Tichys Einblick
Erfolg ist unmoralisch

Der unvermeidliche Aufstieg des linken Antisemitismus

Sozialneid und die hasserfüllte „Kritik“ an Israel vereinen Linke und Migranten aus islamischen Ländern. So entsteht das neue Wählerpotential für die Labour-Partei unter dem bekennenden Antisemiten Jeremy Corbyn.

Thierry Monasse/Getty Images

Vor einiger Zeit diskutierte ich mit einer bekannten linken Journalistin die Frage der modernen Armut in Großbritannien. Ich wies sie darauf hin, dass ihre Zeitung, der Guardian, einen Artikel veröffentlicht hatte, in dem die Zahlen über das Haushaltseinkommen nicht nach sozialer Klasse oder Beschäftigung strukturiert wurden, sondern nach der religiösen Zugehörigkeit der Personen. Es stellte sich dabei heraus, dass die zwei wohlhabendsten Gruppen in Großbritannien an erster Stelle die Juden, an zweiter die Sikhs waren.

Nur keine schlafenden Hunde wecken
Antisemitismus an Schulen - gibt’s nicht, oder doch?
Das sei wichtig, stellte ich fest, denn beide Gruppen haben in Großbritannien eine ähnliche Geschichte, nur etwa um 60 bis 80 Jahre von einander getrennt. Beide Gruppen stammen von armen Einwanderern ab, die nicht unbedingt willkommen gehießen wurden von den Leuten, unter denen sie siedelten (auch wenn sie rechtlich gesehen nicht diskriminiert wurden), doch sie stiegen schnell auf der sozialen und wirtschaftlichen Leiter empor. Ich sei mir sicher, sagte ich, dass mein Gegner in der Diskussion nicht sagen wollte, dass die beiden Gruppen ihren Aufstieg irgendeinem verborgenen, illegalen oder verschwörerischen Zusammenhang zu verdanken hätten, oder dass sie die einheimische Bevölkerung ihres Reichtums beraubt hätten. Deshalb sollte sie zugeben, fuhr ich fort, dass wir in einer offenen Gesellschaft lebten, die Anstrengungen belohnt, und die deshalb im Großen und Ganzen sozial und wirtschaftlich gerecht sei, auf jeden Fall mehr als eine andere Gesellschaft es jemals war.

Um meinem Gegner gerecht zu werden muss man festhalten, dass sie nicht sagen wollte, Juden und Sikhs seien wegen hinterhältiger Methoden erfolgreich. Stattdessen sagte sie, Einwanderer seien oft eine selbsterwählte Gruppe mit einer großen Begeisterungsfähigkeit und einem starken Drang zum Erfolg. Freilich, genau das war mein Punkt: Dass Erfolg in unseren Gesellschaften von moralischen und psychologischen Eigenschaften abhängt und nicht von ungleich verteilten Ergebnissen. Wenn sie das eingesehen hätte, hätte sie auch feststellen müssen, dass ihr ganzes politisches und wirtschaftliches Weltbild falsch sei, und deshalb geändert werden müsse.

Natürlich änderte sie ihr Weltbild nicht. Aber ich lernte etwas aus dieser Diskussion über die Natur des gegenwärtigen Antisemitismus und warum sein Aufstieg unter den Linken unvermeidlich war.

Maßlos
Die Sache mit dem importierten Antisemitismus
Es ist eine Tatsache, dass Juden in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten (und bevor sie ermordet wurden, auch in Deutschland) weit über ihren zahlenmäßigen Anteil in der Bevölkerung hinaus überdurchschnittlich erfolgreich waren, nicht nur was das Finanzielle betrifft, sondern auc3h in der Kunst, der Wissenschaft und allgemein intellektuell. Das Entscheidende ist, wie man diese Tatsache interpretiert. Die verschwörungstheoretische Erklärung ist einfach und für die weniger Erfolgreichen psychologisch tröstlich. Die wahre Erklärung allerdings erfordert ein tieferes, vielschichtigeres Denken und hat keinen Trost für die Erfolglosen parat – ganz im Gegenteil.

