Tichys Einblick
Zyklus der Extreme

Deutschland in Verantwortung seiner Geschichte und Zukunft

In den Annalen von Lü ist eine Kernaussage der taoistischen Weltvorstellung überliefert: „Die Vollständigkeit führt zu Brüchen. Wenn ein Extrem erreicht wird, dann geht es zu einem anderen Extrem. Aus Gewinnen werden zwangsläufig wieder Verluste.“

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Es war einmal im aufstrebenden chinesischen Königreich Qin an der Westperipherie der sinitischen Welt. Der Reichskanzler Lü Buwei (300 v. Chr – 236 v. Chr.), der als reicher Kaufmann einem mittellosen Prinzen auf den Königsthron von Qin verholfen hatte und dafür mit dem Kanzleramt belohnt worden war, ließ eine umfassende Abhandlung über die Erkenntnisse und Theorien der philosophischen Schulen des Alten Chinas anfertigen: Die Annalen von Lü. Es war eine der umfangreichsten Enzyklopädien der chinesischen Antike und umfasst mehr als zweihunderttausend Wörter.

In den Annalen von Lü ist auch folgende Kernaussage der taoistischen Philosophie und Weltvorstellung überliefert: „Die Vollständigkeit führt zu Brüchen. Wenn ein Extrem erreicht wird, dann geht es zu einem anderen Extrem. Aus Gewinnen werden zwangsläufig wieder Verluste.“

Daraus entstand die altchinesische Vorstellung des „Zyklus der Extreme“, der auch die lange chinesische Geschichte in Gegensätzen erklärt. In leicht abgewandelter Form findet man auch eine ähnliche Aussage in der Einleitung des im Spätmittelalter verfassten Romans „Die Drei [Kaiser]Reiche“, der die Dynastiewechsel in China so zusammenfasst: “Wenn alles unter dem Himmel lange genug vereint worden ist, dann kommt die Spaltung. Wenn  alles unter dem Himmel lange genug geteilt worden ist, dann kommt die Einheit “.

I. Zyklus der Extreme

Eine der dunkelsten Epochen Chinas war sicherlich auch die mehr als 200 Jahre währende Zeit nach dem Ausbruch der Rebellion des sogdisch-chinesischen Kriegsherrn An Rokhshan (chinesisch: An Lushan) im Jahr 755 bis zur Vereinigung des chinesischen Kernlandes unter der Song-Dynastie anno 979.

Zuvor war China unter der Tang-Dynastie auf dem Höhepunkt seiner Macht und seiner territorialen Expansionen. Mit der Vernichtung der osttürkischen und westtürkischen Reiche reichte Chinas Einflusssphäre im Osten bis in die Mandschurei und im Westen bis an die Tore Persiens. Die Chinesen errichteten im 7. Jahrhundert im heutigen Afghanistan das „Protektorat Persien“ mit dem letzten sassanidischen Kronprinzen Peroz von Persien als Gouverneur mit dem Ziel der Rückeroberung  Persiens von den muslimischen Arabern.

Der Schachzug des intriganten chinesischen Reichskanzlers Li Linfu, der zur Sicherung seiner Kanzlerschaft gegenüber seinen Konkurrenten (meist chinesische Generale) seinem Kaiser weismachen wollte, dass nicht-chinesischstämmige Generale keine politischen Ambitionen entwickeln und daher auch eine geringere Gefahr für die Kaiserkrone darstellen würden, führte zum rasanten Aufstieg von zahlreichen mächtigen nicht-chinesischen Militärgouverneuren, die über die schlagkräftigsten Söldnerheere des Reichs verfügten, und schließlich geradewegs in eine Katastrophe.

