Tichys Einblick
Eine nicht alltägliche Einordnung

Die Anbindung der Ukraine an die Nato ist längst real

Die Ukraine ist informationstechnisch gesehen de facto Nato-Mitglied. Den Communication Centers der USA sind Großbritannien, Polen, Slowakei, Slowenien, die baltischen Länder, Estland, Lettland, Litauen und nun auch Finnland angeschlossen. Schweden und Finnland waren schon zuvor eng in die Nato-Command-Structure eingebunden. Von Torsten A. Kurschus

IMAGO/NurPhoto

Torsten A. Kurschus gehört zu dem Team, das seit vielen Jahren Tomas Spahn unterstützte. Kurschus gibt in diesem Beitrag militärische und Nato-politische Informationen, die in den gängigen Medien nicht zu finden sind. Ob die hier geschilderte militärische Unterlegenheit Russlands in dieser Form existiert, kann TE mangels ähnlich gleichwertiger Informationen aus Moskau und Peking nicht verifizieren. Fritz Goergen schreibt parallel, worum es weltweit geht: nicht um Freiheit gegen Unfreiheit, sondern um nackte Interessen.


Manche fragen sich, wo Kreativität und versierter Umgang mit der Auftragstaktik in einer ehemals sowjetischen Armee, die die ukrainischen Streitkräfte waren, herkommen. Das verwundert in der Tat, denn während Russland offensichtlich noch auf Strategien des Zweiten Weltkrieges, also territoriale Landnahme setzt, arbeitet die Armee der Ukraine mit hochdifferenzierten Waffensystemen, zu denen sie früher die Fähigkeiten nicht hatte. Bis heute hat das ukrainische Militär wegen der europäischen Zögerlichkeiten nicht die vollen Möglichkeiten, die erforderliche materielle Kraft zum Einsatz verbundener Waffen zur Geltung zu bringen: das operativ taktische Zusammenspiel von Luftverteidigung, Luftwaffe, Landstreitkräften mit Panzerwaffen und Infanterie sowie im ähnlichen Zusammenhang mit See-gestützten Systemen und der Küstenverteidigung.

Dieses Zusammenspiel ist allein schon schwierig, wenn Systemfähigkeiten nicht oder nur begrenzt vorhanden sind, was in der Ukraine der Fall ist.
 Wenn in der deutschen Presse gemeldet wird, dass das britische Verteidigungsministerium etwas erklärt, kommt diese Nachricht natürlich nicht von diesem.

 Wenn es in Berichten heißt, das britische Verteidigungsministerium informiert, sind US-Dienste gemeint.

 Hinter dem Begriff Ministry of Defence steht nicht wie allgemein angenommen das britische Verteidigungsministerium, sondern der britische Militärgeheimdienst zusammen mit dem Government Communications Headquarters, dem GCHQ, was der amerikanischen NSA entspricht.

Nato-Mitglieder und Nato-Partner

Eine solche Behörde gibt es in dieser Form in Deutschland nicht. Am ehesten entspricht sie dem deutschen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), einer noch sehr jungen Behörde, die aber im Vergleich mit den Institutionen der Verbündeten die Performance einer Schmalspurbahn statt eines ICE-3 hat.
 Und natürlich geschieht das nicht im Rahmen allein britischer Erkundungen, sondern es sind vor allem die Communication Centers der USA, denen die von Großbritannien, Polen, Slowakei, Slowenien und vor allem der baltischen Länder Estland, Lettland, Litauen und nun auch Finnland angeschlossen sind. Natürlich sind auch die anderen Nato-Länder dabei, doch es gibt Prioritäten in der Zusammenarbeit. Die gilt hier den östlichen Partnern. Dazu gehören auch die Nato-Partner im Schwarzmeerraum wie Rumänien, Bulgarien und die Türkei.

Und es gibt Unsicherheitspartner. Das sind Bulgarien wegen seiner schwer einschätzbaren, traditionellen Nähe zu Russland und vor allem die Türkei, die sich in den letzten Jahren nicht gerade wie ein verlässlicher Nato-Partner verhalten hat. Selbst Frankreich ist dabei mit Vorsicht zu genießen, denn Frankreich ist nicht gerade für seine klare Politik bekannt.

