Tichys Einblick
Noch Diplomatie oder schon Aktivismus?

Deutsche Botschafterin mischt sich offensiv in ungarische Politik ein

Eine Rede der deutschen Botschafterin in Budapest anlässlich der deutschen Wiedervereinigung wird zur Abrechnung mit Orbáns Politik: Das lässt sich Ungarns Außenminister nicht gefallen und bestellt Julia Gross kurzerhand ein. Den Ruf deutscher Außenpolitik – belehrend und undiplomatisch – verbessert dieser Affront nicht.

Julia Gross, deutsche Botschafterin in Ungarn, nimmt an der Pride-Parade teil, Budapest, 15.07.2023

picture alliance/dpa | Marton Monus

Das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen regelt unter anderem Rechte und Pflichten von diplomatischem Personal. Dazu gehört, dass Diplomaten verpflichtet sind, sich nicht in „innere Angelegenheiten“ des Empfängerstaates „einzumischen“. Nach Eindruck des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó hat die deutsche Botschafterin in Budapest, Julia Gross, aber genau das getan.

Auf Facebook setzte Szijjártó am Mittwoch einen empörten Beitrag ab, in dem er sich über eine Rede von Gross beschwerte, die „die Souveränität unseres Landes“ verletze. Man erwarte von Botschaftern „Respekt“ und deswegen sei die Einlassung der Botschafterin „völlig inakzeptabel“. Ungarns Außenministerium bestellte Gross umgehend ein – ein nicht alltäglicher Vorgang in den Beziehungen zwischen zwei EU-Mitgliedsstaaten.

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Was war passiert? Am Mittwochabend hatte Gross bei einem Empfang der deutschen Botschaft anlässlich des bevorstehenden Tags der Deutschen Einheit gesprochen. Die ungarische Regierung war nicht auf Ministerebene vertreten. Erst wenige Tage zuvor waren beide Länder bereits aneinandergeraten.

Hintergrund war die Äußerung eines engen Mitarbeiters von Ministerpräsident Viktor Orbán gewesen, die aus Sicht von Kritikern Zweifel daran geweckt hatte, ob sich Ungarn gegen eine russische Invasion verteidigen würde. Orbán stellte schnell klar, Ungarn verteidige sich „zu jeder Zeit“. Deutschland und Frankreich nahmen die Irritation jedoch zum Anlass, um eine „gemeinsame Demarche“, also eine Protestnote, im ungarischen Außenministerium vorzubringen.

Vor diesem Hintergrund war die deutsche Botschafterin womöglich bereits auf Betriebstemperatur, als sie am Mittwoch ans Rednerpult trat. Sie ließ ihre Rede anlässlich eines eigentlich freudigen Ereignisses (deutsche Wiedervereinigung, wohlgemerkt mit ungarischer Hilfe) jedenfalls völlig un-, um nicht zu sagen: antidiplomatisch zu einer Art Generalabrechnung werden.

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Wie ungarische Medien berichten und wie auch Fotoaufnahmen einer an eine Leinwand geworfenen Niederschrift der Rede belegen, kritisierte die Botschafterin unter anderem die Reisen, die Orbán Anfang Juli, zu Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft, unternommen habe. Damit spielte sie auf Orbáns „Friedensmission“ unter anderem beim russischen Präsidenten Wladimir Putin an, die in der EU für viel Empörung gesorgt hatte.

Weiter beklagte Gross das – so wörtlich – „Schauspiel“, welches Ungarn rund um die Nato-Beitritte Finnlands und Schwedens abgezogen habe. Und dass es „eine ganze Serie an Zwischenfällen, Theorien, Maßnahmen und Provokationen“ gebe, „die scheinbar keinen anderen Zweck haben, als Zweifel an Ungarns Vertrauenswürdigkeit zu säen“.

Doch dabei beließ es die 61-Jährige nicht. Sie wandte sich auch direkt an die ungarischen Wähler: „Ich gehe davon aus, dass für Sie – ungarische Wähler, egal welcher politischen Überzeugung – das (also die zuvor kritisierte Politik Orbáns) zunehmend die Frage hervorruft: Wie nutzt es meinen Interessen, und wie macht es mein Leben als Ungar besser?“

Und weiter: „Wenn Sie wollen, dass wir wieder näher zusammenrücken; wenn Sie wollen, dass Ungarn sein Respekts- und Vertrauenskapital zugunsten der Ungarn nutzen kann; wenn Sie wollen, dass die deutsch-ungarische Freundschaft wieder sichtbar wird, dann sagen Sie das bitte so, dass es gehört wird: Sagen Sie es ihren Freunden, der Familie, Arbeitskollegen, Bürgermeistern, Parlamentsmitgliedern, Regierungsvertretern.“ Im Gesamtkontext der Rede konnte das als offener Aufruf der deutschen Botschafterin an die ungarischen Bürger verstanden werden, Kritik an ihrer Regierung zu üben.

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Die regierungsfreundliche ungarische Zeitung Magyar Nemzet schrieb vor diesem Hintergrund am Freitag, die Botschafterin habe ihre Rede „für Agitation“ genutzt. IIllés Boglárka von Orbáns Fidesz-Partei, Staatssekretärin im Außenministerium, sagte, sie habe zunächst nicht glauben können, was sie über die Rede gelesen habe: „Die deutsche Botschafterin hat eine Grenze überschritten.“ Man habe die Diplomatin gefragt, ob sie ähnliche Fälle benennen könne, in denen ein ungarischer Diplomat auf solche Weise agiert habe.

Gross hatte bereits in der Vergangenheit keinen Zweifel an ihrer kritischen Haltung zum politischen Kurs Ungarns gelassen. Erst jüngst attackierte sie in einem X-Beitrag öffentlich das von Orbán eingeführte Konzept der „ökonomischen Neutralität“. 2023 hatte sie an einer „Pride-Parade“ in Budapest teilgenommen; in diesem Jahr nun beklagte ihre Botschaft aus diesem Anlass den Kurs Ungarns in Sachen LGBT-Politik, der „in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der Nichtdiskriminierung“ stehe.

Insgesamt passt das Verhalten der Botschafterin zum von der Berliner Zentrale vorgegebenen Kurs einer „weitergeleiteten Außenpolitik“. Sie gebärdet sich gerade gegenüber dem konservativen Ungarn gerne offen belehrend – was die Frage aufwirft, ob es sich noch um Diplomatie oder schon um Aktivismus handelt. Inwiefern die jetzigen Einlassungen von Gross mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt waren, ist unklar: Das Ministerium lässt eine entsprechende Anfrage bisher unbeantwortet.

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