Die Hundertfünfzigtausend Mann zählende Armee des An Rokhshan riss den gesamten Norden des Chinesischen Reiches in acht Jahren Krieg in ein derartiges Blutbad, dass sich die Bevölkerungszahl Chinas mehr als halbierte (was einem Rückgang der damaligen globalen Population um 16 % entsprach). Den Todesstoß versetzte dem chinesischen Reich der Tang-Dynastie indes die Rebellenarmee des Huang Chao, die in den Jahren 875 bis 884 den reichen Süden des Landes (Quellen eines Großteils der staatlichen Einnahmen) verwüstete und den Tod von acht Millionen Menschen verursachte. Nach dem Untergang des Kaiserhauses der Tang-Dynastie folgte das Zeitalter der sogenannten „Fünf Dynastien und Zehn Reiche“, in dem mehr als ein Dutzend unabhängige Staaten und Herrscherhäuser um die eigene Unabhängigkeit oder um die Vorherrschaft im Reich der Mitte kämpften. Unzählige Generäle und Warlords verübten ein Massaker nach dem anderen an der Zivilbevölkerung. Es galt die Herrschaft des Schwertes und der rohen Gewalt. Vergleicht man die Bevölkerungszahl der Zeit vor Ausbruch der Rebellion von Huang Chao (anno 839 unter Kaiser Wenzong) mit der Bevölkerungszahl bei der Reichseinigung unter der Song-Dynastie 979 n. Chr., so ist ein Bevölkerungsschwund von sechs Millionen festzustellen (ca. ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Jahres 839).

Das Trauma der endlosen Kriege und Verwüstungen unter der Schreckensherrschaft der rohen Gewalt der Warlords (aber auch die strategische Überlegung der neuen Herrscher Chinas, um den Fehler der Vorgänger-Dynastie zu vermeiden) führte zum beispiellosen politischen und gesellschaftlichen Abstieg der Krieger in der darauf folgenden Song-Dynastie (960 bis 1279).

Die Degradierung des Soldatentums wurde politisch forciert. Im Kriegsfall wurden in aller Regel zivile Beamte oder Eunuchen zu Kommandeuren der jeweiligen Kriegszonen ernannt. Ebenso wurde das Amt des Kriegsministers zumeist von zivilen Beamten besetzt. Körperliche Folterstrafen und Todesstrafen gegen zivile Beamte wurden abgeschafft. Dies galt jedoch nicht für Generäle und Soldaten. Ebenso mussten Soldaten Truppenabzeichen in ihre Gesichter oder Arme eintätowieren lassen. Man erinnert sich: Tätowierungen galten bei den Han-Chinesen als Schande (die Unversehrtheit des Körpers und der Kopfhaare war für die alten Chinesen heilig). Sonst gab es fast nur Verurteilte, die sich als Strafe tätowieren lassen mussten.

Das Soldatensein wurde so langsam zu einem sozial geächteten „niederen Berufe“. Von da kommt auch der chinesische Spruch: „Ein guter Mann wird kein Soldat“. Die gesamte Elite der Chinesen strebte danach nach einer Laufbahn eines zivilen Beamten. Für die Soldaten hatten die meisten Angehörigen der oberen Gesellschaftsschichten nur Verachtung übrig.

Die Folgen einer derart radikalen Degradierung und Kriminalisierung des soldatischen Berufs und des Krieger-Seins angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Steppenvölker ließen nicht lange auf sich warten. Anno 1127 wurde die eine Million Einwohner zählende chinesische Hauptstadt Kaifeng von dem mandschurischen Volk der Jurchen erobert. Fast sämtliche Mitglieder des Kaiserhauses wurden von den Jurchen verschleppt. Tausende Frauen der chinesischen Kaisersippe endeten entweder als Konkubinen der Jurchen-Fürsten und Soldaten, oder aber als staatliche Prostituierte. Restliche Anhänger der Song-Dynastie hielten noch mehr als hundert Jahre lang den Süden des Reiches gegen den Ansturm der Jurchen und der Mongolen stand, ehe das nationalchinesische Reich der Song-Dynastie anno 1279 von den Mongolen unterworfen wurde. Einhunderttausend Chinesen, darunter der gesamte Kaiserhof und der Rest der Song-Beamtenschaft, starben zusammen mit dem letzten Kindkaiser der Song-Dynastie im Flammenmeer bei Yamen.

