Der Zufall wollte es, dass ich ausgerechnet während des Fußballspiels Deutschland-Ungarn auf Einladung des Deutsch-Ungarischen-Institutes in Budapest weilte, um mein Buch „Die Zukunft gestalten wir! Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden“ vorzustellen. Daneben ergab sich die Möglichkeit, die Andrassy-Universität kennenzulernen, mit Germanisten der Eötvös-Loránd-Universität ins Gespräch zu kommen, wo ich im Herbst über „Luther und Dürer“ sprechen werde, und schließlich im Archiv der Lutherischen Kirche mir das handschriftliche Originalmanuskript des Testaments von Martin Luther anzuschauen. Was in den vielen Gesprächen immer wieder als Frage durchklang, war, was mit Deutschland los sei – unabhängig davon, ob diejenigen, die mich fragten, Viktor Orbáns Politik befürworten oder ihr kritisch gegenüberstehen.
Man muss dazu wissen, dass in Ungarn eine positive Einstellung gegenüber Deutschland existiert und dass in dem Donauland die deutsche Sprache noch sehr verbreitet ist. Die Andrassy-Universität beispielsweise, die von Ungarn, von Bayern, von Baden-Württemberg und von Österreich gegründet wurde, ist eine deutschsprachige Universität, heißt, die Unterrichtssprache ist Deutsch. Dort studieren Studenten aus verschieden Ländern, sogar ein Student aus Lateinamerika.
Mit der Novellierung des Gesetzes XXXI von 1997 über den Schutz von Kindern und die Vormundschaftsverwaltung brach nun ein heftiger Konflikt zwischen der EU und Ungarn aus. Die meisten deutschen Medien bemühen sich, den Eindruck zu vermitteln, dass Ungarn isoliert in Europa dasteht.
Ein ungarischer Journalist bedauerte im Gespräch mit mir, dass seine deutschen Kollegen die Novelle des Gesetzes anscheinend nicht gelesen hätten, über die sie geschrieben haben. TE hat, damit sich jeder informieren kann, den Gesetzestext in deutscher Übersetzung gebracht.
Auf die Begründung der Kritik der Kommissionspräsidentin, dass sie an eine Europäische Union glaube, „wo wir alle sein können, wer wir sind“ und „in der wir lieben können, wen wir wollen“, erwiderte die ungarische Justizministerin Judit Varga: „Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität unterliegen in Ungarn einem strengen Verfassungsschutz. Gemäß Artikel XV Absatz (2) des Grundgesetzes garantiert Ungarn jedem die Grundrechte ohne Diskriminierung. Seit 2004 legt das Gleichbehandlungsgesetz in Artikel 1 klar fest, dass alle Personen im Hoheitsgebiet Ungarns mit dem gleichen Respekt behandelt werden müssen und verbietet ausdrücklich Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität.“ („Sexual orientation and gender identity fall under strict constitutional protection in Hungary. According to Article XV paragraph (2) of the Fundamental Law, Hungary shall guarantee fundamental rights to everyone without discrimination. Since 2004, the Equal Treatment Act has clearly stated in Article 1 that all persons in the territory of Hungary must be treated with the same respect and explicitly forbids discrimination based on sexual orientation and gender identity.“)
Es wird allerdings verboten, dass in Kitas und in Schulen „eine Abweichung von der dem Geburtsgeschlecht entsprechenden Selbstidentität, eine Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität“ propagiert oder dargestellt wird. In Ungarn dürften nach diesem Gesetz nicht wie in Deutschland Broschüren wie „Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik“ in Kitas und Schulen zur Anwendung kommen. Verboten wird nicht die freie Wahl der Sexualität, sondern eine „frühkindliche Inklusionspädagogik“ zu einem Zeitpunkt übrigens, zu dem Kinder selbst ihre eigene, zumeist heterosexuelle Geschlechtlichkeit noch nicht entdeckt haben. Varga erläutert das Ziel des Gesetzes so: „Das neue Gesetz konzentriert sich darauf, die Rechte der Eltern zu garantieren und Minderjährige vor dem Zugriff auf Inhalte zu schützen, die den Erziehungsgrundsätzen widersprechen könnten, die ihre Eltern ihnen beigebracht haben, bis sie selbst erwachsen werden. Bis dahin respektieren jedoch alle anderen Akteure – sei es der Staat oder die Schulen – das Recht der Eltern, über die Sexualerziehung ihrer Kinder zu entscheiden. Darum geht es in Ungarns neuem Gesetz.“ („The new law focuses on guaranteeing the rights of parents and protecting minors from accessing content that may contradict the educational principles their parents chose to teach them until they become adults themselves. Until that time, however, all other actors – be it the state or schools – shall respect the rights of parents to decide on the sexual education of their children. This is what Hungary’s new law is about.“)
In ihrer Argumentation bezieht sie sich auf Artikel 14 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der festlegt: „Die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundsätze sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet, welche ihre Ausübung regeln.“ sicher gestellt wird.
