Tichys Einblick
Um alles oder nichts

Die liberale Opposition bläst bei den polnischen Doppelwahlen 2019 zum Sturm auf die PiS-Festung

Der „polnisch-polnische Krieg“ wird jedenfalls auch nach 2019 mit unverminderter Härte weitergehen, wohl noch zusätzlich befeuert durch den Kulturkampf, der sich nach dem Mai voraussichtlich auch auf EU-Ebene voll entfalten wird.

Wie die meisten anderen Mitgliedsnationen der EU haben die Polen am Sonntag ihre Abgeordneten zum EU-Parlament gewählt. Mehr noch als andernorts besaß diese Wahl hier den Charakter einer Vorwahl, denn im Oktober steht auch die Wahl zum Sejm, dem polnischen Parlament, an. Folgt man die oppositionelle „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska – PO), so geht es bei der in diesem doppelten Urnengang um die Ablösung der seit Ende 2015 regierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) von der Macht nicht um einen bloßen Mehrheitswechsel, sondern um nichts weniger als die „Wiederherstellung der Demokratie und des Rechtsstaats“. Es sei dahingestellt, dass die Durchführung der besagten Wahlen ohne jene Voraussetzungen wohl kaum erfolgen würde; vielmehr geht es um die – präsumtive – Endphase des „polnisch-polnischen Krieges“, jenes seit 2005 zwischen den anfänglich gegen die Postkommunisten verbündeten konservativen Parteien PiS und PO tobenden politischen Kulturkampfs um ein eher „liberales“ bzw. „soziales“ Polen sowie um den Platz des Landes in der EU.

„Vierte Republik“

Tatsächlich befindet sich Polen, wie schon einmal am Ende der ersten PiS-Regierung 2007, in einem Zustand starker innerer Anspannung. Die von den Nationalkonservativen angestrebte Neuordnung des Staates wird zwar nicht mehr, wie ein Jahrzehnt zuvor, in Abgrenzung zur Dritten Republik von 1990 programmatisch als „Vierte Republik“ bezeichnet. Es geht aber immer noch um die seinerzeit von vermeintlich allzu liberalen Kräften versäumte – bzw. bewusst unterlassene – „Durchleuchtung“ (lustracja) der kommunistischen Kader und deren Entfernung aus dem öffentlichen Leben. Gemeinsam mit einer freigiebigen – und wie ihre Gegner meinen: ruinösen – Familienförderpolitik und einem allgemeinen anti-neoliberalen Affekt bildet dies nach wie vor die stärkste Wahlmunition. Die zweite PiS-Regierung hat zwar auch der Opposition seit 2015 jede Menge solcher Munition geliefert, angefangen von einer offensichtlichen Günstlingswirtschaft bei der Besetzung von Führungspositionen in staatlichen Großkonzernen über die teils peinlichen öffentlichen Auftritte von Ministern und Botschaftern und den Pädophilieskandal in der mit der PiS politisch verbandelten katholischen Kirche bis hin zum gerade eben – fast im Stile Maggie Thatchers 1984/85 – reichlich brutal abgewürgten Streik des Polnischen Lehrerverbands, der für seine Mitglieder mehr Geld und verbesserte Arbeitsbedingungen gefordert hatte.

Aber ungeachtet dessen erscheint der Rückhalt der Regierung in der Bevölkerung sehr stabil. Ein Grund hierfür ist – neben dem anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum – ihre Fokussierung auf ‚metapolitische‘ Themen, die die Aufmerksamkeit von den tagespolitischen Niederungen auf das „Wesen“ Polens und die Frage seiner schieren Existenz zu richten versucht. Unter anderem konnte sie die Opposition noch stets mit zwei Kernthemen vor sich hertreiben: erstens mit dem Vorwurf der – freilich nicht nur während der liberalen Tusk-Ära – wuchernden Korruption (unter anderem verkörpert in einer Reihe fragwürdiger Privatisierungen wertvoller Grundstücke im Zentrum Warschaus) und zweitens mit der Frage, wer die nationalen Interessen Polens auf der internationalen Bühne am besten vertritt. Dabei ist es ihr in den Augen offenbar nicht weniger Bürger gelungen, die PO als Komplizin des noch immer ungestraft agierenden postkommunistischen (und jetzt hyperkapitalistischen) Establishments hinzustellen.

