Tichys Einblick
Die Uhr tickt:

Die EU und Großbritannien könnten ohne Handelsvertrag auseinandergehen

Wer immer im kommenden Jahr voller Schadenfreude den Brexit für eine in schwere Not geratene britische Wirtschaft verantwortlich macht, entlarvt sich selbst als unseriöser Populist. Von Ramin Peymani

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Wie sehr haben wir mitgefiebert, gehofft und gebangt. 2019 war der Brexit eines der zentralen Themen in der deutschen Berichterstattung. Die Live-Schaltungen in die britische Hauptstadt wurden zum Dauerbrenner in den Nachrichtensendungen. Hin und her ging es, weil sich Premierministerin Theresa May sichtlich verrannt und die Rückendeckung weiter Teile ihrer Partei verloren hatte. Ihr Nachfolger Boris Johnson brachte den Zug wieder aufs Gleis und feierte einen Erdrutschsieg der Konservativen Partei bei den vorgezogenen Unterhauswahlen Ende des vergangenen Jahres. Der Weg war frei für das formelle Austrittsvotum des britischen Parlaments. Am 31. Januar 2020 wurde der Brexit besiegelt.

Doch die eigentliche Arbeit begann damit erst: Den geschiedenen Partnern blieben weniger als zwölf Monate, um die Trennungsmodalitäten zu vereinbaren und sich darüber zu einigen, wie man künftig miteinander umzugehen gedenke. Früh wurde klar: Die Verhandlungen würden zäh. Bis heute scheint es auf zentralen Streitfeldern kaum eine Annäherung zu geben. Die Uhr tickt, denn schon am 31. Dezember fällt unwiderruflich der Hammer. Bis dahin muss der Vertrag ratifiziert sein – oder das Vereinigte Königreich wird künftig mit der Europäischen Union Handel nach WTO-Regeln betreiben. Der „Bloc“, wie die EU in Großbritannien genannt wird, will dies unter allen Umständen vermeiden. Die britische Regierung scheint aber genau darauf hinaus zu wollen, obwohl auch ihr damit eine Fülle langwieriger bilateraler Verhandlungen bevorstehen, weil sie nicht mehr von den Vereinbarungen der EU mit fast 70 anderen Staaten und Territorien profitieren würde.

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Damit das Unterfangen noch gelingen kann, muss bis zum 15. Oktober ein aus Sicht der Brüsseler Verhandlungsführer zustimmungsfähiges Vertragswerk vorliegen. An diesem Tag soll nämlich der künftige Handelsvertrag auf einem EU-Gipfel bestätigt werden. Nicht mehr viel Zeit, um noch die Kurve zu kriegen. Wir dürfen uns auf hektische Wochen einrichten, in denen nach Monaten der medialen Ruhe wieder regelmäßige Sondersendungen über die bundesdeutschen Mattscheiben flimmern. Der Tenor dürfte dabei alles andere als wohlwollend sein, zeigt sich Brüssel doch schon heute ausgesprochen verstimmt darüber, dass Johnsons Regierung das Vertragspaket noch einmal aufschnüren will. Doch worum geht es dabei eigentlich?

Im Zentrum steht die Provinz Nordirland, einer der vier Teile, die neben England, Schottland und Wales das Vereinigte Königreich bilden. Hier wird ab 2021 eine direkte Landgrenze zur Europäischen Union verlaufen, weil das benachbarte Irland zur Staatengemeinschaft gehört. Die große Sorge der Briten ist, dass der Warenverkehr nicht mehr reibungslos funktionieren könnte, weil Zollbestimmungen und Deklarationspflichten nicht nur einen hohen bürokratischen Aufwand, sondern auch lästige Verzögerungen beim Transport bedeuten könnten. Und genau hier liegt der Knackpunkt: Brüssel besteht darauf, dass der rechtsverbindliche Austrittsvertrag, das sogenannte Withdrawal Agreement, eingehalten wird. Dies hat zur Folge, dass der europäische Handel mit Nordirland nach EU-Regeln abzuwickeln ist. Für die Briten ergibt sich damit die Situation, dass zwischen England, Schottland und Wales andere Handelsregeln gelten werden als im Waren- und Dienstleistungsverkehr Großbritanniens mit Nordirland.

