Tichys Einblick
Schwung in Italien

Die ersten 100 Tage des italienischen „Schreckgespenstes“

Italien ist mit seiner neuen Regierung nicht untergegangen. Vielmehr wirkt es heute dynamischer als Merkel-Deutschland und innenpolitisch weniger gespalten: Die neue Regierung packt Probleme entschieden an.

FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images

Eines vorweg, Italien und dessen neue Mitte-Rechts-Regierung existiert noch, die Wirtschaft ist (noch) nicht eingebrochen, und das Trio, welches der Regierung ihr Gesicht gibt, bestehend aus Matteo Salvini – Luigi Di Maio – und dem parteilosen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte (von dem viele meinten, nur eine Marionette von Salvini und Di Maio zu sein), ist noch nicht eingeknickt. Im Gegenteil.

Wie versprochen verfolgt das Bündnis eine stringente Politik. Die Koalition besteht zudem auch aus anderen charismatischen Gesichtern, wie zum Beispiel Danilo Toninelli (Movimento Cinque Stelle; M5S), der Minister für Verkehr und Infrastruktur. Toninelli musste sich gleich um dringende Krisenfälle kümmern, wie etwa die Analyse der privaten Seenotrettungsschiffe und deren Besatzung, die Aquarius und die Diciotti sowie zahlreiche andere, die zielgerichtet italienische Häfen ansteuerten.

Toninelli erklärte den Italienern und auch Europa das maritime Seerecht. Zudem koordinierte Toninelli mit Salvini auch die medizinische Versorgung sowie die Verpflegung der geretteten Passagiere, währenddessen diese Italien nicht betreten durften. Dann die Tragödie der eingestürzten Brücke von Genua – auch hier war Toninelli derjenige, der mit seinen Experten sofort Lösungsmöglichkeiten und Hilfe anbot, Genuas Verkehr und Hauptader zum Hafen (von wo aus etliche Inseln und weitere Häfen, u. a. Sardinien täglich mehrmals angesteuert werden) in den kommenden Monaten und Jahren zu entlasten, ohne dass Genua größere finanzielle Einbußen verzeichnen sollte.

Den Neu- oder Wiederaufbau der Morandi-Brücke wird auch Toninelli koordinieren. Der Lockenkopf und Topjurist, ein sprachgewandter Intellektueller durch und durch, lieferte sich vor der Koalition bereits harte Duelle mit Salvini im Fernsehen bei Moderatorin Lilli Gruber. Im Grunde aber konnte auch die M5S einige Dinge der Lega mittragen: Immigration und Zuwanderung „Si“, aber bitte kontrolliert, und nicht allein!

Salvini führt
Die Richtungsänderung in Italien ist weiter erfolgreich
Seine Kollegin Barbara Lezzi, ebenfalls M5S, kümmert sich um die Region Süditalien. Giulia Bongiorno, sie ist aus Salvinis Lega, ist die verantwortliche Ministerin für „Öffentliche Verwaltung und Vereinfachung“, sprich dem Abbau von Bürokratie, die Italien seit langem eher bremst. Gleich fünf Minister sind parteilos – was auch zeigt, dass die Regierung willens ist und war, Fachleute und Experten von außen eine Chance zu geben, z. B. Giovanni Tria für Wirtschaft und Finanzen, sowie Enzo Moavero Milanesi, der für dem Minister des Auswärtigen – wobei dessen Auftritt bisher eher leise ausfällt. Salvini und Di Maio agieren europaweit als „Blitzableiter und Giuseppe Conte ist der Moderator.

Zum 100. Tag der neuen Regierung ist das Land jedoch weniger gespalten als z.B. Deutschland. Auch weil von vielen Ländern und Staatslenkern in Punkto Wirtschaft vorab in „Misskredit“ hinein geredet, stagniert diese zwar ein wenig – doch Italien setzt auf die Tiefe der Wirtschaft, regional wie überregional, die breit aufgestellt ist.

Das „Made in Italy“ zählt weltweit noch zu einem starken Qualitätsmerkmal. Aus Bedenken zogen zwar Investoren ihr Geld ab, doch blieb dies in überschaubarem Rahmen. Dass die Ratingagenturen Italiens Aussichten und Prognosen als eher „negativ“ einstuften, liegt eher darin begründet, weil die italienische Regierung offen formulierte EU-skeptisch zu sein. Nicht gegen Europa sei man, die EU und deren Überregulierungen und Bürokratie betrachtet man fernab der Menschen.