„Polexit“ meint in Polen etwas anderes

Die PO ihrerseits verfolgt eine hiervon gar nicht so verschiedene ‚metapolitische‘ Strategie. Sie inszeniert sich als letzte Bastion gegen die angebliche Aushöhlung der polnischen Demokratie und der daraus folgenden Verbannung des Landes an die „Peripherie Europas“; hierbei ist auch vom drohenden „Polexit“ die Rede. Damit ist aber nicht gemeint, das die PiS-Regierung die EU verlassen wolle (davon kann keine Rede sein), sondern dass sie durch ihren Regierungsstil und vor allem durch ihre seit 2016 eingeführten, vermeintlich verfassungswidrigen Reformen bei der Richterwahl für die höchsten nationalen Gerichte und in anderen Bereichen der Judikative wesentliche Errungenschaften der 1990 errichteten Dritten Republik aufgebe, Grundrechte einschränke und sich systemisch den autoritären Regimen Wladimir Putins und Recep Erdogans annähere. (Ironischerweise wird dieses Bild in der polnischen Kulturgeschichte auch mit dem antemurale christianitatis, dem Schutzwall des lateinischen Christentums gegen Russen und Osmanen, assoziiert – eine Metaphorik, die ansonsten vor allem die PiS zur Warnung vor der russischen Gefahr nutzt.)

Der PO-Vorsitzende Grzegorz Schetyna, der auf wiederkehrende Vorhaltungen, er besitze kein Charisma, mittlerweile trocken und selbstbewusst entgegnet, dafür sei er ja recht erfolgreich, hat in der Tat seine nach der Niederlage von 2015 desorientiert wirkende Partei wieder in eine disziplinierte Truppe verwandelt und führt sie nun mit harter Hand in den von ihm proklamierten ‚Endkampf‘ mit der regierenden PiS. Der frühere Sejm-Marschall (Parlamentspräsident) und Außenminister wurde 2016 zum – ungeliebten – Nachfolger des 2014 als EU-Ratspräsident nach Brüssel gegangenen langjährigen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Donald Tusk. Zugleich gelang es Schetyna, nach einigen Mühen seine Partei, deren Autorität und Glaubwürdigkeit ziemlich angeschlagen war, wieder zur unangefochtenen Anführerin der „totalen“ Opposition gegen die PiS-Regierung zu machen. Hierzu setzte er sich an die Spitze der teils parlamentarischen, teils außerparlamentarischen Proteste gegen die systemischen Reformen der neuen Regierung und verband sich dabei strategisch mit der EU-Kommission und der deutschen Bundesregierung. Dieses ‚supranationale‘ Bündnis stellt auch im aktuellen Wahlkampf ein Schlüsselelement dar. Dabei handelt es sich um ein innenpolitisch durchaus gewagtes Manöver, weil auch viele liberale, „proeuropäische“ Polen dem Anspruch der EU-Kommission, die nationalen Institutionen der Mitgliedstaaten zu kontrollieren und vermeintliches Fehlverhalten zu sanktionieren, kritisch gegenüberstehen. Und anders als in manchen westeuropäischen Ländern ist nationale Zuverlässigkeit unverändert eine zentrale Größe im politischen Wertespektrum der patriotisch erzogenen Polen.

Wetterleuchten Kommunalwahlergebnisse

Als erstes Wetterleuchten für einen möglichen Machtwechsel interpretierten die Liberalen immerhin ihren Erfolg bei den Kommunalwahlen vom Oktober/November 2018, als sie sich vor allem in den großen Städten behaupteten und insbesondere der PO-Kandidat für den Posten des Warschauer Stadtpräsidenten (Oberbürgermeisters), Rafał Trzaskowski, bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichte. Damals hatte sich die PO mit der kleineren liberalen Partei „Nowoczesna“ (Moderne) im Wahlbündnis „Bürgerkoalition“ (Koalicja Obywatelska) zusammengeschlossen. Darin war eine Selbststilisierung als ‚fortschrittliche‘ bzw. ‚zivilisierte‘ Bürger zum Ausdruck gekommen, wie sie auch bestimmte westeuropäische Parteien gern mittels des bildungsbürgerlichen Angeberbegriffs des „citoyen“ betreiben.