 Das alles sind Probleme militärisch wie politisch, denn auch die Nato wollte nach dem North Atlantic Treaty mit ihrer zivilen Dimension immer mehr als nur ein Waffenbündnis sein. Das steht in der Präambel des auch Washington Treaty genannten Nato-Vertrages von 1949. Federführend sind und bleiben die USA. 

Daneben war Schweden längst wie Finnland zuvor eng in die Nato-Command-Structure eingebunden: im Nato-Partnerschaftsprogramm und vorrangig im Staff of the Allied Command Operations. Das heißt, dass die Stäbe schon seit langen Jahren eng zusammenarbeiten und Informationen austauschen.

Das hatten die Russen in Selbst-Verkennung der Lage nicht erwartet, denn die überalterte russische Generalität kennt im Gegensatz zu den Ukrainern kaum etwas anderes als die auf dem Territorialprinzip basierenden Vorstellungen eines konventionellen Landkrieges. So ist gegenwärtig die Ukraine im modernen Sinne die kriegserfahrenste Armee der Welt in Bezug auf einen Territorialkrieg.

Altes und neues Militär

Das Besondere dabei ist die Implementierung moderner Komponenten wie etwa die neuen Aufklärungsmodi via Satellitennetze und im lokalen Raum die neuen Drohnen, die KI-gesteuert sich auch selbst organisieren und dreidimensional ganz oder partiell Räume öffnen oder wegegenau schließen können. Ein solches Handeln ist in der verfestigten Struktur des machtverordneten russischen Militärs, fern jeder selbstverständlichen westlichen Auftragstaktik undenkbar. 
Von besonderer Bedeutung dabei sind die Taktiken der übergänglich-asymmetrischen Verteidigung oder Kriegsführung mit Drohnen und sogar Guerillataktiken in stark differenzierten Auftragsorganisationen, mit dem Einsatz von ebenso diversem Gerät, was schließlich zu einem gebündelten Handeln an der Front führt. 

Das sind die Möglichkeiten, mit der die Ukraine es schafft, gegen den „übermächtigen“ Gegner Russland und seiner Söldner und Vasallen zu bestehen. Auch die Prigoschin-Söldner sind weit weg von der Professionalität der Black-Water-Kräfte.

Im Denken der meisten Medien geistert das Wort einer Offensive herum mit der Vorstellung von Aufstellungen und Vorgangsweisen wie zu Stalingrads Zeiten. Schon seit die ersten russischen Aufmärsche, also Truppenkonzentrationen, die 14 Monate vor Beginn des Angriffs auf die Ukraine durch das russische Militär stattfanden, sandte die Ukraine durch Polen unterstützt einen Hilferuf an die Nato. Polen hatte die Situation schnell begriffen und als weit zuverlässigerer Nato-Partner als Deutschland auch die baltischen Staaten, Finnland und Schweden einbindend moderiert. Seit mehreren Monaten ist ein Membership Action Plan, das sind Skizzen zur Umsetzung einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine in Vorbereitung. Das läuft nicht an den Regierungen vorbei, aber durchaus neben ihnen in Think-Tanks und Stäben von Washington bis Kiew.

Viel wichtiger ist, was die Anbindung der Ukraine an die Nato betrifft.
 Das folgt dem schwedischen Beispiel, das trotz der Neutralität im Nato-Partnerprogramm seit über 15 Jahren Hand in Hand mit den Nato-Mitgliedern ohne Informationsverlust zusammenarbeitet. Damit ist Schweden de facto bisher zwar von der kollektiven Verteidigungsfähigkeit des Bündnisfalles nach Art. 5 des Nato-Vertrages unter Bezug auf Art. 51 der UN-Charta und deren Auslegungen nicht ausdrücklich eingeschlossen, aber es ist in alle anderen Nato-Maßnahmen der Vor-Information, Information, Planung und Bereitstellung in jeder Phase mit dabei. Das wissen die Russen natürlich auch. 