Wir leben in einer Zeit, in der die Neigung, den Erfolgreichen zu neiden und sie zu hassen, sehr groß ist. Es sieht so aus, als bestünden unsere Gesellschaften nur noch aus Gewinnern und Verlierern. Ob das den Tatsachen entspricht, ist zunächst nicht von Bedeutung, denn in der Politik sind Wahrnehmungen der Realität oft ebenso wichtig wie die Realität selbst. Man kann gegenwärtig den Debatten über das eine Prozent Oligarchen und die 99 Prozent Heloten gar nicht entgehen. Und Juden sind überproportional unter den angeblichen einem Prozent der Gewinner oder Erschaffer dieses ungerechten Systems zu finden. Allein schon die Idee, dass es der Arbeiterklasse zugehörige Juden geben könnte, ist in westlichen Gesellschaften zu einer contradictio in adiecto geworden, und jedem Juden wird unterstellt, dass er, sollte er nicht fähig oder talentiert genug sein, um aus eigenen Kräften zu prosperieren, er schon die nötige Unterstützung von seiner Familie erhalten würde. Die Anhänger von Verschwörungstheorien werden dies nicht als eine löbliche und beispielhafte Form familiären Zusammenhalts, sondern als Beweis für die clanmäßige Organisation der Juden und für ihr Streben nach Weltherrschaft sehen.

Helds Ausblick 7-2018
Der neue Antisemitismus und seine Relativierer
Die angebliche Teilung der Welt in ein Prozent gegen 99 Prozent (oder in welchem Verhältnis zu einander Gewinner und Verlierer auch stehen mögen) wird in zunehmendem Maße als ungerecht empfunden und als das Ergebnis ungesetzlicher Manipulationen durch die Mächtigen interpretiert. Nur die wenigsten sind gegen dieses Gefühl immun, ich würde das nicht einmal von mir selbst behaupten. Wenn ich die gigantischen Einkünfte der Führungskräfte internationaler Konzerne sehe, die schneller gewachsen sind als ihre Unternehmen, dann keimt auch in mir der Gedanke auf, dass etwas nicht in Ordnung sei und es ein internationales Kartell der Vorstandsvorsitzenden geben müsse. Aber ich bekämpfe dieses aufkeimende Vorurteil in mir, indem ich mir vergegenwärtige, dass ich, obwohl nicht zu den reichsten im Lande gehörend, ausreichend Mittel besitze, um eine solide Existenz zu führen, sofern ich fähig bin, meine Wünsche meinen Einkünften anzupassen.

Der weltweite Erfolg von Büchern wie Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (dessen Verkaufszahlen Piketty paradoxerweise zu einem Teil der verachteten einem Prozent gemacht haben dürften) ist sicherlich ein Beweis für die Bereitschaft, der Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Verteilung von Reichtum Glauben zu schenken. Ungerechtigkeit – ob real oder eingebildet – gebiert Groll, Groll gebiert Hass, und der Hass sucht nach einem Sündenbock. Die vermuteten Nutznießer und Erschaffer stehen im Zentrum des Kreuzfeuers von jenen, die von Hass erfüllt sind und ein Ziel dafür suchen.

Antisemiten geschont
„Der Staat bestärkt die Täter“
Es ist deshalb nur selbstverständlich, dass jene, die das gegenwärtige politische und wirtschaftliche System ganz allgemein und nicht aufgrund dieser oder jener behebbarer Deformation kritisieren, die es für unabänderlich korrupt halten und es deshalb vollständig umstürzen und durch etwas ähnliches wie Sozialismus ersetzen wollen, dass diese Menschen zu Antisemitismus neigen. Der russische Schriftsteller Isaak Babel sagte einmal, dass der Antisemitismus der Sozialismus der Narren sei (aber er war eine Form von Sozialismus). Man könnte die Formulierung umdrehen, und ebenso stimmig behaupten, der Sozialismus sei der Antisemitismus der linken Intellektuellen. Wie auch immer man es betrachtet, haben Antisemitismus und Sozialismus gewisse strukturelle Gemeinsamkeiten, und sprechen die gleichen niederen Instinkte an. Sie sind einander nicht fremd – und der Sozialismus ist noch lange nicht tot, wie ich einst dachte.

Die Allianz zwischen dem linken Denken und dem Antisemitismus ist noch einmal gestärkt worden durch den Antizionismus, der seit dem Sechstagekrieg überall unter Linken dominiert. Bis dahin hielt man Israel berechtigter Weise für den Underdog des Nahen Ostens. Aber als während des Sechstagekrieges erkennbar wurde, dass der zionistische Staat militärisch der ganzen islamischen Welt zusammengenommen überlegen war, erfolgte der Wechsel. Der Underdog wurde plötzlich zum Unterdrücker, und die Linke liebt die Unterdrückten per definitionem – zumindest in der Theorie, wenn auch nicht im persönlichen Verhalten.