Distanz schafft Übersicht
Deutschland als Gefangener seiner Extreme
Aus dem Schädel des Song-Kaisers Lizong  wurde ein Trinkgefäß für den tibetischen Vize-König Chögyel Phagpa gebastelt, der zugleich auch als „Meister des Mongolischen Yuan-Kaisers“ galt. Unter der Herrschaft des Genghis Khans war ein Menschenleben eines gewöhnlichen Han-Chinesen nicht mehr wert als ein Esel. Nach der vollständigen mongolischen Unterwerfung Chinas brauchte ein Mongole für den Totschlag eines Chinesen ebenfalls nur eine Entschädigung zu zahlen. Das Martyrium der Chinesen endete 1368 mit dem Ende der Mongolenherrschaft in China durch das Heer des neuen chinesischen Kaisers Zhu Yuanzhang (Hongwu genannt, zuvor König von Wu). Er schuf das letzte han-chinesische Kaiserreich „Da Ming“ (Große Helligkeit). Doch sein Reich erbte mehr Wesenszüge des totalitären Charakters des Großmongolischen Reichs denn des liberalen Chinesischen Reiches der Song-Dynastie. Daher rührt auch der Spruch mancher japanischer und chinesischer Historiker: “Nach [der Schlacht von] Yashan gibt es kein Reich der Mitte mehr“. Von da an ging die chinesische Zivilisation tatsächlich tendenziell nur noch bergab. Der fortschrittliche, innovative, offene und unbeugsame Charakter der chinesischen Intellektuellen starb weitgehend mit der Song-Dynastie.

Die Tragödie der chinesischen Geschichte lehrt uns also, dass die Fehler der vergangenen Epoche zwar aufgearbeitet und vermieden werden sollen, dass ein anderes Extrem aber oft nicht die gewünschte Stabilität verspricht, sondern eventuell andere katastrophalen Folgen verursacht. Der Zyklus der Extreme sollte vermieden werden und zwar mit Vernunft und Mittelmaß. Eine Staatsdoktrin indes, die auch aus der totalen Umkehrung der Ideologie der Vergangenheit besteht, sollte gegebenenfalls im Laufe der Zeit so moderiert werden, dass sie an die gegenwärtigen Umstände angepasst werden kann.

II. Historische Lehren aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte

Wir schreiben nun das Jahr 1945 im fernen Land Deutschland an dem anderen Ende des Eurasischen Kontinents. Deutschland war bei Ende des Zweiten Weltkriegs am Boden. Deutschland zählte etwa 6,3 Millionen Kriegstote, darunter fast 5,2 Millionen Soldaten und mehr als eine Million Zivilopfer.  Seine Städte waren weitgehend zerbombt. Etwa 12 Millionen Deutsche wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Das Land wurde von den Siegermächten besetzt und zunächst in vier, dann in zwei Besatzungszonen geteilt. Mit den Ostgebieten verlor Deutschland zudem ein Viertel seines ehemaligen Staatsgebiets. Die militärische Niederlage war total, ebenso die moralische.

Über der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland schwebte die historische Verantwortung des gigantischen Verbrechens und beispiellosen industriellen Massenmords – des Holocausts, der deutschen Kriegsschuld, der Kriegsverbrechen der deutschen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg sowie der inländischen Opfer der NS-Repressionen.

Den Gründungsvätern der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Nachkriegsgeneration gebührt der verdiente große Respekt der übrigen Welt, einerseits eine funktionierende demokratische Staatsordnung in Deutschland mit einer Verankerung im westlichen Staatenbündnis etabliert und andererseits  die Bundesrepublik rasch zu einer der führenden Wirtschaftsnationen wiederaufgebaut zu haben.

Der Respekt vor den Opfern der NS-Gewaltherrschaft, aber auch die historische Pflicht zur Aufklärung darüber, dass der Totalitarismus und der Rassenwahn nie wieder in Deutschland oder in sonstigen Ländern salonfähig werden und die Oberhand gewinnen dürfen, gebieten, dass die Erinnerung an die Millionen NS-Opfer und die Aufarbeitung der ungeheuren NS-Verbrechen auch in Zukunft frisch gehalten und als ein Schwerpunkt der Erinnerungskultur in Deutschland erhalten bleiben müssen.

Die historischen Konsequenzen, die aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte zu ziehen sind, umfassen neben der institutionellen Etablierung einer funktionierenden demokratischen Staatsordnung und der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit aber auch weitere Aspekte, damit einerseits Weimarer Verhältnisse in Deutschland nicht wieder vorkommen und andererseits Deutschland trotz der Schwere seiner Vergangenheit eine gute und normale Entwicklung nimmt, die seiner Größe und seiner wirtschaftlich-industriellen Kraft gerecht werden kann.