Nicht die PO selbst, die mit Blick auf die Demographie stets bestrebt sein muss, gemäßigt konservative Wähler von der PiS abzuwerben, wohl aber die sie unterstützende linksliberale Presse um das altehrwürdige Solidarność-Blatt „Gazeta Wyborcza“ und das postkommunistische Wochenmagazin „Polityka“ scheut sich seit jeher nicht, als Gegenbegriff zu jenen „Bürgern“ die großenteils (aber keineswegs nur) ländlich-kleinstädtische Wählerschaft der PiS als „ciemnolud“ zu betiteln. Dieser Begriff lässt sich näherungsweise mit „unaufgeklärte Volksmassen“ übersetzen oder auch – in Anlehnung an den Jargon der Berliner Republik unserer Tage – als „Dunkelpolen“. Jedoch sind diese und ihre politischen Vertreter nicht nur in der (relativen) Mehrheit, sondern auch überaus selbstbewusst und den von ihnen mit gleicher Inbrunst verabscheuten „urbanen Eliten“ selten etwas schuldig geblieben. Von hierher ist der von Schetyna implizierte Kulturkrieg der ‚progressiven‘ Großstädte gegen das ‚rückständige‘ platte Land eine nicht weniger riskante Angelegenheit als sein Paktieren mit den auf der Rechten vehement abgelehnten EU-europäischen ‚Supranationalisten‘ Merkel und Macron.

Parteien-Bündnisse

Für die Wahl zum EU-Parlament wurde als Erweiterung der erwähnten „Bürgerkoalition“ die „Europäische Koalition“ (Koalicja Europejska – KE) gebildet, eine Multiparteienliste zum Kampf gegen den Behemoth PiS bzw. die „Vereinigte Rechte“ (Zjednoczona Prawica); so heißt landläufig das Parteienbündnis der PiS mit ihren Partnern „Solidarna Polska“ (Solidarisches Polen) und „Polska Razem“ (Polen Gemeinsam). In der KE finden sich neben der PO und der „Nowoczesna“ die als „Bauernpartei“ bekannte, schon im Realsozialismus aktiv gewesene Polnische Volkspartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), das bis 2005 regierende, aber seitdem nur mehr politisch vor sich hinvegetierende postkommunistische „Bündnis der Demokratischen Linken“ (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) sowie die – winzigen – Grünen. Neben den beiden Blöcken „Europäische Koalition“ und „Vereinigte Rechte“ traten noch einige kleine, auf Unabhängigkeit von der PO bedachte linke Gruppierungen wie „Lewica Razem“ (Die Linke Gemeinsam) an sowie die eigentlich schon in Auflösung befindliche rechte Protestpartei „Kukiz ‘15“ und das weit rechtsstehende Wahlbündnis „Konfederacja“ (Konföderation).

Das Wahlergebnis vom Sonntag, das von allen Beteiligten als Zwischenergebnis nach der „ersten Halbzeit“ des großen ‚Endkampfs’ betrachtet wird, stellt nun für die Opposition eine – zumindest – taktische Niederlage dar. Die regierende PiS entschied die Wahl mit einem gar nicht so geringen Vorsprung von 7% für sich (offizielles Wahlergebnis: 45,38% gegenüber 38,47% für die KE bzw. 27 gegenüber 22 Sitzen). Infolge der massiven Polarisierung des Parteienspektrums hat außerdem lediglich noch die neue links-grüne Partei „Wiosna“ mit 6% die 5%-Hürde überwunden; die rechte „Konfederacja“ scheiterte dagegen knapp.

Entstehung eines Zweiparteiensystems?

In den Kommentaren vieler Beobachter ist angesichts dessen schon von der Entstehung eines Zweiparteiensystems die Rede (während es sich im Musterland Großbritannien gerade aufzulösen scheint). Ein weiteres Ergebnis, über das die polnischen Leitmedien bis zur ersten offiziellen Hochrechnung um 21 Uhr geradezu enthusiastisch sprachen, war die enorm angestiegene Wahlbeteiligung von 45,68%. Das mag nach deutschen Maßstäben zwar nicht hoch wirken; jedoch hatte der entsprechende Wert 2014 gerade einmal 23,83% betragen. Damit folgt Polen einerseits einem EU-weiten Trend, andererseits wirkte sich auch hier wohl die Zuspitzung des Wahlkampfs dahingehend aus, dass die Polen sich aufgerufen fühlten, dem jeweiligen Gegner eine klare Abfuhr zu erteilen.

