Ende April hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eine neue »Finanzierungsvereinbarung« mit der EU ratifiziert. Die Einigung war im März von den EU-Spitzen abgesegnet worden und gilt für ein Jahr. Erdogan verspricht darin erneut, dass illegale Migranten auf dem Gebiet der Türkei verbleiben sollen, im Gegenzug soll die Türkei 122 Millionen Euro aus EU-Programmen erhalten. Die Gesamtsumme des Programms mutet etwas phantastisch an und beläuft sich auf gut 257 Millionen Euro. Die Türkei würde also etwas mehr als die Hälfte dieser Kosten selbst tragen.
Die EU-Ausgaben beziehen sich auf sieben Aktionsfelder, darunter die Unterstützung von Demokratie und »Governance«, von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten sowie zuletzt »EU-Unterstützung für innere Angelegenheiten« der Türkei. Die EU unterstützt die Türkei also bei der Erledigung ihrer eigenen, inneren Aufgaben. Doch dazu später mehr.
Zur Erreichung ebendieses Ziels sollen aber auch die »Networking-Besuche« erleichtert werden – und dazu würden wohl wiederum die »grauen Pässe« dienen, die einen visafreien Zugang zum Schengen-Raum ermöglichen. Die grauen Pässe stehen also auch in der neuen EU-Türkei-Vereinbarung vom März. Wörtlich heißt es, einer der Indikatoren für den Erfolg der grünen Städtepartnerschaften sei die Steigerung der Networking-Besuche, die durch ein Beihilfssystem und »nicht-finanzielle Unterstützung« bewirkt werden soll. All das steht auch im Zeichen des »Green New Deal«. EU-Grün reicht also Erdogan-Grau die Hand… daran ändert auch Cem Özdemirs Empörung einstweilen nichts.
Türkischen Medienberichten zufolge kehrt die Mehrzahl der Profiteure von diesen »grauen Pässen« aber in der Tat nicht in die Türkei zurück, sondern stellt einen Asylantrag im jeweiligen EU-Land. Als türkische Diplomaten aus Deutschland von Fällen von Menschenschmuggel mithilfe »grauer Pässe« berichteten, hat das türkische Innenministerium die Vergabe der Pässe angeblich auf Staatsdiener beschränkt. Ob das immer und auf Dauer so gehalten wird, lässt sich nicht verifizieren. Jedenfalls ist klar, und auch die prominente Position der Städtepartnerschaften im EU-Türkei-Finanzierungsabkommen deutet darauf hin: Hier wird die EU-Visumspflicht für türkische (oder auch nicht) Staatsbürger umgangen. Jene Visumspflicht, die Erdogan ohnehin gern abgeschafft sähe, was ihm aber bisher nicht gewährt wurde. Ein Hintertürchen steht offenbar seit Jahren offen.
Letzte Ölung für Erdogans „Wachdienste“ am Bosporus?
Doch Ungemach droht auch an anderer Stelle des Finanzierungsabkommens, sogar beim zentralen Anliegen der EU-Vertreter, als sie diesen Finanzierungsvertrag unterschrieben. Der Vereinbarungspunkt »innere Angelegenheiten«, für den 5,2 Millionen Euro bereitstehen sollen, dreht sich insgesamt fast nur um die Vermeidung der illegalen Migration. Doch diese Forderung findet sich in einer Vielzahl von Unterpunkten ausgedrückt, zum Beispiel als »Förderung der legalen Migration«, Standardisierung der nationalen Asylverfahren oder Kooperation beim »integrierten Grenzmanagement« (Integrated Border Management). Beim letztgenannten scheint noch nicht ganz klar, ob es irreguläre Migration nun unterbinden oder sie vielmehr in legale Bahnen umlenken soll. Für die zweite Option spricht vielleicht, dass die Internationale Organisation für Migration (IOM) das Konzept mit dem UN-Migrationspakt (Global Compact on Migration) und dessen Zielen in Verbindung bringt.
Konkret will die EU anscheinend erreichen, dass das Etikett »Flüchtling« in der Türkei dasselbe bedeutet wie in der EU (dabei bedeutet es nicht einmal in allen EU-Ländern dasselbe). Weiter soll die gemeinsame Risikoanalyse verbessert werden, und Kontrollen an Flughäfen sollen verbessert und ausgeweitet werden. Ein sehr gemischtes Maßnahmenpaket, dessen eigentlicher, ungenannter Zweck wohl darin besteht, Erdogan für Wachdienste am Bosporus zu schmieren, die er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder fahren lassen könnte.
Erdogan heizt die illegale Migration auch mit seinen Kriegen an
Aber auch die kriegerischen Aktionen des türkischen Präsidenten in Syrien, Libyen, dem Irak, Berg-Karabach und im östlichen Mittelmeer haben viel Vertrauen im Verhältnis zur EU zerstört. Die fortwährenden Konflikte am südlichen und östlichen Rand des Mittelmeers tragen im übrigen auch direkt zu den Migrationsströmen nach Europa bei. Vor allem verunmöglichen die diversen Bürger- und Stellvertreterkriege durch die Abwesenheit einer eindeutigen staatlichen Souveränität die Wahrnehmung der Verantwortung für Migration.
So wie jetzt in Libyen: Die Übergangsregierung in Tripolis wurde dank der Unterstützung Erdogans gestärkt, und so meint die EU, vertreten durch Innenkommissarin Ylva Johansson, auch hier einen praktischen Migrationspakt abschließen zu können. Aber ob es sich dabei um den richtigen Ansprechpartner für ganz Libyen handelt, ist immer noch nicht klar. Denn der widerständige General Haftar sitzt noch geschwächt auf seinem Posten im Osten des Landes, den er keineswegs aufzugeben gedenkt.
Die EU-Parlamentarier fordern, dass jede Beitrittsperspektive der Türkei zur EU an die Einhaltung demokratischer Standards gebunden sein muss. Wenn es dahingehend keine Verbesserung geben sollte, solle die Kommission die Beitrittsverhandlungen abbrechen.