Diese sind:

  1. Die Normalisierung Deutschlands und Entwicklung einer bescheidenen, normalen deutschen Identität und Staatlichkeit trotz der historischen Belastungen.
  2. Die Vermeidung eines deutschen Sonderwegs bei der gleichzeitigen Verankerung im westlichen Staatenbündnis.
  3. Die Erhaltung der inneren Stabilität und eines Grundkonsens in der deutschen Gesellschaft.

III. Die unterschiedlichen Wege Deutschlands und Japans in der Frage der Normalisierung

Zunächst ist festzustellen, dass Deutschland seit der zweiten Industriellen Revolution zu den führenden Nationen im Bereich der Wirtschaft und Bildung dieser Erde zählt (wenngleich seit einigen Jahrzehnten tendenziell absteigend). Trotz der flächendeckenden Zerstörung der Großstädte war der Großteil der industriellen Anlagen intakt geblieben. Ebenso stand ein gut ausgebildetes Personenreservoir dem Wiederaufbau zur Verfügung. Insofern war der rasante Wiederaufstieg Deutschlands nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg absehbar, solange die Siegermächte dem Wiederaufbau nicht im Wege standen. Bereits 1949 erreichte die Bundesrepublik daher das Wohlstandsniveau und den Grad der Modernität der Vorkriegszeit.

Schon die Westalliierten hatten erkannt, dass eine bewusste Schwächung und Destabilisierung einer Nation wie Deutschland mit einem solchen industriellen und intellektuell-wissenschaftlichen Potential und einer über Jahrhunderte gewachsenen  kulturellen Identität der Stabilität Europas und einer stabilen, rechtsstaatlich-humanistischen Weiterentwicklung Deutschlands nicht förderlich wären, insbesondere wenn die Westalliierten die Bundesrepublik angesichts des aufkommenden Kalten Kriegs als einen verlässlichen Verbündeten bräuchten.

Die Normalisierung Deutschlands mit all seinem Potential und seiner geopolitischen Lage in der Mitte des europäischen (Sub-)Kontinents mit der gleichzeitigen Einbindung in das westliche Staatenbündnis wäre deshalb der einzige richtige Weg, um einerseits eine stabile rechtsstaatlich-demokratische Zukunft Deutschlands und andererseits eine langfristige Friedenssicherung und Erhaltung der Stabilität in Europa zu ermöglichen.

Zu der Normalisierung eines Landes gehört aber nicht nur die institutionelle Normalisierung, die der Bundesrepublik zweifelsohne nach ihrer Gründung weitgehend gelungen ist (die mit der Erlangung der vollständigen Souveränität durch die deutsche Einheit abschloss), sondern auch die geistige Normalisierung bezüglich des Verhältnisses zur eigenen Kultur, nationalen Identität und Staatlichkeit.

Die deutsche Gesellschaft war jedoch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem tiefen Trauma der NS-Zeit und des Krieges konfrontiert. Eine geistige Normalisierung in dem Sinne, dass sich die meisten Deutschen einerseits ohne Einschränkungen mit den Schattenseiten ihrer Geschichte auseinandersetzen, insbesondere mit der Aufarbeitung der NS-Gräueltaten, und andererseits wieder ein positives Verhältnis zu der eigenen nationalen Identität, zum eigenen Staat und zur eigenen Kulturgeschichte entwickeln könnten, hätte eines selbstkritischen, aber behutsamen und differenzierten gesamtgesellschaftlich umfassenden intellektuellen Diskurses bedurft. Es wäre kein Widerspruch gewesen, die nachwachsenden Generationen in Deutschland zur Erinnerung an die dunklen Seiten der deutschen Geschichte zu mahnen, aber auch durch die Erwähnung der positiven, identitätsstiftenden Teile ihrer Geschichte (etwa die vielen Errungenschaften deutscher Aufklärer, Wissenschaftler und Künstler, die einen großen Beitrag für eine moderne, fortschrittliche westliche Zivilisation geleistet hatten, oder die bürgerlich-demokratischen und patriotischen Bestrebungen während der März-Revolution 1848 oder vor der deutschen Wiedervereinigung in der DDR) anzuspornen.