Zudem hatte die von Schetyna zusammengeschnürte Mehrparteienkoalition von vornherein mit inneren Belastungen zu kämpfen: Zum einen hat der PO-Chef, um die kleineren Partner an sich zu binden, diesen eine große Zahl relativ sicherer Listenplätze in den verschiedenen Wojewodschaften überlassen. Als Folge hiervon wurden mehrere EU-Abgeordnete der PO, die unter normalen Umständen gute Aussichten auf eine Wiederwahl gehabt hätten, entweder gar nicht wieder aufgestellt oder aber auf wenig aussichtsreiche hintere Listenplätze abgeschoben. Einige prominente Gesichter der Partei – darunter ehemalige Minister – haben daraufhin ganz auf die Teilnahme an der Wahl verzichtet; von ihnen wird vor der im Herbst anstehenden Sejmwahl nicht unbedingt ein allzu enthusiastischer Einsatz zu erwarten sein. Und zum anderen hat das Bündnis mit Linken und Grünen die weltanschauliche Flexibilität der eher konservativen Angehörigen der PO und besonders ihrer langjährigen Verbündeten, der Volkspartei, aufs Äußerste angespannt. Letztere, die bei beiden Wahlen auch allein eine recht gute Chance auf ein ordentliches Wahlergebnis hätte, hat sich dieser Koalition ohnehin nur nach langem innerem Ringen angeschlossen, und dies vor allem, weil die PO in allen denkbaren Szenarien ihr praktisch unausweichlicher Partner ist. Auch wenn die kleinen links-grünen Verbündeten nur ein geringes Gewicht besitzen, sehen sich die Konservativen in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich nach links gerückt. Das ist auch Schetynas Absicht, der nicht zuletzt für die Augen der westeuropäischen Öffentlichkeit eine manichäische Kulisse aufgebaut hat, vor der sich die Polen zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkel, der „Rückkehr nach Europa“ und dem Abdriften nach dem ‚autoritären Osten‘ entscheiden sollen.

Machtkampf pur

Der kühl kalkulierende und für die Erlangung der Regierungsgewalt keine Opfer scheuende Machtmensch Schetyna weiß in Wirklichkeit, wie überzogen diese Schwarz-Weiß-Malerei ist. Auch wenn nach Meinung vieler polnischer und ausländischer Juristen die Gerichtsreformen der PiS fragwürdig sind und die schon bestehende Politisierung der Judikative weiter verschärfen (was in der EU aber keine Besonderheit wäre), so interessiert dieses Thema die meisten polnischen Bürger allenfalls am Rande. Auch scheint die Argumentation der PiS durchaus auf Resonanz zu stoßen, mit der Entfernung angeblich noch kommunistisch sozialisierter Richter die Korruption einzudämmen und endlich „gerechte Gerichte“ zu schaffen.

Neben der Brüchigkeit ihres alarmistischen Narrativs von der angeblich in ihren Grundfesten bedrohten Demokratie und der Gefahr, als nationale Verräter gebrandmarkt zu werden, könnte sich die Bürgerplattform aber auch in grundsätzlichen weltanschaulichen Fragen verheddern. Denn im Kern ist sie trotz ihrer jüngsten, vorwiegend taktisch motivierten Öffnung für bestimmte „progressive“ Themen keineswegs eine linksliberale Partei westeuropäischen Typs, sondern eine nationalliberale Partei, die die angeblich historisch begründeten Ansprüche Polens auf eine führende Rolle in Europa ebenso zielstrebig verfolgt wie ihre nationalkonservative Konkurrentin. Auch innenpolitisch sind die Ähnlichkeiten zwischen den beiden sich auf das antikommunistische Erbe der Solidarność berufenden Parteien größer, als es das Medienbild wiedergibt und es dem westlichen Betrachter erscheinen mag. Die PO verfolgt gleichsam eine konservativ abgefederte Modernisierung, die vor allem wirtschaftsliberal ausgerichtet ist und der Idee des schlanken Staates anhängt; zugleich sind in kultureller Hinsicht viele ihrer Mitglieder und Wähler ebenso „nationalkatholisch“ wie diejenigen der PiS. Der Traditionalismus der PiS ist jedoch ostentativer und verbindet sich mit einem eher interventionistischen und distributiven Verständnis von Sozial- und Wirtschaftspolitik; nicht von ungefähr nannte vor Jahren Parteichef Kaczyński Bayern und die CSU als Vorbild für die eigenen Entwicklungsziele. Inzwischen hat freilich Viktor Orbáns Ungarn diesen Part im Weltbild der PiS übernommen.