Dennoch, der eigene Industriellenverband sorgt sich. Lega/M5S versuchen aktiv, Bedenken zu zerstreuen. Salvini, di Maio sowie Conte und Tria wiederholen immer wieder, Italien werde „natürlich“ seinen Verpflichtungen innerhalb Europa nachkommen, man strebe auch Wachstum und dennoch Bodenständigkeit an -nur vom absoluten Sparzwang („eine Art wie in Griechenland“ wolle keiner in Italien) müsse man Abstand nehmen – ein wenig zu populistisch meinten Salvini wie Toninelli, der Brückeneinsturz von Genua mit über 40 Toten sei auch auf die EU-Politik der Austerität zurückzuführen. Wozu Austerität, fragte Matteo Salvini schon früher, um die Zuwanderung zu meistern, und „klandestine“, also nicht registrierte und kriminelle Migranten, im Lande zu haben? Mittlerweile geben sich beide nun auch ein Stück weit staatsmännischer.

Gleich an welcher Stelle der Autor über diesen Sommer mit Menschen zwischen Bozen und Venedig, sowie in Padova, in Kontakt gekommen ist, ist festzuhalten, dass die Regierung über eine große Anhängerschaft verfügt. Besonders bei den Selbstständigen, den Marktbetreibern, aber auch in der Gastronomie und in den Produktionen im Maschinenbau finden es alle gut, dass die neue Regierung versprochene Themen auch umsetzt. „Die Regierung? Sehr gut, sehr gut. Sie haben angefangen, bei sich die Diäten und spätere Pensionen zu kürzen. Und, es kommen weniger männliche Migranten aus Afrika an“, wie der Filialleiter Davide in einem Coop sagt, und den Daumen hebt.

Wendemarke
Die normative Kraft des Faktischen: Zur Lage in Italien
Zudem genießt Salvini, der vor Jahren schon einmal Kalabrien und Sizilien als den „faulen Süden“ beschimpfte, landesweit Rückendeckung. Gerade weil ihn Bürgermeister und Senatoren im Fall der Diciotti anzeigten – es sei nicht rechtens und unmenschlich, die Passagiere nicht an Land zu lassen. Wo gibt es das, dass Juristen und Bürgermeister einen Innenminister des Landes anzeigen? An Salvini aber perlt das alles ab, fast täglich ist der gebürtige Mailänder und Legachef (gelernter Journalist zudem) im Fernsehen oder Internet präsent. Und seine Anhänger bauen ihn täglich weiter auf. „Anzeigen? Das sind für mich Orden und Auszeichnungen“, lächelt Salvini in die Kameras oder in sein Handy. „Ich setze die Politik für Euch alle um…“. Aber auch ein Matteo Salvini muss aufpassen das Rad des Populismus nicht zu überdrehen.

Egal, ob M5S oder Lega, sie greifen Themen und Trends auf, die die Menschen bewegen und beschäftigen. Andere Parteien nehmen sich dagegen aus wie „Schlaftabletten“. Wie jüngst, als das Thema „Impfpflicht“ aufgeblasen wurde: Vor, während und nach den Wahlen, über Monate hinweg, hatten die Mitterechts-Populisten den Impfkritikern in der Gesellschaft vermittelt, man lasse sich nicht von der Pharmaindustrie und anderen miesepetrigen Lobbyisten nicht vorschreiben, mit welchen Impfstoffen der Nachwuchs ins Leben geschickt werde. Die Rede war davon, die Impfpflicht für Schulkinder wieder abzuschaffen, die allerdings erst vor Kurzem eingeführt wurde, weil die Eltern der Impfpflicht kaum nachgekommen waren, die Impfquote sank ziemlich tief ab. Danach stand die „flexible Verpflichtung“ im Raum, doch auch dieses Vorhaben wurde nicht mit nötiger Ernsthaftigkeit verfolgt.

