Vor einiger Zeit diskutierte ich mit einer bekannten linken Journalistin die Frage der modernen Armut in Großbritannien. Ich wies sie darauf hin, dass ihre Zeitung, der Guardian, einen Artikel veröffentlicht hatte, in dem die Zahlen über das Haushaltseinkommen nicht nach sozialer Klasse oder Beschäftigung strukturiert wurden, sondern nach der religiösen Zugehörigkeit der Personen. Es stellte sich dabei heraus, dass die zwei wohlhabendsten Gruppen in Großbritannien an erster Stelle die Juden, an zweiter die Sikhs waren.
Um meinem Gegner gerecht zu werden muss man festhalten, dass sie nicht sagen wollte, Juden und Sikhs seien wegen hinterhältiger Methoden erfolgreich. Stattdessen sagte sie, Einwanderer seien oft eine selbsterwählte Gruppe mit einer großen Begeisterungsfähigkeit und einem starken Drang zum Erfolg. Freilich, genau das war mein Punkt: Dass Erfolg in unseren Gesellschaften von moralischen und psychologischen Eigenschaften abhängt und nicht von ungleich verteilten Ergebnissen. Wenn sie das eingesehen hätte, hätte sie auch feststellen müssen, dass ihr ganzes politisches und wirtschaftliches Weltbild falsch sei, und deshalb geändert werden müsse.
Natürlich änderte sie ihr Weltbild nicht. Aber ich lernte etwas aus dieser Diskussion über die Natur des gegenwärtigen Antisemitismus und warum sein Aufstieg unter den Linken unvermeidlich war.
Es ist eine Tatsache, dass Juden in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten (und bevor sie ermordet wurden, auch in Deutschland) weit über ihren zahlenmäßigen Anteil in der Bevölkerung hinaus überdurchschnittlich erfolgreich waren, nicht nur was das Finanzielle betrifft, sondern auc3h in der Kunst, der Wissenschaft und allgemein intellektuell. Das Entscheidende ist, wie man diese Tatsache interpretiert. Die verschwörungstheoretische Erklärung ist einfach und für die weniger Erfolgreichen psychologisch tröstlich. Die wahre Erklärung allerdings erfordert ein tieferes, vielschichtigeres Denken und hat keinen Trost für die Erfolglosen parat – ganz im Gegenteil.
Wir leben in einer Zeit, in der die Neigung, den Erfolgreichen zu neiden und sie zu hassen, sehr groß ist. Es sieht so aus, als bestünden unsere Gesellschaften nur noch aus Gewinnern und Verlierern. Ob das den Tatsachen entspricht, ist zunächst nicht von Bedeutung, denn in der Politik sind Wahrnehmungen der Realität oft ebenso wichtig wie die Realität selbst. Man kann gegenwärtig den Debatten über das eine Prozent Oligarchen und die 99 Prozent Heloten gar nicht entgehen. Und Juden sind überproportional unter den angeblichen einem Prozent der Gewinner oder Erschaffer dieses ungerechten Systems zu finden. Allein schon die Idee, dass es der Arbeiterklasse zugehörige Juden geben könnte, ist in westlichen Gesellschaften zu einer contradictio in adiecto geworden, und jedem Juden wird unterstellt, dass er, sollte er nicht fähig oder talentiert genug sein, um aus eigenen Kräften zu prosperieren, er schon die nötige Unterstützung von seiner Familie erhalten würde. Die Anhänger von Verschwörungstheorien werden dies nicht als eine löbliche und beispielhafte Form familiären Zusammenhalts, sondern als Beweis für die clanmäßige Organisation der Juden und für ihr Streben nach Weltherrschaft sehen.
Der weltweite Erfolg von Büchern wie Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (dessen Verkaufszahlen Piketty paradoxerweise zu einem Teil der verachteten einem Prozent gemacht haben dürften) ist sicherlich ein Beweis für die Bereitschaft, der Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Verteilung von Reichtum Glauben zu schenken. Ungerechtigkeit – ob real oder eingebildet – gebiert Groll, Groll gebiert Hass, und der Hass sucht nach einem Sündenbock. Die vermuteten Nutznießer und Erschaffer stehen im Zentrum des Kreuzfeuers von jenen, die von Hass erfüllt sind und ein Ziel dafür suchen.
Die Allianz zwischen dem linken Denken und dem Antisemitismus ist noch einmal gestärkt worden durch den Antizionismus, der seit dem Sechstagekrieg überall unter Linken dominiert. Bis dahin hielt man Israel berechtigter Weise für den Underdog des Nahen Ostens. Aber als während des Sechstagekrieges erkennbar wurde, dass der zionistische Staat militärisch der ganzen islamischen Welt zusammengenommen überlegen war, erfolgte der Wechsel. Der Underdog wurde plötzlich zum Unterdrücker, und die Linke liebt die Unterdrückten per definitionem – zumindest in der Theorie, wenn auch nicht im persönlichen Verhalten.
Die mit der Wucht eines Lynchmobs vorgetragenen widerwärtigen Beleidigungen, die der Philosoph und Schriftsteller Alain Finkielkraut während einer Gelbwesten-Demonstration in Paris erleiden musste, erinnerten mehr an die 30er Jahre als an unsere angeblich aufgeklärtere Zeit. Einer der mutmaßlichen Angreifer ist ein junger Mann, der inzwischen verhaftet und angeklagt wurde. Es stellte sich heraus, dass er zum Islam konvertiert war, nicht besonders überraschend, wenn man sich einige seiner Äußerungen vergegenwärtigt: „dreckiger Zionist“, „Gott wird dich bestrafen“, „geh zurück nach Tel Aviv“. Diese kleine Szene spiegelt viele Strömungen des gegenwärtigen Antisemitismus wieder.
In Frankreich eilten die gleichen führenden Politiker zur Verteidigung der Juden, die mit ihren Entscheidungen die im Lande vorherrschende Wut hervorgerufen haben. Leider ist dieses sonst ehrenwerte Verhalten in diesem Falle kontraproduktiv, denn es verstärkt nur den Glauben der zu Antisemitismus neigenden, dass eine auf Gegenseitigkeit beruhende, nützliche Beziehung zwischen der politischen Führung und den Juden bestünde. Wenn verhasste oder verachtete Politiker etwas sagen oder an etwas glauben, wird das Volk annehmen, dass das genaue Gegenteil zutrifft. Eine erzwungene Erinnerungskultur, die sich auf etwas bezieht, woran man selbst keine Schuld trägt, führt irgendwann zu Übelkeit und erweckt den Widerstand dagegen, auch wenn die Erinnerung sowohl wahr als auch extrem wichtig ist.
Die gegenwärtige Lage ist offensichtlich sehr gefährlich. Ich wünschte, ich könnte etwas anderes vorschlagen als unermüdliches Argumentieren und eine starke und vertrauenswürdige Polizeipräsenz. Eine Szene, wie Alain Finkielkraut vor einem bedrohlichen antisemitischen Mob zurückweicht, hoffte ich nie wieder sehen zu müssen.