Gegen hypothetische EU-Armee

Hinzu kommt ein antagonistisches Verständnis von Außenpolitik, dem die PO ein diplomatischeres Verhalten entgegenstellt. Inhaltlich gibt es allerdings gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik kaum tiefergehende Differenzen zwischen den beiden konservativen Parteien. So gab es über Fragen wie die Festschreibung eines verbindlichen Anteils der Verteidigungsausgaben von 2% am Staatshaushalt (entsprechend dem Beschluss des NATO-Gipfels von Newport 2014) in der Verfassung oder das Ersuchen um die Stationierung amerikanischer Truppen in Polen kaum eine Diskussion. Auch die Liberalen teilen überdies das tiefe Misstrauen der Konservativen gegen die militärischen Fähigkeiten (und politischen Implikationen) einer hypothetischen EU-Armee; zu sehr hängt das nationale Selbstbild der Polen parteiübergreifend an den – echten oder vermeintlichen – Verdiensten polnischer Streitkräfte gerade zu Zeiten bedrohter oder inexistenter eigener Staatlichkeit.

Ein struktureller Umstand, durch den die PO es seit jeher schwer hat, eine Mehrheit zu erlangen, ist die „eiserne Wählerschaft“ der PiS, jener auf etwa ein Drittel anzusetzende Teil des Wahlvolkes, der dieser Partei immer die Treue hält und angesichts der ‚liberalen Gefahr‘ extrem mobilisierbar ist. Eine analoge Mobilisierung der „urbanen Eliten“ hat sich stets als schwieriger erwiesen; die Wahlsiege Donald Tusks von 2007 und 2011 verdankten sich neben dessen Charisma der viele liberal-konservative Bürger verschreckenden Regierungspraxis der PiS. Tatsache ist, dass letztere sich beim zweiten Versuch ihrer ‚Revolution von oben‘ stabiler darstellt und trotz zahlreicher von ihr zu verantwortender Fehlleistungen und Peinlichkeiten in den Wahlumfragen der letzten Jahre fast immer die Nase vorn hatte, sowie auch am vergangenen Wahl-Sonntag wieder. Bei der Sejmwahl, für die die Parteien separat betrachtet werden, könnte die PO allein lediglich 25-26% erreichen; hier wird alles darauf ankommen, welche anderen PO-freundlichen Parteien außer der PSL die bei nationalen Wahlen geltende 4%-Hürde überwinden können.

Einen weiteren Unsicherheitsfaktor für einen Sieg des liberalen Bündnisses bedeutet die überraschende Gründung der Partei „Wiosna“ (Frühling) im Februar 2019 durch den wohl prominentesten offen homosexuellen Politiker Polens und früheren Bürgermeister von Słupsk (Stolp in Pommern) Robert Biedroń. Der jugendlich-charismatische Biedroń bedient in unverhohlen antiklerikaler Manier jene libertär-progressiven Themen, denen sich die PO wie angedeutet nur mit angezogener Handbremse nähern kann und will. Er hat wie erwartet der KE hauptsächlich in den Großstädten wichtige Prozentpunkte abgenommen und ihr so wohl den symbolischen Sieg über die PiS vorenthalten. Bezüglich der Sejmwahl im Oktober besteht hingegen kaum ein Zweifel, dass Biedrońs Partei sich, um die verhasste PiS abzulösen, einer PO-geführten Regierung kaum würde verweigern können.