Aber auch linke Blätter meinen, die neue Regierung sei nun selbst „Vaccinati“, geimpft, und aus den Kinderschuhen herausgewachsen. Sachlichkeit gegenüber Europa müsse noch einkehren, fordern viele linksliberale Politiker, und Italien dürfe nicht unmenschlich werden – gegenüber denen, die Hilfe benötigen: den Zuwanderern.

Salvini, Toninelli und Di Maio, kontern aber immer wieder, „Keiner wolle Zuwanderung abschaffen, aber bitte nicht in dieser Menge, und bitte kontrolliert“, bisher würden Menschen wegen einer falschen Politik im Mittelmeer sterben, aber erst in den vergangenen Tagen erzählte Salvini in Cernobbio am Comer See, wo er bei Parteimitgliedern eingeladen war, „die Zahlen der Ankünfte und der Toten ist auf dem niedrigsten Stand seit 2017 und 2016.“

Die Medien und Linksliberalen Parteien können ihn noch so sehr angreifen, die Korrektur in der bisher so lange verfehlten Flüchtlingspolitik steigerte Salvinis Popularität. Dass er sich mit der EU und Emanuel Macron fast anlegte, pushte seine Beliebtheitswerte noch mehr.

Der Innenminister sagte, Italien sei mit Migranten aus Afrika „überlaufen“, man werde „auch echten Zuwanderern nicht mehr gerecht, wenn sie in Zeltghettos assozial leben“ würden. Alles Dinge, so Salvini und Danilo Toninelli, die die Vorgänger-Regierung habe einschleifen lassen.

Ob die Diciotti, Aquarius oder Lifeline – die Namen der NGO-Schiffe, denen Salvini und Toninelli das Anlegen in italienische Häfen verwehrten oder die sie tagelang warten ließen, zeigte der Bevölkerung (aber auch anderen Europäern), diese Regierung meint es ernst.

Nun bemüht sich die Regierung darum, die Arbeits- und Wohnverhältnisse der Italiener zu verbessern.

"Illegaler Pushback"?
Italienisches Schiff bringt Migranten zurück nach Libyen
Kritiker, darunter viele Medien, sind der Meinung, die 100 Tage seien ausschließlich von der Flüchtlingspolitik geprägt. Aber besonders für und in Italien ist es mehr als bemerkenswert, wenn bis dato fünf Gesetzesvorlagen und Dekrete zur Umsetzung herausgekommen sind, von denen nur eines, nämlich das Dekret „Würde“ der Cinque-Stelle für eine Besserstellung prekär angestellter Arbeitnehmer tatsächlich relevant ist. Weitere Umsetzungen sollen folgen, es wird moniert, dass die „goldenen Renten“ der privilegierten Kaste vorerst nur angekratzt wurden. Die Regierung kontert, sie folge sehr bald, nur, auch im Parlament möchten manche die Reduzierung der Politpensionen (nach wenigen Mandatsjahren) torpedieren. Aber, jeder Bürger könne die Vorhaben im Internet nachlesen, und sie sind auf dem Weg.
Aber wie in jedem anderen Land auch, warum sollte es ausgerechnet hier anders sein, im Bel‘ Paese, können nie alle Versprechen auf einmal eingelöst werden. Zu viele Interessen müssen beachtet werden.

Die Gestaltung des ersten Haushaltes wird am meisten interessieren. Der Spielraum ist sehr eng, woher soll also das Geld etlicher Versprechen kommen? Wo kann intern an anderer Stelle eingespart, wo die Steuern besser verwendet werden? Die Regierungs-Versprechungen sollen über 100 Mrd. betragen. Die Idee der Lega für eine „Flat Tax“, eine einheitliche Steuersumme für alle Bürger und Branchen übergreifend, die das nationale Steuersystem revolutionieren soll, wird es vorerst wahrscheinlich nur für Unternehmen geben. Vom Grundeinkommen für Arbeitslose, wie es die M5S einst wollte, rückte man ab, es gilt als vorerst verschoben. Das Arbeitslosengeld soll ein bisschen „gepolstert“ werden. Beratungsresistent ist diese Regierung jedenfalls nicht – auch deshalb wurden von Di Maio, der hier als die treibende Kraft gilt, und Salvini Experten wie Giovanni Tria (parteilos) für Wirtschaft und Finanzen ins Regierungsteam geholt, ebenso wie Paolo Savona (Europäische Angelegenheiten) ein sardischer Wirtschaftswissenschaftler und Hochschuldozent. Beide haben einen immensen Einfluss, da spurt auch ein Salvini.

