt.

TE-Video-Dokumentation
Niederlande: Landwirte protestieren gegen Green Deal
Im Sommer 2022 kam es dann zu regelrechten Aufständen von Landwirten und ihren Sympathisanten. Sie richteten sich gegen die rigorose Anti-Stickstoff-Politik der Regierung Rutte. Der Bauernaufstand griff über auf die Städte und erreichte im März dieses Jahres mit dem oben schon erwähnten Wahlergebnis seinen Höhepunkt. Der Aufstieg der neuen BoerBurgerBewegung ging einher mit einer Niederlage der christdemokratischen CDA und löste unter den Christdemokraten in ganz Europa, einschließlich CDU und CSU, einen Schock aus.

Obwohl die Bauernpartei BBB in den Umfragen inzwischen etwas eingebrochen ist, ist eine Regierung ohne sie aufgrund ihrer starken Position im niederländischen Senat, der zweiten Kammer, kaum möglich. Sie hat allerdings Konkurrenz bekommen: die neue Partei von Pieter Omtzigt, einem ehemaligen CDA-Mitglied, ist offenbar im Aufwind. Omtzigt inszeniert sich als Anti-Rutte und gilt, anders als der, als verlässlich.

Die Sozialdemokraten und die Grünen mögen in den Rutte-Jahren überproportional viel Einfluss gehabt haben, doch haben diese Parteien an Rückhalt verloren. Die Wahlen bestreiten sie gemeinsam. Dass es Frans Timmermans, Parteichef der Arbeiterpartei und Mitglied der EU-Kommission, an der Spitze einer grün-sozialen Koalition zum Premierminister schaffen könnte, gilt allerdings als unwahrsheinlich. Denn der Ärger über die linke Dominanz ist groß und weit verbreitet.

Geert Wilders wieder im Spiel

Nur so erklärt sich das überraschende Comeback des „Populisten“ Geert Wilders. Auch wenn seine Partei gewinnen sollte, hat er aber kaum eine Chance, Premier zu werden. Alles weitere ist ungewiss wie immer: Ruttes VVD, jetzt angeführt von dem in der Türkei geborenen Dilan Yesilgöz, wird es sich nicht leisten können, die Linke wieder an die Macht zu bringen. Die Chance, dass die progressiven Liberalen der D66 mit Hilfe der konservativen Liberalen regieren können, ist gering, da die D66 – so einflussreich sie in den letzten Jahren auch gewesen sein mag – Umfragen zufolge vor einer Niederlage steht.

Und so kommt Geert Wilders wieder ins Spiel. Der Krieg im Nahen Osten und seine Folge, die Hamas-freundlichen Demonstranten, sind für einen Islamkritiker wie ihn hilfreich. Der Wind springt um. Hippe linke Themen wie Klima, Stickstoff, mehr EU und ungehinderte Einwanderung sind aus der Mode gekommen. Statt dessen geht es um teure Energie, hohe Lebensmittelpreise und die Unmöglichkeit, ein Haus zu kaufen. Die geduldigen Niederländer sind ungeduldig geworden, und manches spricht für eine Wende.

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