Die Novellierung des Gesetzes ist nationales Recht. Nach meinen Informationen haben 157 von 199 Abgeordnete bei einer Gegenstimme für die Novelle gestimmt. Die Linken und Liberalen votierten weder gegen das Gesetz, noch enthielten sie sich der Abstimmung, sondern blieben der Abstimmung einfach fern. Es gab keine Enthaltungen. Wenn man der Frage nachgeht, weshalb die Linken und die Linksliberalen nicht gegen ein Gesetz stimmen, wie man es in Deutschland von ihnen erwarten würde, dann ergibt sich eine andere Perspektive.
Wie in der Migrationskrise drängt der Ministerpräsident die Linken und die Linksliberalen zu Positionen, die von einer großen Mehrheit der Gesellschaft nicht geteilt werden. Die teils hysterischen Reaktionen aus dem Ausland schaden dem Ministerpräsidenten nicht, im Gegenteil, wenn der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte gegen das Gesetz wettert, dann empfinden die Ungarn das als Angriff auf ihre Souveränität. Somit agieren Politiker wie Rutte als Viktor Orbáns beste Wahlhelfer.
Justizministerin Varga hat auf Twitter Ruttes Aufforderung an Ungarn, die EU zu verlassen, „nur eine weitere Episode der politischen Erpressung“ genannt und hinzugefügt: Wir wollen die EU nicht verlassen, wir wollen sie vor Scheinheiligen retten.
Ein hochrangiger ungarischer Jurist erklärte mir, dass der Druck, der von der EU auf die Novelle ausgeübt wird, die im demokratischen Verfahren beschlossen wurde, Ungarns Souveränität in Frage stellen würde. Das könne Ungarn nicht akzeptieren.
Interessant an diesem Kommentar ist, dass die EU nicht zum ersten Mal die Souveränität und die Rechte ihrer Mitgliedstaaten in Frage stellt, wie sie kürzlich erst durch die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland unter Beweis gestellt hat. Mit diesem Akt hat die EU-Kommission verdeutlicht, dass weder die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichtes, noch das Grundgesetz der Bundesrepublik für die EU-Kommission anscheinend eine Bedeutung besitzt.
Die EU wird wohl nun gegen Ungarn ebenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen. Ruttes Äußerung ist deshalb skandalös, weil er über die implizite Drohung der Streichung der EU-Zuschüsse im Grunde den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten wohl zu stürzen beabsichtigt. Die Drohung, Ungarn aus der EU auszuschließen, kann jedenfalls nur den Zweck haben, den Ungarn zu verdeutlichen, dass sie nur ohne die FIDESZ und Viktor Orbán in der EU bleiben können.
Man muss weder mit der FIDESZ übereinstimmen, man kann die Novellierung ablehnen, aber darüber hinaus schaue man sich das Verhalten der EU an, denn das kann auch andere Staaten bei anderen Gesetzesprojekten treffen. Die EU-Kommission glaubt, über den gewählten Abgeordneten der nationalen Parlamente zu stehen. Empfindet man sich in Brüssel als die wahre Regierung Europas?
Die Ungarn lieben Europa, sie sind begeisterte Europäer, so wie sie gleichzeitig große Patrioten sind. Mark Rutte und andere, die nie für die Demokratie kämpfen mussten, nie auch nur hohe persönliche Risiken eingingen, sprechen über ein Land, das einen hohen Beitrag für das vereinte Europa leistete, indem es 1989 den Eisernen Vorhang zerriss. Es wäre gut, sie erinnerten sich daran. Es könnte sein, dass sie mit diesem herrischen Auftreten für eine neue Spaltung sorgen, für einen eisernen Vorhang der Ideologie. Wie immer man es betrachtet, welche Position man auch im Streit um die Novelle teilt, Sachlichkeit ist jedenfalls das Gebot der Stunde.