Seit jeher
Die Feinde der Juden haben mehrerlei Gestalt
Die Politik Israels kann – wie jede andere Politik auch – kritisiert werden, ohne dass man diese Kritik als Antisemitismus bezeichnen müsste. Was dem linken Antizionismus den stechenden Geruch von Antisemitismus verleiht, ist sein obsessiver Charakter. Selbst wenn wir unterstellten, dass Israels Politik während der vergangenen Jahrzehnte durchgehend falsch war, wäre die intensive Konzentration auf diesen einen Fall verdächtig, denn keine andere Missetat in der Welt wurde mit einem ähnlichen emotionalen Furor verfolgt. Niemand kann seine moralische Einstellung oder seine Wut so kalibrieren, dass sie genau dem Maß der Probleme in der Welt entsprechen. Aber die offensichtliche Begeisterung des Vorsitzenden der britischen Labour-Partei (und möglicherweise des nächsten Ministerpräsidenten), Mr. Corbyn, für mörderische antisemitische Terrororganisationen und Prediger, die Vernichtung der Juden fordern, seine natürliche Affinität zu ihnen, weist zumindest in eine bestimmte Richtung. Das gleiche gilt für die Ansichten vieler seiner hunderttausende von Anhängern. In kürzester Zeit könnte sich Großbritannien, traditionell eines der am wenigsten antisemitischen Länder Westeuropas, zu einem der antisemitischsten Länder entwickeln, wo Juden verunglimpft und verfolgt werden, weil sie jüdisch und reich sind. Auch das Wahlkalkül spielt eine Rolle, da in Großbritannien inzwischen zehnmal so viele Moslems wie Juden leben und in mehr als dreißig Wahlkreisen könnte ihr Gewicht wahlentscheidend sein. Dank der Migration ist es für Labour – einst die Partei der britischen Juden – sinnvoll, bei Wahlen die antisemitische Karte zu spielen.

Die mit der Wucht eines Lynchmobs vorgetragenen widerwärtigen Beleidigungen, die der Philosoph und Schriftsteller Alain Finkielkraut während einer Gelbwesten-Demonstration in Paris erleiden musste, erinnerten mehr an die 30er Jahre als an unsere angeblich aufgeklärtere Zeit. Einer der mutmaßlichen Angreifer ist ein junger Mann, der inzwischen verhaftet und angeklagt wurde. Es stellte sich heraus, dass er zum Islam konvertiert war, nicht besonders überraschend, wenn man sich einige seiner Äußerungen vergegenwärtigt: „dreckiger Zionist“, „Gott wird dich bestrafen“, „geh zurück nach Tel Aviv“. Diese kleine Szene spiegelt viele Strömungen des gegenwärtigen Antisemitismus wieder.

Antisemitismus und gegen Israel
Die Linke verwaltet das Erbe von Stalin
Finkielkrauts Angreifer gehörten zu den Gelben Westen, zu einer Bewegung, deren Ansichten weder klar noch kohärent sind, die aber von einem tiefen Groll gegen die gegenwärtigen Zustände zusammengehalten werden. Sie wollen weniger und niedrigere Steuern, aber sie wollen auch mehr und bessere Leistungen vom Staat. Untersuchungen zeigen, dass viele unter ihnen davon überzeugt sind, Verschwörungen seien schuld daran, dass sie dessen beraubt werden, was ihnen zustehen würde. Sie glauben, dass der Staat und der jetzige Präsident nur den Reichen dienten – unter denen natürlich viele Juden sind.

In Frankreich eilten die gleichen führenden Politiker zur Verteidigung der Juden, die mit ihren Entscheidungen die im Lande vorherrschende Wut hervorgerufen haben. Leider ist dieses sonst ehrenwerte Verhalten in diesem Falle kontraproduktiv, denn es verstärkt nur den Glauben der zu Antisemitismus neigenden, dass eine auf Gegenseitigkeit beruhende, nützliche Beziehung zwischen der politischen Führung und den Juden bestünde. Wenn verhasste oder verachtete Politiker etwas sagen oder an etwas glauben, wird das Volk annehmen, dass das genaue Gegenteil zutrifft. Eine erzwungene Erinnerungskultur, die sich auf etwas bezieht, woran man selbst keine Schuld trägt, führt irgendwann zu Übelkeit und erweckt den Widerstand dagegen, auch wenn die Erinnerung sowohl wahr als auch extrem wichtig ist.

Die gegenwärtige Lage ist offensichtlich sehr gefährlich. Ich wünschte, ich könnte etwas anderes vorschlagen als unermüdliches Argumentieren und eine starke und vertrauenswürdige Polizeipräsenz. Eine Szene, wie Alain Finkielkraut vor einem bedrohlichen antisemitischen Mob zurückweicht, hoffte ich nie wieder sehen zu müssen.

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