„Prima gli Italiani“, rief Salvini weit vor Trumps „America first“ aus. Für die Maastricht-Vorgaben werde man offenbar eine Quote von zwei bis zweieinhalb Prozent anpeilen, was noch immer weit über den 0,8 Prozent läge, die Italien für das nächste Jahr ausgehandelt hat. Da haben aber die Experten in Brüssel das letzte Wort, auch wenn es Salvini anders „verkauft“. Es ist immer eine Art des „psychologischen Sich-Messen-Wollens“ mit der EU, die Italien einfach zu wenig wertschätze, so das Empfinden bereits zu Renzis Zeiten. Doch die Regierung des anderen Matteo, so sehen es etliche Millionen Bürger, war immer zu devot und machte Politik „contro l’Italia“ – gegen Italien.

Ziemlich gut kommt Giuseppe Conte weg, wie erwähnt parteilos. Conte wirkt ausgleichend moderat und versteht sich auch als „Vermittler wie Moderator“, besonders in Brüssel. Dass sich Conte natürlich immer mit Di Maio und Salvini kurzschließt ist klar, aber auch er hat seinen eigenen Stil. Professor Conte war es, der bei der EU die Einrichtung von „Migrationszentren“ in Mittelmeeranrainern und in Nordafrika ankündigte. Viel passiert ist zwar noch nicht, aber in der EU wird Italien viel Entgegenkommen signalisiert.

Was will man von den ersten 100 Tagen erwarten? Die seien wie im Fluge vergangen, wie Di Maio auf „Sky tg 24“ sagte. Kritische, aber auch neutrale Beobachter halten zumindest fest, dass andere Regierungen nicht von so vielen „Krisenfällen“ auf einmal betroffen waren. Zurück zum Brückeneinsturz von Genua, bei der die neue Regierung trotz aller populistischer Töne und Schuldzuweisungen „bella figura“ machte. Salvini, Di Maio sowie Toninelli und Conte, wurden mit stilvollem Applaus beim Staatsbegräbnis für die Todesopfer begrüßt.

Mit Jetski nach Europa
Migration: Italien blockiert und Spanien wird zum Luxus-Ziel
Nach dem Brückeneinsturz in Genua mit 43 Todesopfern will die Regierung das System der privaten Autobahnlizenzen ändern, alle (!) Wegstrecken über Brücken, darüber und auch darunter untersuchen lassen. Viel Gegenwind bekam die Familie Benetton von der Lega/M5S ab. Wer wusste es denn schon davor, dass der Benetton-Clan nicht nur bunte Pullover produzieren ließ, sondern auch die „Holding Edizione Srl“ besitzt und seit langem Flughäfen, Raststätten sowie Banken kontrolliert und eben als Autobahnbetreiber, auch Aufsicht über die Straßen und Brücken hat?

„Die Verantwortlichen werden ausfindig gemacht“, und sie müssten für die Tragik und für die Hinterbliebenen „bezahlen“. Salvini „selbst“ wolle dafür Sorge tragen, dass die Rechtsprechung und die Urteile „bestimmt keine neun Jahre dauern“. Salvini spielte dabei auf das Unglück am Bahnhof von Viareggio im Jahre 2009 an, bei dem damals 32 Menschen zu Tode kamen, als ein Güterzug mit flüssigem Butan beladen entgleiste und explodierte. Das erstinstanzliche Urteil ist noch nicht umgesetzt.

Salvini und Justizminister Alfonso Bonafede (M5S) versprachen, dass man das Gerichtsverfahren nicht in die Länge ziehen werde. Und da zeigte sich wieder, dass diese neue Regierung zumindest „trendsicher“ weiß, was die Bürger erwarten, und wie die Psychologie und der Stolz im Lande aufgebaut werden. In guten wie in schlechten Zeiten.


Giovanni Deriu, 47, Dipl. Sozialpädagoge, gelernter Journalist, bereist Italien und Tschechien sehr oft. Deriu unterrichtete in Hongkong und Kabul/Afghanistan. 

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