Nicht nur Johnson sieht darin die Gefahr einer Spaltung, die mittelfristig zur Loslösung Nordirlands und zum Zerfall des Königreiches führen könnte. Aus diesem Grund hat er mit der üppigen Mehrheit seiner Partei ein neues Gesetz ins Parlament eingebracht, das den Briten die einseitige Option der Änderung des „Withdrawal Agreements“ einräumt. Auch in den eigenen Reihen halten einige führende Köpfe dies für einen Rechtsbruch. Sie sehen vor allem die Reputation Großbritanniens bedroht, was die Aushandlung künftiger Verträge massiv erschweren würde. Das Gesetz stößt aber bei den Parlamentariern auch deshalb auf Widerstand, weil es alle vier Teile des Königreiches dazu verpflichtet, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu begeben- was gravierende Nachteile hinsichtlich Verbraucherschutz und Qualitätsstandards nach sich ziehen könnte.

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Boris Johnson hat derweil klargemacht, dass er die Verhandlungen mit der EU abbrechen und einen „No Deal Brexit“ riskieren werde, sollte bis zum 15. Oktober keine Einigung erzielt worden sein. Die Konsequenz wäre, dass sich Großbritannien und die Europäische Union in einen Zoll-Wettbewerb begeben würden. Für die Verbraucher auf beiden Seite hätte dies Verteuerungen für importierte Produkte zur Folge. Die derzeitigen Verhandlungen geben bereits einen Vorgeschmack darauf, wie hart der Zollstreit künftig geführt würde. Die EU hätte damit neben China und den USA einen weiteren, unmittelbar vor der eigenen Haustür gelegenen Partner, mit dem man ringen müsste. Daneben erscheint aus britischer Sicht aber die Sicherstellung größerer Freiheiten hinsichtlich der Ausgestaltung von Arbeitnehmerrechten, der Umweltpolitik und des Sozialsystems mindestens ebenso wichtig. Auch hier liegen die beiden Parteien nahezu unversöhnlich im Clinch.

Letztlich haben sich Brüssel und London auf einen Austrittsvertrag geeinigt, den Johnsons Regierung in wesentlichen Punkten für inakzeptabel hält. Ganz von der Hand zu weisen sind die Einwände nicht, stellt das noch von Johnsons Vorgängerin ausgehandelte Abkommen doch vor allem sicher, dass die ausgetretenen Briten weiter nach der Pfeife der ungeliebten Brüsseler Bürokraten tanzen müssen, ohne künftig eine Mitsprache beim Setzen der Regeln zu haben. Bezahlen müssen sie den Apparat allerdings immerhin dann auch nicht mehr. Die EU hat die Causa Nordirland nun vorerst aus den Verhandlungen ausgekoppelt, um eine Einigung bei den anderen Streitthemen voranzutreiben. Schon die letzte Septemberwoche könnte zeigen, ob die beiden Geschiedenen doch noch zu einer gütlichen Einigung kommen, oder ein hässlicher Rosenkrieg bevorsteht.

Eines kann man allerdings schon heute feststellen: Wer immer im kommenden Jahr voller Schadenfreude den Brexit für eine in schwere Not geratene britische Wirtschaft verantwortlich macht, entlarvt sich selbst als unseriöser Populist. Nicht etwa der Austritt aus der Europäischen Union ist der Hauptgrund der aktuellen Turbulenzen, die sich noch verstärken dürften, sondern die Corona-Maßnahmen, die gerade die dienstleistungslastige britische Wirtschaft bis ins Mark getroffen haben. 700.000 Arbeitsplätze sind seit dem Lockdown des Frühjahrs verloren gegangen. Eine wahre Pleitewelle hat das Land erfasst, und die derzeit stark ansteigenden Infektionszahlen lassen einen weiteren wirtschaftlichen Stillstand in den Wintermonaten unausweichlich erscheinen. Wer also 2021 über britische Rekordeinbrüche berichtet, sollte wenigstens so fair sein, die Hintergründe nüchtern zu analysieren und die Fakten sachgerecht zu benennen. Ob Deutschlands Medienschaffenden das hinbekommen?


Ramin Peymani

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