Ähnlich ist der Sachverhalt in der Ukraine heute. Eine künftige Mitgliedschaft der Ukraine im internationalen Verteidigungsbündnis wird klar anvisiert – auch wenn sich die Politik öffentlich bedeckt hält.

 The Enabler of the Abilities – die Machbarkeitsfaktoren der Fähigkeiten, damit ist militärisch die Befähigung zum militärischen Handeln gemeint, liegen im Zusammenwirken im Verbund der Kräfte aus Abwehr und Offensive der Teilstreitkräfte: im Konzept der verbundenen Waffen.

In der Ukraine kann das Konzept der verbundenen Waffen sowie in strategischen Planungen der Nato nicht funktionieren. Denn die Ukraine verfügt über keine nennenswerte Luftwaffe. Nach gegenwärtiger Kenntnis sind aktuell vielleicht 40 MIG-29 Jäger russischer Bauart zwar auf Nato-Standard umgerüstet und einsatzbereit. Doch auch hier besteht das Nachschubproblem und über eine auch nur halbwegs leistungsfähige Bomberstaffel verfügt die Ukraine überhaupt nicht.
 Also muss man improvisieren. Das hat die Ukraine gut gelernt. Auch wenn erschwerend dazu kommt, dass sie zwei Abhängigkeitsprobleme hat.

Das eine ist die Abhängigkeit vom ausgehenden Arsenal russischen Geräts, seiner eingeschränkten Wiederbeschaffbarkeit, und das andere die Lieferung von neuen Waffen nach westlicher Gnade.

 Da muss die Ukraine viel kompensieren. Das geht über Intelligenz. Das ist die Intelligenz der Menschen wie der Waffen. Innovieren – Improvisieren, das ist diese Kompensation der Schwächen. Mit neuem Informationsknowhow und einem kreativen Umfeld an dem schon 16-jährige Schüler (bekannt aus Shytomir) an der Schwarmintelligenz von Robotik-Systemen programmieren, entstehen intelligente Wunderwerke fast zum Baumarktpreis.

Wer zum Cyber-Net-Center der Nato zählt

Seit über einem Jahr sind die ukrainischen Streitkräfte vor allem über die Polens und der baltischen Staaten direkt dem Cyber-Net-Center der Nato angeschlossen. 
Das Wortmonster dafür heißt: Nato Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence oder „kurz“ CCDCOE und ist die vierte Teilstreitkraft der Nato neben Land-, Luft- und Seestreitkräften, der immer größere Bedeutung zukommt. Die seit 15 Jahren bestehende Organisation hat auch neue Mitglieder über den eigentlichen Raum des 38. Breitengrades hinaus, was ursprünglich die Nato verorten sollte. Das ist nun auch neben Island, Israel und Australien die Ukraine. Natürlich gehören auch alle Nato- und EU-Länder dazu und selbst die sonst ziemlich zurückhaltende Schweiz hatte um Partizipation gebeten. Die Cyber Defense Institution steht auf den Grundpfeilern des 
Technology-Operations-Strategy-Law.
 Damit ist das Engagement mit der Ukraine bestens beschrieben. Die Aussichten sind absehbar.

Die Ukraine ist informationstechnisch gesehen de facto Nato-Mitglied. Das erklärt die Intelligence der ukrainischen Kampfführung. Man bedenke bitte, dass der Begriff Intelligence nicht eins-zu-eins dem deutschen etwa-pendant entspricht. Vielmehr liegt im Angelsächsischen der Schwerpunkt einer erkenntnisgewinnenden Intelligenz im Vordergrund des Verstehens.
 In der Ukraine kommt das nun erstmalig mit dem Esprit der Maker-Generation – Improvisation zum Einsatz.

 Chef der jungen Behörde ist der Este und KI-Experte Dr. Mart Noorma. Wie könnte es anders sein, dass diese Gründung vom Digitalisierungsweltmeister ausging. Estland sah sich schon vor Jahren russischen Cyberbedrohungen ausgesetzt, hat entsprechend reagiert und unsere anderen Partner im besten Sinne abwehrfähig infiziert.