Vorschläge für eine erfolgreiche Integrationspolitik
Migranten in der deutschen Nation
Im Übrigen sind die Förderung positiver und identitätsstiftender Teile deutscher Geschichte und die Pflege der nationalen Identität auch deshalb notwendig,  um den integrationswilligen Migranten ein positives Deutschland-Bild zu vermitteln und denjenigen, die bereit sind, ihre alte nationale Identität abzulegen, eine neue, deutsche Identität zu geben. Gerade jungen Migranten, die in Deutschland zur Schule gehen, würde derzeit eher ein negatives Bild von Deutschland im Unterricht vermittelt, da das heutige Bild von Deutschland durch die starke Fokussierung auf die NS-Zeit negativ emotionalisiert sei, so kontaktierte ein Kölner Psychologie-Professor bereits vor fünf Jahren nach einer Untersuchung von 6.122 Jugendlichen und ihren Eltern über deren Deutschland-Bild.

Insofern war es auf der einen Seite wichtig und lobenswert, dass die NS-Verbrechen in Deutschland so offen und gründlich aufgearbeitet werden. Auf der einen Seite hat die breite deutsche Öffentlichkeit es bis zum heutigen Tage, mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs versäumt, eine geistige Normalisierung und ein positiv emotionalisiertes Verhältnis zur eigenen nationalen Identität zu bewirken.

So entwickelt sich die deutsche Gesellschaft aber von einem Extrem ins andere Extrem, also von einer extrem militaristischen, rassistischen und chauvinistischen Gesellschaft der NS-Zeit in eine Gesellschaft in Verleugnung und Marginalisierung der eigenen nationalen Identität, wo heute bereits das Wort „Deutsches Volk“ von vielen Medien und Politikern gerne vermieden und durch „die Bevölkerung“ oder „die, die schon länger hier leben“ ersetzt werden sollen. Damit man mich hier nicht missversteht: Hier sollen die heutigen Zustände in Deutschland keinesfalls mit den Zuständen unter der NS-Gewaltherrschaft gleichgesetzt werden. Eine derartige Verleugnung des eigenen Staatsvolkes, wie sie heute zutage von den etablierten Medien und Parteien in Deutschland oft praktiziert werden, würde aber in den meisten Ländern der Welt auf völliges Unverständnis stoßen und bereits als „linksextremistisch“ gelten. Die extreme politische Ausrichtung einer demokratisch gewählten Regierung indes, sei es „links“ oder „rechts“, würde jedoch die Polarisierung, Spaltung und Destabilisierung der Gesellschaft zur Folge haben. Dies gilt umso mehr, wenn diese politischen Extreme von der Regierung veranlasst und von einer breiten Mehrheit des politisch-medialen Establishments in einer ideologischen Selbstermächtigung gegen den Willen eines Großteils der Bevölkerung mitgetragen werden.

Im Übrigen zeigt das Beispiel Japans, dass eine funktionierende demokratisch-rechtsstaatliche Staatsordnung und ein pazifistischer Grundkonsens sogar ohne die gesellschaftliche Fokusierung auf die eigenen Kriegsverbrechen und ohne die Marginalisierung der kulturellen und nationalen Identität möglich sind.

Im Gegensatz zu Deutschland, dessen Waffenexporte regelmäßig unter den ersten fünf Plätzen der Welt rangieren, hat Japan bis 2014 aus der pazifistischen Grundhaltung jeglichen Waffenexport strikt untersagt. Auch heute bleiben japanische Waffenexporte in Konfliktgebiete oder an Länder, die eine Gefahr für die internationale Sicherheit darstellen, weiterhin verboten. Darüber hinaus war noch bis vor kurzem jeder Kampfeinsatz japanischen Militärs im Ausland verboten. Die deutsche Bundeswehr hat hingegen bereits 1999 unter der Billigung der Rot-Grün geführten Bundesregierung mit der Luftwaffe an einem völkerrechtlich umstrittenen Krieg – dem Kosovo-Krieg – teilgenommen. Die jüngsten Änderungen der japanischen Sicherheitspolitik gingen vor allem auf die Veränderungen des sicherheitspolitischen Umfelds in Ostasien zurück, wo Japan neben der militätschen Bedrohung durch Nordkorea bezüglich der Zugehörigkeit der 1972 von den USA zusammen mit Okinawa an Japan übergebenen Senkaku-Inseln (Chinesisch: Diaoyu-Inseln) zunehmend auch unter Druck Chinas gerät.

