Das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen regelt unter anderem Rechte und Pflichten von diplomatischem Personal. Dazu gehört, dass Diplomaten verpflichtet sind, sich nicht in „innere Angelegenheiten“ des Empfängerstaates „einzumischen“. Nach Eindruck des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó hat die deutsche Botschafterin in Budapest, Julia Gross, aber genau das getan.
Auf Facebook setzte Szijjártó am Mittwoch einen empörten Beitrag ab, in dem er sich über eine Rede von Gross beschwerte, die „die Souveränität unseres Landes“ verletze. Man erwarte von Botschaftern „Respekt“ und deswegen sei die Einlassung der Botschafterin „völlig inakzeptabel“. Ungarns Außenministerium bestellte Gross umgehend ein – ein nicht alltäglicher Vorgang in den Beziehungen zwischen zwei EU-Mitgliedsstaaten.
Hintergrund war die Äußerung eines engen Mitarbeiters von Ministerpräsident Viktor Orbán gewesen, die aus Sicht von Kritikern Zweifel daran geweckt hatte, ob sich Ungarn gegen eine russische Invasion verteidigen würde. Orbán stellte schnell klar, Ungarn verteidige sich „zu jeder Zeit“. Deutschland und Frankreich nahmen die Irritation jedoch zum Anlass, um eine „gemeinsame Demarche“, also eine Protestnote, im ungarischen Außenministerium vorzubringen.
Vor diesem Hintergrund war die deutsche Botschafterin womöglich bereits auf Betriebstemperatur, als sie am Mittwoch ans Rednerpult trat. Sie ließ ihre Rede anlässlich eines eigentlich freudigen Ereignisses (deutsche Wiedervereinigung, wohlgemerkt mit ungarischer Hilfe) jedenfalls völlig un-, um nicht zu sagen: antidiplomatisch zu einer Art Generalabrechnung werden.
Weiter beklagte Gross das – so wörtlich – „Schauspiel“, welches Ungarn rund um die Nato-Beitritte Finnlands und Schwedens abgezogen habe. Und dass es „eine ganze Serie an Zwischenfällen, Theorien, Maßnahmen und Provokationen“ gebe, „die scheinbar keinen anderen Zweck haben, als Zweifel an Ungarns Vertrauenswürdigkeit zu säen“.
Doch dabei beließ es die 61-Jährige nicht. Sie wandte sich auch direkt an die ungarischen Wähler: „Ich gehe davon aus, dass für Sie – ungarische Wähler, egal welcher politischen Überzeugung – das (also die zuvor kritisierte Politik Orbáns) zunehmend die Frage hervorruft: Wie nutzt es meinen Interessen, und wie macht es mein Leben als Ungar besser?“
Und weiter: „Wenn Sie wollen, dass wir wieder näher zusammenrücken; wenn Sie wollen, dass Ungarn sein Respekts- und Vertrauenskapital zugunsten der Ungarn nutzen kann; wenn Sie wollen, dass die deutsch-ungarische Freundschaft wieder sichtbar wird, dann sagen Sie das bitte so, dass es gehört wird: Sagen Sie es ihren Freunden, der Familie, Arbeitskollegen, Bürgermeistern, Parlamentsmitgliedern, Regierungsvertretern.“ Im Gesamtkontext der Rede konnte das als offener Aufruf der deutschen Botschafterin an die ungarischen Bürger verstanden werden, Kritik an ihrer Regierung zu üben.
Gross hatte bereits in der Vergangenheit keinen Zweifel an ihrer kritischen Haltung zum politischen Kurs Ungarns gelassen. Erst jüngst attackierte sie in einem X-Beitrag öffentlich das von Orbán eingeführte Konzept der „ökonomischen Neutralität“. 2023 hatte sie an einer „Pride-Parade“ in Budapest teilgenommen; in diesem Jahr nun beklagte ihre Botschaft aus diesem Anlass den Kurs Ungarns in Sachen LGBT-Politik, der „in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der Nichtdiskriminierung“ stehe.
Insgesamt passt das Verhalten der Botschafterin zum von der Berliner Zentrale vorgegebenen Kurs einer „weitergeleiteten Außenpolitik“. Sie gebärdet sich gerade gegenüber dem konservativen Ungarn gerne offen belehrend – was die Frage aufwirft, ob es sich noch um Diplomatie oder schon um Aktivismus handelt. Inwiefern die jetzigen Einlassungen von Gross mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt waren, ist unklar: Das Ministerium lässt eine entsprechende Anfrage bisher unbeantwortet.