Im EU-Parlament ein weltanschaulich gespaltenes Polen

Im EU-Parlament findet sich schon länger jenes Bild eines weltanschaulich gespaltenen Polen: Die maßgeblichen Parteien der KE gehören entweder zur Europäischen Volkspartei EVP (PO und PSL) oder zum liberalen Parteienbündnis ALDE („Nowoczesna“), zwischen denen fließende Übergänge bestehen und die in Zukunft wahrscheinlich enger zusammenarbeiten werden. Die Partei „Wiosna“ wurde vor den Wahlen als neuer polnischer Partner an die Sozialistische Partei Europas affiliiert. Die PiS hingegen bildet – bisher gemeinsam mit den britischen Tories – die stärkste Gruppe innerhalb der Fraktion der „Europäischen Konservativen und Reformer“ (ECR), der berühmt-berüchtigten „Euroskeptiker“ bzw., wie sie selbst sich nennen, „Eurorealisten“. Diese Anordnung eignet sich – wie auch in anderen EU-Staaten – hervorragend zur medialen Befeuerung der vermeintlich apokalyptischen Auseinandersetzung zwischen „Europafeinden“ und „Proeuropäern“.

Während Viktor Orbans eigensinnige Fidesz-Regierung die EVP in ein Dilemma zwischen dem erwünschten Machterhalt und der Öffnung für ‚kosmopolitische‘ Positionen gebracht hat, macht die PO als Gegenpart zur „europafeindlichen“ PiS es den Nominal-Konservativen also zumindest der äußeren Form nach leicht. Deshalb und wegen ihres ‚heroischen‘ Einsatzes für die „Rettung der polnischen Demokratie“ wird die Gruppe der PO-Abgeordneten nach der Wahl in der EVP – wohl besonders von der CDU/CSU-Gruppe – unabhängig vom konkreten Ergebnis mit großem Applaus als Vertreter des guten, europäischen Polen empfangen werden.

Es kann als sicher gelten, dass die seit Jahren gewohnten Redeschlachten zwischen den beiden großen polnischen Parteien im EU-Parlament weitergehen werden. Wichtiger und zugleich offener ist, wie stark sich die PiS-Vertreter für die Schaffung einer geschlossenen rechtskonservativen Fraktion engagieren werden. Im Prinzip wären sie hierzu im engen Schulterschluss besonders mit der italienischen Lega und den – allerdings stark gerupften – britischen Tories in einer guten Position. Allerdings müsste hierzu das EU-Parlament als politischer Handlungsraum im Denken der PiS-Führung erheblich aufgewertet werden; außerdem hegt diese starke Vorbehalte gegen die in ihren Augen allzu russlandfreundliche Haltung der Lega, der AfD und FPÖ sowie besonders des französischen Rassemblement National. Allerdings läge hier, wenn auch auf ungewohnter Ebene, eine Option für jene EU-europäische Führungsrolle, die alle polnischen Regierungen beständig eingefordert haben. Das gilt umso mehr, als die polnische Regierung im Ministerrat trotz der zeitweisen Unterstützung durch die anderen Visegrad-Staaten vermutlich auch zukünftig einen schweren Stand haben wird.

Gegen neokolonialistisch empfundene EU-Vertreter

Dagegen haben die Parteien der „Europäischen Koalition“ das Problem, dass ihre Rolle als Freunde der führenden westeuropäischen Mächte ihnen in der Heimat durchaus schaden könnte. Jenseits des linksliberalen Milieus in Polen und überhaupt in Mitteleuropa hat das als kreuzzüglerisch und neokolonialistisch empfundene Auftreten von EU-Vertretern wie des Vizepräsidenten der EU-Kommission und sozialistischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans sowie von Kommissionschef Jean Claude Juncker oder dem Führer der Liberalen im EU-Parlament Guy Verhofstadt viel Wasser auf die Mühlen der „Vaterlandsverteidiger“ von der PiS geleitet.