Selbstverständlich ist Japan in der Vergangenheitsbewältigung kein Vorbild für den Rest der Welt. Wenngleich sich mehrere japanische Premiers für den von Japan entfachten Krieg in Ostasien vor und während des Zweiten Weltkriegs entschuldigt haben, sorgten die Relativierungen japanischer Kriegsverbrechen und öffentliche Huldigung der Kriegsgefallenen im Yasukuni-Schrein (darunter auch Namen von Kriegsverbrechern) durch Vertreter der japanischen Regierung beständig für Anlässe außenpolitischer Spannungen. Dennoch zeigt das japanische Beispiel drei Dinge, deren Zusammenhänge bislang in der deutschen Öffentlichkeit wenig beleuchtet bis gar nicht beachtet wurden.

Erstens, dass die Umwandlung von einem militaristisch-totalitären und expansionistisch-nationalistischen japanischen Staat zu einer pazifistischen Gesellschaft durch die vollständige Niederlage, Besetzung durch die USA , die institutionelle Umgestaltung in eine parlamentarische Demokratie und die massiven Traumata der Kriegsfolgen  sich von selbst ergibt. Japan erlebte im Zweiten Weltkrieg ebenfalls die weitgehende Zerstörung seiner Großstädte und erlitt bis heute als einziges Land den Einsatz nuklearer Waffen. Insgesamt 3,7 Millionen Japaner starben im Zweiten Weltkrieg, darunter 1,7 Millionen Zivilisten. Überdies verlor Japan sämtliche Kolonien und Übersee-Provinzen. Der exzessive expansionistische Militarismus, seine totale Niederlage mit den entsprechenden katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung sowie der völlige Verlust der Souveränität nach der bedingungslosen Kapitulation führten nach einer wirtschaftlichen Erholung und einer weitgehenden institutionellen Normalisierung des japanischen Staates zur pazifistischen Grundhaltung der heutigen Japaner.

Der in gewisser Weise automatisch von statten gehende „Zyklus der Extreme“ der chinesischen Geschichtsphilosophie trifft auch teilweise auf Japan zu. Die absolute pazifistische Grundhaltung des japanischen Staates hatte in Zeiten des Kalten Kriegs noch problemlos funktioniert, da die VR. China wirtschaftlich keine Konkurrenz darstellte und sicherheitspolitisch zunächst in Taiwan (unter Chiang Kai-Shek, der eine Rückeroberung des chinesischen Festlands nie aufgab), dann vor allem in den USA (die militärischen Konflikte zwischen VR. China und USA wurden vor allem in Korea, aber auch in Südostasien ausgetragen) und ab den 1960er Jahren in der Sowjetunion ihren Hauptgegner sah. Der institutionelle  Pazifismus der Japaner wurde jedoch dann zunehmend zu einem Problem, sobald das gesamtwirtschaftlich erstarkte, jedoch von enormen inneren sozialen Spannungen geplagte China seit den 1990er Jahren in Japan eine wirkungsvolle Quelle für ein Feindbild seines Nationalismus ansah und dies als Schwäche auslegte. Die Japaner haben dies erkannt und reagieren nun schrittweise mit Verfassungsänderungen, Gesetzesänderungen und Stärkung des US-japanischen Militärbündnisses. Diese werden aber Japan nicht erneut in einen militaristischen und totalitären Staat verwandeln, sondern Japans Sicherheitspolitik an das veränderte sicherheitspolitische Umfeld in Ostasien anpassen.

Zweitens, das Vorhandensein eines starken nationalen und kulturellen Bewusstseins sowie die beständige Pflege der eigenen Tradition nicht im Widerspruch zur Modernität, Internationalität (weltweite Präsenz der japanischen Unternehmen) und demokratisch-rechtsstaatlichen Staatsordnung stehen.

Drittens, die Aufrechterhaltung eines kulturell homogenen Nationalstaats, was keinesfalls notwendigerweise ein expansionistisch-militaristisches Verlangen oder ein antidemokratisches Regime voraussetzt oder zur Folge hat. Japan verzichtet auf die unkontrollierte Masseneinwanderung Geringqualifizierter aus entfernten Kulturkreisen und setzt neben der Automatisierung und Steigerung der Produktivität auf kontrollierte, begrenzte Zuwanderung Qualifizierter aus meist nahen Kulturkreisen und erwartet bei Migranten die bedingungslose Anpassung an die japanischen Gesellschaft und bei einer Einbürgerung die vollständige Assimilierung inklusive der Annahme eines japanischen Nachnamens. Gleichzeitig ist Japan eine demokratische, pazifistische Gesellschaft geblieben und zudem weltweit in vielen humanitären Projekten, auch bei der Flüchtlingshilfe einer der größten Geldgeber.