Stabschef ist der hessische Wirtschaftswissenschaftler Oberstleutnant Bernard Hoffmann am Headquarter in Tallin an der Ostsee. Hier zeigen sich tatsächlich die heute besonderen Beziehungen zwischen den baltischen Staaten und insbesondere Estlands zur Ukraine mit dem großen Patron Polen zusammen. Dort wird jetzt die Cyberabwehr nach estnischem Vorbild massiv vorangetrieben. Polen wird mit einer dreistelligen Millionensumme hier aufrüsten. Damit stärkt Polen vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer das ohnehin traditionell verbundene Verhältnis der Ostflanke Europas. 
Aus der Analyse dieser „Nerds“ ensteht zum großen Teil die Leistungskraft der ukrainischen Verteidigung.
 Diese ist eines der besten Beispiele westlichen Zusammenhaltes, von Island bis Australien.

Masse oder Klasse

Es war schon zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges die militärtechnisch-militärökonomische Frage nach dem Verhältnis von Masse oder Klasse. Die Ukraine zeigt, wie es geht – militärisch und logistisch. Nato, EU und USA kommen und wollen sowieso nicht mehr aus dem „Spiel“ raus.
 Wahrscheinlich sind die Szenarien noch viel fortgeschrittener, als wir es hier sagen können.
 Ein Ukrainian-Recovery-Programm wird in US vorbereitet. Das heißt zum Beispiel, dass es in US und Großbritannien Steuervorteile für auch Kleininvestments in der Ukraine gibt. Das bewährt sich wie beim ERP-Programm – fast vergessen Marshall-Plan genannt – gut. In Europa wird man folgen.

Bereits heute stehen Investoren vor allem aus Polen, Ungarn und Rumänien vor der Tür. Das betrifft auch die deutsche Industrie. In Rzezow, eines nahe Lodz im Süd-Osten gelegenen Luft-Drehkreuzes vor der ukrainischen Grenze landen täglich Maschinen aus Deutschland. Die deutsche Industrie, speziell aus dem Rüstungsbereich beginnen, im südöstlichen Polen Strukturen für diese Zeit und die danach zu schaffen. 

Aus Polen hören wir, dass ein Nato-Beitritt, wenn es zu einer Friedensvereinbarung kommt, um mal nicht von einem Friedensvertrag zu reden, ein sofortiger Beitritt der Ukraine unabdingbar ist. Alle östlichen Partner sehen das ähnlich.

Dazu kommt die gerade aus Deutschland gestellte Forderung, dass alle gelieferten Waffen nur auf dem Boden der Ukraine eingesetzt werden dürfen. 
Die völkerrechtliche Dimension aller Angriffe auf russische militärische Ziele in Russland gelten als gerechtfertigt, da der russische Angreifer dem Gewaltverbot nach Art. 2.4 die Charta der UN nicht entsprochen hat. Nach Art. 51 ist es möglich, die Selbstverteidigung auch auf kriegswichtige Plätze auf dem Territorium des Angreifers und seine dort kriegshandelnden Personen auszudehnen. Der ehemalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer sagte Ende der 2000er, als schon das Ende der Geschichte proklamiert wurde, „wenn es die NATO nicht gäbe, müssten wir sie heute erfinden“.
 
Und nun bewirkt der Ukrainekrieg nicht nur einen neuen Nato-Zusammenhalt, sondern zeigt elementare militärische Schwachstellen Postsowjetrusslands auf.

Damit lernt die Nato. Auch wenn Russland nicht lernen kann, tut es China sehr wohl, denn seine Tongebung um Taiwan ist deutlich verhaltener geworden. 

Alle Länder und Bündnisse lernen daraus, wenn auch Putin und „sein“ Russland nicht.
 Das muss er auch nicht, denn danach ist Russland weniger als eine Mittelmacht.

Torsten A. Kurschus

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