Dabei ist jedem klar, dass hinter jenen besonders ‚scharf‘ agierenden Repräsentanten der Benelux-Staaten tatsächlich die „Großen“ Merkel und Macron stehen. Die vermeintliche(!) Deutschfreundlichkeit der PO hatte seinerzeit schon Donald Tusk die Häme der PiS eingebracht, von den Vorhaltungen wegen seines im Zweiten Weltkrieg zur Wehrmacht eingezogenen kaschubischen Großvaters bis hin zur immer wieder bemühten Vision von Polen als eines „deutsch-russischen Kondominiums“. 2017 hatte die polnische PiS-Regierung die zweite Amtszeit ihres angeblich unpatriotisch agierenden Landmanns Tusk als EU-Ratspräsident zu verhindern versucht und war damit am geschlossenen Votum aller anderen Mitgliedstaaten gescheitert.

Tatsächlich waren jene Behauptungen und Positionen reichlich absurd, nicht zuletzt, weil die Deutschland- und EU-Politik der PO (was großenteils dasselbe ist) in der Sache nicht weniger auf Steigerung der eigenen politischen und wirtschaftlichen Vorteile ausgerichtet ist als die der PiS; sie kommt nur etwas konzilianter und diplomatischer daher. Die „postnationale“ und wegen des Zweiten Weltkriegs gegenüber den Forderungen von „Opfernationen“ beinah unbegrenzt entgegenkommende Haltung der deutschen Außenpolitik hat es Polen schon früher erlaubt, praktisch ohne Gegenleistung von Berlin strategische Unterstützung, finanzielle Förderung und politische Protektion zu erlangen.

Es würden sich aber diejenigen im alten Westen der EU-15 einer fatalen Illusion hingeben, die aus PO-Chef Schetynas strategischer Orientierung auf die deutsch-französische Achse auch eine inhaltliche Annäherung an diese ableiten wollten. Denn auch ein Sieg des liberalen Bündnisses unter Führung der PO im Oktober würde nicht dazu führen, dass Polen die ‚universalistischen‘ Tendenzen der Bundesregierung und ihrer politischen Verbündeten nachvollziehen, also etwa – möglicherweise abgesehen von einer symbolischen Anzahl – seine Grenzen für (muslimische) Migranten öffnen würde. Ebenso wenig sind die weitere Abgabe substantieller Teile der nationalen Souveränität oder eine schnelle Einführung des Euro zu erwarten. Neben dem unumstrittenen Primat der Interessen der eigenen Bürger und den erwähnten sozial und kulturell konservativen Positionen verweist darauf unzweideutig die Wahlwerbung der polnischen Liberalen: Keine Spur fand sich hier von den in Deutschland und andernorts so gläubig vertretenen Ideen des „historisch überholten Nationalstaats“ oder „Europas als unserer einzigen Zukunft“.

Vielmehr wurden die Wähler damit geworben, die jeweilige Partei vertrete die politischen und wirtschaftlichen Interessen Polens in der EU am entschiedensten, sichere dem Land eine „führende Position“ in der Gemeinschaft und befördere so die nationale Sicherheit angesichts der russischen Bedrohung. Dem jeweiligen Gegner wurde dementsprechend die Vernachlässigung jener nationalen Interessenpolitik vorgeworfen. Auch eine eventuelle PO-geführte Regierung wird jedenfalls die enge Zusammenarbeit in der mitteleuropäischen Visegrad-Gruppe und mit den USA fortsetzen und dabei allenfalls rhetorisch-kosmetische Rücksichten auf die deutsch-französischen Träume von einer EU-Weltmacht nehmen.

Tusk als Problem daheim

Gerade deswegen aber könnte Schetynas Strategie der Polarisierung in der Heimat nach hinten losgehen. Denn mehr noch als etwa in Deutschland früher werden polnische Wahlen in der (rechten) Mitte gewonnen, wo die gemäßigt konservativen Wähler – und das ist deutlich mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten – sich in erster Linie von konkreten Interessen leiten lassen und dabei grundsätzlich beide konservativen Parteien zu wählen bereit sind. Tatsächlich scheint die in den linksliberalen Medien geschürte Angst vor dem „Untergang des Rechtsstaats“ und einer strafweisen Marginalisierung Polens in der EU vor allem diejenigen Wähler zu motivieren, die sich ideologisch am linken Rand der „Europäischen Koalition“ befinden; das Gegenlager ist aber wie gesehen gleich stark oder sogar stärker.