IV. Verankerung im westlichen Staatenbündnis

Eine weitere Konsequenz aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des damals bevorstehenden Kalten Krieges war die Einbindung Deutschlands und Japans in das westliche Bündnissystem. Für Deutschland bedeutet dies die Mitgliedschaft in der Nato, während  Japan 1960 durch den Kooperations- und Sicherheitsvertrag sicherheitspolitisch an den USA, also auch an den Westen gebunden wurde. Die außenpolitischen Sonderwege Japans und Deutschlands in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden auf diesem Wege durch die Westbildung beendet.

Dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum heutigen Tage weitgehend Frieden in Europa und Asien herrscht, ist es vor allem dem Umstand zu verdanken, dass einerseits sämtliche klassische Industriestaaten (G7) in einem westlichen militärischen Bündnissystem integriert sind und andererseits ein größerer Krieg zwischen dem Westen und anderen Großmächten (vor allem China, Russland) durch gegenseitige nukleare wie konventionelle Abschreckung kaum noch möglich ist.

Die Bundesrepublik Deutschland hat wie viele andere Länder auch von dieser Friedenssicherung durch die eigene Zugehörigkeit zum Westen enorm profitiert, sodass sie sich mehr als ein halbes Jahrhundert lang vor allem auf ihre eigene wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren konnte.

Obgleich das Bekenntnis und die Abhängigkeit der Bundesrepublik zur Nato bis heute ungebrochen sind, so ist zunehmend ein Entfremdungsprozess Deutschlands zu seinen westlichen Partnern, insbesondere aber zu den beiden größten angelsächsischen Ländern USA und Großbritannien zu beobachten.

Dieser Entfremdungsprozess zeigt sich besonders deutlich in der bis heute andauernden europäischen Migrationskrise, aber auch in der Frage der europäischen Integration. In diesen beiden Fragen haben sich Großbritannien und die USA ideologisch mit dem Votum für den Brexit und dem Wahlsieg des Donald J. Trump eindeutig von der „links-liberal“ dominierten Berliner Republik entfernt. In einem vorherigen Artikel habe ich bereits auf die Gefahr einer ideologisch bedingten unnötigen Maximierung des außenpolitischen Schadens zum Nachteil der Bundesrepublik hingewiesen. Im Übrigen ist vor kurzem der japanische Premier mit einer großen Delegation in die USA gereist, mit einem Investitionspaket japanischer Unternehmen im Wert von 400 Milliarden US-Dollar. Dabei befand sich Japan zuvor noch in einer vergleichbaren Position wie Deutschland und war dem Vorwurf der Trump-Administration einer Währungsmanipulation ausgesetzt. Man kann nun davon ausgehen, dass sich Japan und USA zum gegenseitigen Vorteil arrangiert haben. Wo sind eigentlich die Bemühungen der Bundesregierung, einen ähnlichen Deal im gegenseitigen Respekt  und zum beiden seitigen Vorteil mit der US-Regierung auszuhandeln?

Es gibt jedoch aber auch einen anderen Unterschied zwischen dem deutschen politisch-medialen Establishment und den politischen Führungskräften in den meisten europäischen Staaten hinsichtlich ihres Verhältnisses zu der EU, der immer wieder für Missverständnisse und Spannungen sorgt. Während die meisten Politiker der EU-Staaten in der EU vor allem die Erweiterung und Stärkung ihrer nationalen Interessen betrachten und ihre nationale Interessen im Zweifelsfall über alles andere hinwegsetzen, will ein Großteil des deutschen politisch-medialen Establishments seine deutsche Identität am liebsten durch eine „europäische Identität“ ersetzt haben, wobei die deutschen nationalen Interessen schlicht mit einem hochstilisierten „Gemeinschaftsinteresse“ der EU gleichgesetzt wird. Dies sorgt für weitere Zuspitzungen der Spannungen zwischen Deutschland und anderen EU-Staaten. Während die Öffentlichkeit vieler anderen EU-Staaten das deutsche Engagement für die politische Integration der EU (aus ihrer nationalen Brille gesehen)  oft als einen Versuch der Erlangung deutscher Dominanz in Europa deutet, können sich viele deutsche Politiker nicht nachvollziehen, warum andere EU-Länder nicht bereit sind, ihre nationalen Interessen für die EU zu opfern. So gesehen verursacht eine weitere politische Integration der EU unter der deutschen Führung, die vermutlich lieber heute als morgen die europäischen Nationalstaaten samt ihren nationalen Identitäten in der EU aufgehen lassen will, weit mehr Spannungen zwischen den Völkern Europas, als eine enge wirtschaftliche Verflechtung die europäischen Völker zusammenbringt.