Der Pragmatismus und die Sicherheitsorientierung der meisten Wähler scheinen sich im Augenblick noch eher zugunsten der Regierenden auszuwirken. Nach der Niederlage bei der EU-Wahl gibt es außerdem keine Gewähr dafür, dass die „Europäische Koalition“ in dieser Konstellation auch bei den Sejmwahlen im Oktober antreten wird. Denn es könnten einige der kleineren Parteien – besonders die PSL – ihr Heil doch wieder in eigenen Wahllisten suchen, und für den Aufbau eines alternativen Bündnisses wird die Zeit fehlen. Zwischen den beiden Wahlen liegen nämlich die langen polnischen Sommerferien; im Juli und August sind die Städte wie ausgestorben, und es lassen sich daher keine strategischen Projekte verfolgen. Daher beschworen die Chefs der in der KE vereinten Parteien am Wahlabend mit grimmiger Entschlossenheit – allerdings auch mit steinernen Mienen – die Fortdauer ihres Bündnisses, da sich im Oktober das Schicksal des Landes „auf Jahrzehnte hinaus“ entscheiden werde.

Allerdings könnte dem PO-Chef zusätzliches Ungemach aus dem eigenen Lager drohen. Denn sein „Parteifreund“, der noch immer populäre ehemalige Ministerpräsident Tusk, dessen zweite Amtszeit als EU-Ratspräsident am 30. November endet, bereitet sich seit längerem auf ein politisches Comeback in seinem Heimatland vor. Die nächstliegende Option dafür wäre seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2020, die auch von Schetyna unterstützt wird. Die Niederlage vom Sonntag könnte aber Tusk zu dem Versuch verleiten, Schetyna den Parteivorsitz streitig zu machen und selbst als Spitzenkandidat der PO bei den Sejmwahlen gegen seinen Intimfeind, den PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, anzutreten, der ihm bis heute vorwirft, 2010 im Verein mit Wladimir Putin seinen Bruder Lech, den damaligen Staatspräsidenten, in Smolensk ermordet zu haben. An diesem Szenario hat Schetyna, der selbst regieren will, aber keinerlei Interesse, und so wird er auch Tusks publicityträchtige Wahlkampfauftritte in Polen mit gemischten Gefühlen verfolgt haben. Diese Ambivalenz wird jetzt, im beginnenden Wahlkampf für die Sejmwahlen, eher noch zunehmen; umso mehr muss Schetyna sein Wahlbündnis unbedingt zusammenhalten.

Auch der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński brachte seine Anhänger am Sonntag direkt nach der Verkündung des unerwartet klaren Sieges für den sich unmittelbar anschließenden nationalen Wahlkampf in Stellung. Seine unverhohlene Genugtuung darüber, dass der Gegner selbst unter Zusammenballung aller Kräfte die Festung der PiS – jedenfalls dieses Mal – nicht einnehmen konnte, verband er mit der Aufforderung, die eigenen Wähler im Herbst noch stärker zu mobilisieren, da „die Zukunft des Vaterlandes“ auf dem Spiel stehe. Im Moment scheinen die Chancen für die Behauptung der Regierungsgewalt gut zu stehen: Der liberale Gegner kann sich nur unter größten Mühen formieren, die mit der PiS konkurrierenden kleinen Rechtsparteien sind im Absterben begriffen, und die Stimmung der Mehrheit tendiert zum business as usual.

Maximum an Polarisierung

Festzustehen scheint im Augenblick nur eines: Beide politischen Blöcke betreiben ein Maximum an Polarisierung, aber es ist noch offen, wer davon am Ende am meisten profitieren wird. Der „polnisch-polnische Krieg“ wird jedenfalls auch nach 2019 mit unverminderter Härte weitergehen, wohl noch zusätzlich befeuert durch den Kulturkampf, der sich nach dem Mai voraussichtlich auch auf EU-Ebene voll entfalten wird. Allen Bemühungen der Etablierten zum Trotz geht auch hier der vermeintlich allumfassende „liberale“ Konsens, der die wahren Konflikte so lange verhüllt hat, zu Ende. 30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus könnten somit Polen und Mitteleuropa – die notabene keineswegs vorhaben, die EU zu verlassen, sondern sie zu transformieren – erstmals wieder die großen Themen der EU-europäischen Entwicklung vorgeben.


Jens Boysen, Warschau

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