V. Gefährdung der Stabilität und des gesellschaftlichen Konsenses

Die Fehler der derzeitigen Politik der unkontrollierten Einwanderung habe ich bereits in mehreren Artikeln näher erläutert. Die Gefahr besteht zudem darin, dass ein immer größer werdender Teil der deutschen Bevölkerung neben dem dramatischen Vertrauensverlust in die Regierungsparteien auch immer weiter Vertrauen in die eigenen staatlichen Institutionen (Verwaltung, Polizei, Gerichte) verliert, den durch die Migrationskrise verursachten Problemen Herr werden zu können.

Die Meinung eines Einwanderers
Agenda Deutschland - Wie Migrationspolitik aussehen sollte und warum die Zukunftsfähigkeit auf dem Spiel steht
Sollten sich die durch die Migrationskrise herbeigeführte gesellschaftlichen Erschütterungen und politischen Polarisierungen/Verrohungen weiter zuspitzen, dann droht der Grundkonsens, auf dem die deutsche Gesellschaft beruht, an vielen entscheidenden Punkten zu zerbrechen. Zu diesen Punkten zählt etwa die Frage, wem eigentlich die Solidarität der deutschen politischen Parteien und Regierung zuallererst gelten muss: dem deutschen Staatsvolk, Europa, der ganzen Menschheit? Ein anderer Punkt könnte aber auch die Frage betreffen, ob Deutschland in ein multikulturelles Einwanderungsland umgestaltet werden soll, oder als ein Sozial-und Nationalstaat erhalten bleiben soll, der von einer deutschen Leitkultur dominiert wird?

Derzeit stehen sich zwei  gesellschaftliche Lager bei diesen elementaren Fragen (auch durch die einseitige Parteiergreifung eines Großteils des politisch-medialen Establishments) nahezu unversöhnlich gegenüber. Vor den gegenwärtigen und zukünftigen politisch Verantwortlichen in Deutschland liegt die große Aufgabe, einen Konsens zu stiften, der die Mehrheit der Bevölkerung durch Argumente, nicht durch politische und mediale Umerziehung, sondern durch Herz und Verstand überzeugen kann. Ansonsten droht mittel- bis langfristig die Zersplitterung der Gesellschaft in einander bekämpfenden Teilgemeinschaften, wo eine Demokratie das Land kaum noch einigen kann. Es drohen dann tatsächlich Verhältnisse der Weimarer Republik, die nicht zuletzt am Vertrauensverlust der Bürger in die Funktionsfähigkeit der Demokratie, an der Auflösung des gesellschaftlichen Konsens und an der Spaltung der Gesellschaft in einander im wahrsten Sinne des Wortes bekämpfende radikale Gruppierungen gescheitert war.

VI. Fazit

Deutschland hat bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen seine historische Verantwortung übernommen und dafür den Applaus der Welt verdient. Zu den Konsequenzen des Irrweges Deutschlands im vergangenen Jahrhundert zählen jedoch auch die Normalisierung Deutschlands im geistigen und institutionellen Sinne unter Einbindung in das westliche Staatenbündnis und die Erhaltung der inneren Stabilität und des gesellschaftlichen Konsenses. Gerade diese Punkte sind meines Erachtens in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend untergegangen und werden zunehmend vernachlässigt.

Politisch Verantwortliche mit einem historischen Gesamtüberblick, denen die Zukunftsfähigkeit einer demokratisch-rechtsstaatlichen Bundesrepublik Deutschland im Herzen des westlichen Europas wichtig ist, wird man daran erkennen, dass sie sich sowohl zur historischen Verantwortung bekennen, als auch die innere Stabilität und die Normalisierung der deutschen Gesellschaft im Blick haben. Nur so wird man der historischen Verantwortung, aber auch der Verantwortung gegenüber den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen in Deutschland gerecht.

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